Unsere Empfehlung: Kunst für alle - Ressortübergreifende Arbeit in Finnland
Damit Kunst und Kultur ihre Wirkungen im Sozial- und Gesundheitswesen entfalten können, braucht es nicht nur den politischen Willen, sondern auch eine sektorübergreifende Zusammenarbeit, die verschiedene Ministerien und viele Institutionen fordert. Wie es funktionieren kann, sieht man am Beispiel Finnland.
Zur Bedeutung ressortübergreifender Zusammenarbeit für die Integration von Kunstarbeit in das Sozial- und Gesundheitswesen in Finnland
„Kunst und Kultur sind auch Heilmittel und fördern Gesundheit und Wohlergehen. Sie tragen zur Vorbeugung von Erkrankungen und Lösung sozialer Probleme bei“, betont Annika Saarikko, Ministerin für Familie und Soziale Grundleistungen Finnlands. Eine weit über Verwaltungsgrenzen hinausgehende Zusammenarbeit haben Kunst und Kultur zu einem wichtigen Teil der Förderung des Sozial- und Gesundheitswesens in Finnland werden lassen. Im Brennpunkt stehen die Umsetzung des Rechts der Bürger*innen auf Kultur, innovative Beschäftigungsmöglichkeiten für Künstler*innen sowie der Nutzen von Kunst und Kultur für die Gesellschaft.
Mit dem finnischen Regierungsprogramm 2016 – 2018 wurde eine Kostenbeteiligung des Sozial- und Gesundheitswesens an Kunst und Kultur bei Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen eingeführt. Als Modell dafür diente die so genannte „Ein-Prozent-Regelung“ aus dem Bauwesen, nach der ein Prozent der Baukosten für Kunstanschaffungen ausgegeben werden soll. An der Erarbeitung des Regierungsprogramms waren vier Ministerien, fünf Staatsbehörden und Beauftragte der Gemeinden, Organisationen, Bildungsträger, der Ärztebund Finnlands sowie die Bezirke des Sozial- und Gesundheitswesens beteiligt. Die beteiligten Ministerien verfolgten jeweils eigene Zielsetzungen: das Ministerium für Bildung und Kultur die Umsetzung des Rechts aller Bürger*innen auf Kultur; dem Ministerium für Soziales und Gesundheit war die positive Wirkung von Kunst auf die Gesundheit der Bürger*innen ein Anliegen; das Finanzministerium – und die beteiligten Gemeinden – verfolgten das Ziel, die Vitalität in den Gemeinden zu verbessern und die Bürger*innen-Beteiligung zu fördern. TAIKE, das Finnische Zentrum für Kunstförderung, koordinierte die Maßnahmen und vermittelte zwischen den Akteur*innen. Die Zusammenarbeit wurde von allen Beteiligten als nützlich für die eigene Arbeit empfunden.
Im Brennpunkt stehen die Umsetzung des Rechts der Bürger*innen auf Kultur, innovative Beschäftigungsmöglichkeiten für Künstler*innen sowie der Nutzen von Kunst und Kultur für die Gesellschaft.
Als Ergebnis wurden gemeinsame Interessen zur Rolle der Kunst im Sozial- und Gesundheitswesen formuliert, die einen unmittelbaren Einfluss auf das neue Gesetz über die Kulturpraxis der Gemeinden (2019) sowie die Steuerung der praktischen Arbeit hatten. Dieses Gesetz verlangt, dass jede Gemeinde Kunstförderungsmaßnahmen als Bestandteil von Dienstleistungen für Wohlergehen und Gesundheit, Inklusion und Gemeinschaftlichkeit sowie lokale und regionale Vitalität implementieren soll. Die Umsetzung des Gesetzes wird alle zwei Jahre evaluiert.
Alle Regionen und Kommunen sind angehalten, eine*n zuständige*n Bedienstete*n für „kulturelles Wohlbefinden“ einzustellen und verpflichtet, Zielwerte der Wirkung von Kunst und Kultur auf das Wohlergehen der Bürger*innen zu formulieren. Darüber hinaus muss das Sozial- und Gesundheitswesen auch die Kosten für Kunst- und Kulturarbeit budgetieren.
Kunst beugt Segregation vor, verstärkt soziale Integration und unterstützt Genesung und Rehabilitation
Die Zusammenarbeit über Verwaltungsgrenzen hinweg hat das wechselseitige Verständnis der Interessenträger*innen in Hinblick auf unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse verbessert. Damit sich das Recht der Bürger*innen auf Kunst verwirklichen kann, soll die Arbeit, die das kulturelle Wohlergehen unterstützt, aus drei Blickwinkeln holistisch betrachtet werden:
- Kunst als Teil vorbeugender Maßnahmen, d. h. als Teil des normalen Alltags der Bürger*innen:
Personen, die sich mit Kunst und Kultur beschäftigen, sind weniger von sozialer Exklusion betroffen und verfügen über ein besseres Selbstbewusstsein. Sie leiden weniger an Depressionen und demenziellen Erkrankungen als eine vergleichbare Personengruppe. Kulturelles Kapital, als Potenzial für kulturelle Bildung und Entwicklung auf gesellschaftlicher und individueller Ebene verstanden, ist eng mit sozialer Inklusion, Wohlbefinden und Wohlergehen verbunden.
