MAD Ver-rückt. In den Köpfen als Kunst anerkannt?
Inklusion auf Augenhöhe: Tänzerinnen mit Visionen, Energie und im Rollstuhl möchten die gesellschaftspolitische wie kulturelle Situation verändern. Und nachhaltige Strukturen für nachfolgende Generationen schaffen.
MAD ist eine komplexe Angelegenheit. Chapeau, so sollte die Welt sein. MAD ist ein Verein, der vieles kann, der vieles erreicht hat und noch viel mehr erreichen will. 2013 haben Elisabeth Löffler und Vera Rosner, mit denen ich mich zusammengesetzt habe, gemeinsam mit Cornelia Scheuer und Guido Reimitz im Hintergrund, den Verein mit dem Ziel gegründet, die gesellschaftspolitische wie kulturelle Situation langfristig zu ändern. Drei Tänzerinnen mit klaren Visionen, exzeptioneller Energie, im Rollstuhl. Seit Jahrzehnten in der Szene präsent, haben sie diese geprägt und wollen das auch für die folgenden Generationen tun. Es ist noch immer ein guter Drive zu spüren, wie auch humorvolle Dankbarkeit für den Mut, trotz der „wohl niedersten je vergebenen 4-Jahresförderung mit 50.000 Euro“ ins Feld eingestiegen zu sein. Hier wird konstruktiv gedacht, dementsprechend – seit 2014 mit Stefanie Strubreiter als Finanzverantwortliche im Vorstand – gearbeitet. Allein, dass ihre Projekte mittlerweile in den Köpfen als Kunst anerkannt werden, zählt als Erfolg. „Den Shift, nicht mehr als Sozialprojekt gefördert zu werden, das haben wir in den letzten Jahren durchgesetzt,“ berichtet Vera Rosner.
Visionäre Kraft utopischer Wünsche
Ja, es gibt Grund zur Hoffnung. Ja, es gibt sie, die Erfolge. „Für Inklusion auf Augenhöhe“ in der Performance „Ravemachine“ haben Michael Turinsky und Doris Uhlich den NESTROY 2017 erhalten. Die neue Intendanz des Tanzquartiers hat die Saison 2018 mit dem fulminanten Erfolg „Every Body Electric“ eröffnet, während in den ersten Jahren dort Tänzer_innen mit Behinderungen noch abgewiesen wurden. Acht Performer_innen – darunter Vera Rosner – tanzen in der Choreographie von Doris Uhlich in und um ihre Rollstühle. Eine Produktion, die mittlerweile durch die Welt tourt, unlängst in Venedig zur Biennale, und auch nach Sao Paulo eingeladen wurde. Wo auch Erwin Aljukic mit dabei gewesen ist, der in Darmstadt vom Staatstheater engagiert wurde. Dort als Schauspieler mit Behinderung eine Chance zu bekommen, so Aljukic, sei revolutionär. Auch Adil Embaby, ebenfalls in „Every Body Electric“, ist mit dabei. Er ist der erste Tänzer mit Behinderung, der hier am MUK [Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien, Anm. d. Red.] zeitgenössische Tanzpädagogik studiert.
Adil Embaby in „Every Body Electric“ © Fabian Heublein
MAD will Strukturen schaffen, für nachfolgende Performer_innen und Tänzer_innen mit Behinderung. Wobei natürlich allen klar ist, dass die visionäre Kraft utopischer Wünsche immer wieder beschworen werden muss. Professionelle Künstler_innen mit Behinderung gibt es noch nicht sehr viele in Österreich. Wo es zu einer inklusiven Gesellschaft ohnehin noch ein weiter Weg ist, hat die Regierung erst vor zwei Jahren, der auch von Österreich unterzeichneten UN Behindertenrechtskonvention von 2008 ungeachtet, den Erhalt und Ausbau der Sonderschulen im Regierungsplan festgehalten. Ausgrenzung, wie die Hierarchisierung von Menschen, werde in Österreich wieder salonfähig, so auch Turinsky in seiner NESTROY-Preisverleihungs-Rede 2017.
Seit 2016 setzt hier das MellowYellowTeam mit seinem Pilot- Projekt an, das seit 2018 mit Dance out of Line (DOOL) auch EU-weit vernetzt arbeitet. Innerhalb oft nur weniger Projekttage bewegen professionelle Künstler_innen-Teams mit und ohne Behinderungen Schüler_innen, Pädagog_innen und Eltern mit erfahrungsgemäß nachhaltiger Wirkung. „Ich gebe dir neue Perspektiven für dein Leben. Es gibt andere Körper, die sich anders bewegen. Wir sind unterschiedlich, gehörlos, blind oder im Rollstuhl... Wir sind nicht gleich, aber gleichwertig“, so Elisabeth Löffler. Die Mixed-Abled Künstler_innen-Teams, die in die Schulen kommen, werden sehr bewusst zusammengesetzt. Professionalität ist ein weiterer Grundsatz des Vereins. Alphonse, der blinde Fußballspieler und Emilie, die Ex-Ballerina, ziehen die Schüler_innen sofort in ihren Bann.
