Kultur als Rezept?!
Die neue Ausgabe des IG Kultur Magazins ist da und begibt sich auf die Spurensuche nach Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen Kultur-, Sozial- und Gesundheitsarbeit. Was bedeutet es in der Praxis, an diesen Schnittstellen zu arbeiten? Welche Rahmenbedingungen gibt es und welche fehlen, um ein Zusammendenken und -arbeiten von Kunst, Kultur, Sozialem und Gesundheit zu ermöglichen? Bieten internationale Modelle, die "Kunst auf Verschreibung" fördern, Impulse für Österreich? Und welchen Einfluss hat, wissenschaftlich betrachtet, kulturelle Tätigkeit auf Gesundheit und Wohlbefinden tatsächlich?
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Zur Schwerpunktausgabe: Kultur als Rezept
Anja Lungstraß, Claudia Schnugg, Barbara Stüwe-Eßl, Aleksandra Widhofner und Yvonne Gimpel
Kunst wirkt, zweifelsohne. Zeitgenössische Kulturarbeit ebenso. WIE sie wirkt, ist allerdings eine umstrittene Frage – vor allem, wenn die Frage nach den notwendigen Rahmenbedingungen, damit zeitgenössische Kunst- und Kulturarbeit wirken kann, ohne wirken zu müssen, gestellt wird. In den letzten Jahrzehnten erhielt der Diskurs über die Wirkung von Kultur einen stark neoliberalen Einschlag, getrieben durch eine Instrumentalisierung, die Kultur auf einen wettbewerbsrelevanten Standortfaktor und Katalysator für Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und Innovation reduziert. Wer wie an welcher Kunst und Kultur partizipieren kann, wird dabei nicht gefragt. Denn soziale Fragen zu stellen und komplexen und vielschichtigen Zusammenhängen nachzugehen, deren Erklärungen länger als ein „Elevator Pitch“ sind, ist nicht mehr en vogue – oder wird auf Nischendiskurse am Rande der politischen Wahrnehmbarkeit verschoben.
Diese Ausgabe des IG Kultur Magazins begibt sich auf eine Spurensuche und fragt: Wofür kann Kultur ein Rezept sein? Im großen Feld des Sozialen verengen wir den Blick ganz bewusst auf einen Aspekt, der die Rezeptanalogie wörtlich nimmt: Welche Schnittstellen gibt es zwischen Gesundheit und Kulturarbeit? Kann Kulturarbeit dazu beitragen, sozialen Ausschluss zu verhindern bzw. zu vermindern? Wer hat überhaupt Zugang zu den Möglichkeiten, die Kunst und Kultur bieten? Vorstellungen von Gesundheit und (vermeintlicher) Normalität werden hier schnell zu Ausschlussfaktoren, wie die Praxis zeigt. Es geht daher auch um das Sichtbarmachen kollektiver blinder Flecken, wie das Kollektiv „MAD“ und die Filmarbeit „5 vor 12“ verdeutlichen. Kunst kann aber auch Türen zur gesellschaftlichen Teilhabe für jene öffnen, die nicht dem Ideal des gesunden, leistungsstarken Normmenschen entsprechen – und als erwünschten Nebeneffekt einen Beitrag zur Steigerung des Wohlbefindens leisten. Die Palette an Initiativen, die dieses Wechselspiel von Kulturarbeit und Wohlbefinden produktiv nutzen, ist vielfältig: von Partizipationsprogrammen für Menschen mit Demenz in Kultureinrichtungen, über kunsttherapeutische Methoden zur Prävention von Burnout-Erkrankungen bis hin zum Zusammendenken von sozialer Arbeit und Kulturarbeit. Nicht zuletzt kann Kunst als „Rezept“ und „Therapie“ die Reflexion der eigenen Situation verordnen und so für normal gehaltene Vorstellungen ins Wanken bringen.
In der Zusammenschau dieser vielfältigen Initiativen ist eines auffällig: Sie sind häufig punktuell und von der aufwändigen Suche nach Finanzierung aus den unterschiedlichsten Quellen begleitet. Nur wenigen Initiativen gelingt es, finanzielle Nachhaltigkeit zu erreichen. Rahmenbedingungen, die auch strukturell ein Zusammendenken und -arbeiten von Kunst und Kultur, Sozial- und Gesundheitswesen ermöglichen, fehlen weitgehend. Zu stark ist das Silodenken in Förderpolitik und -verwaltung verankert, die säuberlich trennt: Entweder wird eine Aktivität künstlerischen Ansprüchen gerecht, sie dient therapeutischen Zwecken oder sie ist eine Sozialmaßnahme. Erste Ansätze in Richtung eines Paradigmenwechsels lassen sich auch in Österreich identifizieren. So gibt es mit der „Kompetenzgruppe Entstigmatisierung“ für psychische Beeinträchtigungen eine erste, institutionalisierte Plattform der Zusammenarbeit zwischen Praxis und Verwaltung aus Kunst, Kultur, Gesundheit, Bildung und Sozialem. Im internationalen Vergleich hat Österreich jedoch sowohl in der Praxis als auch in der Diskussion um die Rolle von Kunst im Gemein- und Gesundheitswesen gegenüber anderen Ländern einen enormen Nachholbedarf, wie Edith Wolf Perez in ihrer Analyse zu den Wirkungen von „Community Tanz“ feststellt. Ein Blick über den nationalen Tellerrand lohnt sich:
In Finnland wurde in interministerieller Zusammenarbeit eine Strategie zur Stärkung des Wohlbefindens verabschiedet. Sie setzt – zusätzlich zur regulären Kulturförderung – sowohl auf Kunst als vorbeugende Maßnahme, als Teil der Sozialarbeit sowie als Teil des Gesundheitswesens und der Rehabilitation. Großbritannien, das in diesem Zusammenhang als Pionierland gilt, unterstützt „Kunst auf Verschreibung“. Impulse kommen auch von EU- und UN-Ebene. Einer Initiative Österreichs ist es zu verdanken, dass das Thema „Kultur und soziale Inklusion“ im Rahmen einer EU-ExpertInnen-Gruppe bearbeitet wurde. Der Abschlussbericht vom Oktober 2019 identifiziert Good-Practices und Handlungsempfehlungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte im November 2019 den ersten Weltbericht zu „Kunst und Gesundheit“, der wissenschaftliche Erkenntnisse dazu bündelt.