In Finnland wird besonderes Augenmerk auf die Integration von Kindern und Jugendlichen gerichtet, die aus verschiedenen Gründen nicht an Kunstaktivitäten teilnehmen können. Im Rahmen des Projekts „ArtsEqual“ (2015–2020) der Universität der Künste Helsinki wurde ein Modell für aufsuchende Kulturarbeit entwickelt. Es verfolgt das Ziel, Kinder und Jugendliche zu finden, die aus der Teilnahme an Kunstaktivitäten einen Nutzen ziehen. Dafür werden Orte für Kulturaktivitäten gesucht, die etwa den Aufbau von Teamgeist und Zusammenhalt fördern oder Mobbing verhindern. Es wird überlegt, die aufsuchende Kulturarbeit auch auf andere Zielgruppen zu erweitern, so z. B. für Betriebsangehörige im Rahmen der arbeitsmedizinischen Betreuung und Betriebsfürsorge.
- Kunst als Teil der Sozialarbeit:
Künstler*innen arbeiten schon jetzt in sozialen Einrichtungen der Altenhilfe, Kinder- und Jugendhilfe oder in Gefängnissen. Das Sozialamt einer Gemeinde kann den Klient*innen auch einen Kulturpass für den kostenlosen Eintritt in Kultur- und Kunstveranstaltungen bewilligen.
2019 wurde in Finnland das Modell „100 Minuten Kunst“ eingeführt, mit dem Ziel, das Recht jedes Bürgers/jeder Bürgerin auf kulturelle Teilhabe abzusichern. Demnach soll 1 % der Wochen- zeit der Kultur gewidmet werden. Die Kampagne will Ungleichwertigkeit und Ungleichheit in der Gesellschaft verringern und das Recht auf Kultur stärken. Wer Unterstützung bei der Teilhabe an Kunst und Kultur braucht, soll auch die Möglichkeit haben, mindestens 100 Minuten pro Woche entsprechende Angebote wahrzunehmen. Die Kampagne hat alle Akteur*innen und Einrichtungen im Bereich Soziales, Gesundheit und Wellness Finnlands aufgefordert, mitzumachen. Die Teilhabe an Kulturerlebnissen wurde auf unterschiedliche Weise unterstützt: Klient*innen zu Kunstveranstaltungen bringen, Kunst zu Klient*innen bringen oder organisierte Kunstaktivitäten anbieten. Zwischen Januar und September 2019 wurden 82 Veranstalter*innen der Branche und 416.774 Kunsterlebnisse registriert.
- Kunst als Teil des Gesundheitswesens und der Rehabilitation:
Eine ganz besondere, unmittelbare Tätigkeit von Künstler*innen im Hilfeprozess erfolgt in der Gesundheitspflege oder Rehabilitation, wobei der*die Künstler*in partizipativ arbeitet und Kunst zweckbestimmt eingesetzt wird, z. B. Clownerie zur Erleichterung von Situationen vor oder nach medizinischen Eingriffen, Tanz zur Verbesserung der Gelenkigkeit und des Bewegungsradius, Musik zur Genesung nach einem Schlaganfall oder darstellende Kunst zur Schmerzlinderung bei Krebspatient*innen.
Im Zentral-Krankenhaus Mittelfinnlands wurde für die Dauer eines Monats ein einzigartiges Künstler*innen-Residenz-Experiment durchgeführt: Junge Patient*innen der Psychiatrie und Therapeut*innen beschäftigten sich gemeinsam mit professionellen Künstler*innen mit bildender Kunst und mit Kunst für Spielentwicklung. Diese kreative Beschäftigung aktivierte die Kommunikation zwischen den Jugendlichen und eröffnete dem Personal der psychiatrischen Station neue Therapieperspektiven. Im Laufe des Monats konnte festgestellt werden, dass sich Zurückhaltung, Verschlossenheit und weitere Krankheitssymptome der Jugendlichen verbesserten.
Recht auf Kunst für alle Menschen
Das Recht, Kunst zu erleben und zu genießen, muss für jeden Menschen garantiert werden. In erster Linie geht es darum, wie gut es uns gelingt, sämtliche Entscheidungsträger*innen vom Wert und der Wirkung der Künste zu überzeugen, damit sie diese in ihrem Arbeitsbereich – sei es im Krankenhaus, im Wohnheim oder in der häuslichen Pflege – einsetzen. Kunst im Gesundheits- oder Sozialbereich zu nützen kann auf verschiedensten Ebenen Wirkung zeigen. Sie hängt je nach Akteur*in entweder mit der Verwirklichung der kulturellen Rechte von Menschen, der Verbesserung ihrer Gesundheits- bzw. sozialen Umstände, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Künstler*innen oder dem wirtschaftlichen Nutzen für die Gesellschaft zusammen.
Johanna Vuolasto ist Sachverständige und Koordinatorin des Programms zur Förderung von Kunst und Wohlbefinden am Finnischen Zentrum für Kunstförderung (TAIKE).
Coverfoto: Teil des künstlerischen Forschungsprojekts "Lost Boys" von Isto Turpeinen im Performing Arts Research Center im Akademietheater Helsinki 2019: Lost Boys. Memories: The Good, The Bad and The Ugly © Isto Turpeinen 2010
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.19 „Kultur als Rezept“ des Magazins der IG Kultur Österreich - Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter @email (5 €) bestellt werden.