Manifestierte Realität? Verrückte Wahrnehmungen
Keinerlei Ängste, Skepsis und Vorurteile mehr, nur noch Spaß und Freude am Miteinander, Wertschätzung und Anerkennung. Mittlerweile haben in der Pilotphase weit über 140 Aktionstage stattgefunden, die in Österreich einen Zwischenschritt auf dem langen Weg zur Inklusion bilden. Viel mehr davon sollte es hier geben. Woran DOOL seit kurzem anknüpft. Derzeit wird mit Finnland, Italien, Slowenien und Ungarn, finanziell unterstützt durch Erasmus+, koproduziert. Ein Netz, das ausgeweitet werden soll, um Finanzierungsmodelle wie auch weitere Methoden zu entwickeln, damit qualitativ hochstehendes, künstlerisches und organisatorisches Know-How entstehen kann, für Interventionen, Workshops und Projekttage an allen Schulen in Europa.
Mellow Yellow © Lekanga Wagner
Ja, Tanz verfügt über ein wirksames Veränderungspotenzial. Die, die nicht der Norm entsprechen, werden zu Role-Models. Was auch in den performativen Formaten von MAD, wie in der „Jattle, BAM + Poetry“-Schiene zu erleben ist, wo jeweils zwei Tänzer_innen-, Musiker_innen- und Dichter_innen-Teams miteinander performen.
Erzählt wird mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit aus bisher ungehörter Perspektive. Und darin liegt der bedeutende Paradigmenwechsel. Kunst verändert unsere – durch unsere Wahrnehmungsgewohnheiten – manifestierte Realität. Mit Kunst gegen die kollektiven blinden Flecken ein Zeichen setzen. Das, was nicht gesehen werden möchte, sichtbar machen. Den nicht den normativen Ansprüchen entsprechenden Menschen nicht länger aus dem Weg gehen oder im Helfer_innen-Modus verharren. Sich einlassen.
Der Anspruch, das Weltbild mittels Kunst zu ändern, verlangt auch danach, die üblichen Orte zu verlassen.
Doch verlangt der Anspruch, das Weltbild mittels Kunst zu ändern, auch danach, die üblichen Orte zu verlassen. Raus aus den Theatern, Museen, möglichst in die Schulen oder zu anderen öffentlichen Plätzen. Dafür ist Barrierefreiheit unabdingbar, die selbst hinter den Bühnen oft nicht gegeben ist; durch schwer zugängliche Garderoben, Proberäume mit Tanzböden, die mit Rollstühlen nicht benutzt werden dürfen, ...
Inklusion auf Augenhöhe
Ein Anliegen, das auch hier mit kreativen Lösungen auf Aus- und Weiterbildungsstätten sowie einige Bühnen erweitert werden soll. Neben den Plattformen für Wissenschaft und Theorie, und der Info, was in der Szene so läuft, soll auch eine Ausbildungsschiene entstehen. Vera und Elisabeth, die zugleich auch die künstlerischen Leiterinnen des Vereins sind, haben ihre Ausbildung über Learning by Doing im Free Style absolviert. Die Quelle dazu boten unter anderem die Internationalen Tanzwochen Wien mit Lehrer_innen wie Andrew Harwood, Alito Alessi, Daniel Aschwanden oder Steve Paxton samt der Contact Improvisation als offene Form der Improvisation, die allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, Tanz zu praktizieren. Oder später dann Meg Stuart, und Frans Poelstra, mit dem bis heute eine intensive künstlerische Kooperation besteht. Um diesen Weg zu ebnen, will MAD ein Curriculum für den Tanz- und Performance-Bereich zur professionellen Ausbildung für Tänzer_innen mit Behinderung erarbeiten.
Die künstlerische Arbeit soll verändert werden, die Parameter dazu anders gesetzt und all das auch strukturell für nachfolgende Generationen verankert werden. Wesentlich dabei ist, dass künstlerische Arbeit nicht unbezahlt bleiben darf, im Gegenteil. Künstler_innen sollen davon leben können, so wie es bei Yellow Mellow und DOOL der Fall ist. Gleichbehandlung der Künstler_innen mit und ohne Behinderung. Eine professionelle künstlerische Zugangsmöglichkeit soll entstehen, mit dem Anspruch auf Hauptberuflichkeit, mit einem Einkommen, von dem gelebt werden kann.
MAD macht ein Angebot an zeitgenössische Choreograf_innen und Tänzer_innen, eröffnet Wege außerhalb der üblichen performativen Räume mit fairer Bezahlung für alle und somit allen Künstler_innen ihrem Bedürfnis nach Selbstausdruck bewer- tungsfrei Raum zu geben.
Ja, MAD steht nicht für verrückt, sondern für Mixed Abled Dance. Oder doch für verrückt?
Verrückt nach Kunst? Verrückt nach Verrücktsein? Auf jeden Fall verrückt nach Veränderung.
Michaela D. Wolf, promovierte Theaterwissenschaftlerin, ist als freie Autorin in Wien tätig.
Coverfoto: Produktion "Every Body Electric", 2018 © Theresa Rauter
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.19 „Kultur als Rezept“ des Magazins der IG Kultur Österreich - Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter @email (5 €) bestellt werden.