Wussten Sie etwa, dass Kunst ihr Krankheitsrisiko verringern und die Lebenserwartung steigern kann? Also: ACHTUNG, zeitgenössische Kunst und Kultur können Ihr Leben verändern! Über Risiken und Nebenwirkungen informiert Sie dieses Magazin. Dass diese durchwegs auch unerwünscht sein können, zeigt der Befund zur sozialen Lage jener, die Kunst und Kultur schaffen…
Ausgabe erstellt in Kooperation mit dem Bundeskanzleramt Österreich, Abteilung für europäische und internationale Kulturpolitik
Über das IG Kultur Magazin
Als Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda nimmt das IG Kultur Magazin jenen Raum einnehmen, der sich durch die Nachlässigkeit und Werteverschiebung der österreichischen Kulturpolitik in den letzten Jahren aufgetan hat. Hier werden kulturpolitische Themen und Praxen nachhaltig verhandelt. Als „Propagandaorgan“ stellt sie durchaus den Versuch dar, die Sichtweise auf die Bedeutung von Kulturarbeit und auf ihren gesellschaftlichen Einfluss zu verändern.
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Inhaltsübersicht
PRAXIS
MAD Ver-rückt
Michaela D. Wolf
Himmelsrichtungen
Susanne Blaimschein
Kunst auf Rezept
Philipp Wegan und Elisabeth Schafzahl im Gespräch
5 vor 12. Es wird Zeit
Ernst Tradinik
Hollywood im AKH
Katrin Kröncke und Hagnot Elischka
Wenn Kunst Türen öffnet
Brigitte Hauptner
Zwischenzeit
Edith Sandhofer-Malli im Gespräch
Die Packungsbeilage und ihr Double
Lucie Strecker und KT Zakravsky
Kolumne: Greta von Nazareth
Gebrüder Moped
POLITIK
Mental-Health-in-All-Policies
Monika Nowotny und Anna Fox
Lebensmittel, die man nicht essen kann
Martin Schenk
Der Mensch lebt nicht von Brot allein ...
Monika Wagner
Warnhinweis: Künstlerische Tätigkeit kann ihre Gesundheit gefährden
Veronika Krenn
INTERNATIONAL
Unsere Empfehlung: Kunst für alle
Johanna Vuolasto (Extra nur online: Interview mit der Autorin)
Kunst auf Verschreibung
Katherine Taylor (Extra nur online: Interview mit der Autorin)
Sozialer Zusammenhalt, Gesundheit & Wohlergehen inklusive
Barbara Stüwe-Eßl
Kolumne: Eure Regeln
Andie Wahl
THEORIE
Wir wirkt Kunst?
Claudia Schnugg
Eine vielfältige Musikkultur fördert auch die Gesundheit
Claudia Spahn
Tanz ins Wohlbefinden
Edith Wolf Perez
IG ARBEIT
Stadt Raum für Alle
_willi Hejda und Irmgard Almer
Denn sie wissen, was sie tun
Yvonne Gimpel
LITERATUR
Dichertsgattin
Mario Schlembach
KUNST
Anagrammarbeiten
Georg Lebzelter
Wie erhalte ich das IG Kultur Magazin
Mitglieder der IG Kultur Österreich erhalten das Magazin direkt per Post. Die digitale Ausgabe wird Anfang 2020 veröffentlicht. Print-Exemplar können per E-Mail unter office@igkultur.at bestellt werden (Preis: 5,- Euro).
Übersicht frühere Ausgaben des Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda
Coverbild des IG Magazins 2019: "Escaping the Asylum", West Yorkshire / Großbritannien, 2017 | Fotografie © Jodie Beardmore | www.jodiebeardmorephotography.co.uk
„Escaping the Asylum“ ist Teil der Serie „Labyrinth of Mind“, in der die Fotografin ihre Diagnose Depression und den Genesungsprozess – changierend zwischen Realität und Imagination, Traum und Alptraum – reflektiert.
Podcast zum Beitrag: