Erfasste Bewegung. Migration und Identifikation im erweiterten Nationalstaat

Die Behauptung, dass die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das "Recht" der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann.

Die Behauptung, dass die Zwecke der Polizeigewalt mit denen des übrigen Rechts stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das "Recht" der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann. Dann greift "der Sicherheit wegen" die Polizei in zahllosen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt, wenn sie nicht ohne jegliche Beziehung auf Rechtszwecke den Bürger als eine brutale Belästigung durch das von Verordnungen geregelte Leben begleitet oder ihn schlechtweg überwacht.

Walter Benjamin



Selten wurde der dem modernen Staat eingeschriebene Widerspruch zwischen Polizei und Recht, zwischen der Orientierung auf "innere Sicherheit" und der Orientierung auf Rechtsstaatlichkeit deutlicher als in den Monaten seit dem 11. September 2001. Während in Afghanistan die "Barbarei" im Bombenhagel unterging, unterstrich die einstmals "freie Welt" - im Zusammenschluss mit Teilen der unfreien wohlgemerkt - ihren neuen, nein, bloß erneuerten Rollenanspruch als "zivilisierte Welt" im Inneren durch die Verabschiedung von diversen Anti-Terror-Paketen: Erweiterung der Polizei- und Geheimdienstbefugnisse, Einschränkung der Grundrechte, im britischen Falle die Aussetzung der Menschenrechtskonvention.

Die Einschüchterung jener, die den theoretischen Souverän demokratischer Staaten bilden (eine Einschüchterung übrigens, die nicht allein auf die Attentate des 11. September zurückgeführt werden kann, sondern in der Spannung zwischen terroristischer Bedrohung und der Bush'schen Logik "Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns" begründet liegt), öffnete die Bühne weit für den Auftritt jenes anderen, von Carl Schmitt beschriebenen Souveräns, den- bzw. diejenigen nämlich, die über den Ausnahmezustand entscheiden. "Allgemeiner Ausnahmezustand über der Welt", muss es nun endgültig heißen, und das wiederum bedeutet nichts anderes, als dass die neue Weltordnung auf Fundamenten ruht, an denen Kriegs- bzw. (Welt-) Polizeigewalt und Recht tatsächlich ununterscheidbar zu werden drohen.

Für die migrationspolitischen Auseinandersetzungen bedeutet dieses Szenario vor allem, dass der Kampf um die Rechte von MigrantInnen unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung durch einen wuchernden Diskurs der Kontrolle von Migration zurückgedrängt wird, der seine Kontinuität mit identitätspolitisch, kulturalistisch oder rassistisch motivierten Rufen nach Eindämmung von Migration zudem dadurch verschleiert, dass er den 11. September als quasi-apokalyptische, jedenfalls von außen auferlegte Zeitenwende suggeriert. Ein bezeichnendes Beispiel dafür bietet etwa die jüngste Konjunkturkurve der "Clash of Civilizations"-Rhetorik Samuel P. Huntingtons: Während mit dem 11. September selbst linksliberale KommentatorInnen vom offenen Ausbruch des "Kampfs der Kulturen" zu schwadronieren begannen, gipfelten die (von entlarvenden "Unfällen" begleiteten) Abwiegelungserklärungen der US-amerikanischen Rechten im noch im September auf CNN ausgestrahlten Dementi von Huntington selbst; diese seltsame Gegenläufigkeit ist jedoch kaum verwunderlich angesichts des Umstands, dass der proklamierte "Krieg gegen den Terror" die politischen Ziele der "Clash of Civilizations"-Ideologie - unverhohlene Hegemonialpolitik des "Westens", rigorose Politik der inneren Sicherheit, drastische Beschränkung und Kontrolle von Migration - weit überzeugender zu betreiben erlaubt als diese selbst.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die Verflechtung der - zumal den EU-europäischen Integrationsprozess betreffenden - politischen Normalität des "Westens" einerseits sowie der durch die Terrorgefahr gerechtfertigten Ausnahmegesetzgebungen andererseits bietet die erstaunliche Karriere polizeilicher Identifikationstechniken, insbesondere der Fingerabdruckmethode, im Kontext sicherheits- und migrationspolitischer Maßnahmen. Wurde im Herbst 1999 in Österreich der FPÖ-Vorschlag, eine verpflichtende, Fingerprints enthaltende "A-Card" für nicht-eingebürgerte MigrantInnen einzuführen, noch (im Übrigen in irreführender Weise) mit dem "Judenstern" im Nationalsozialismus verglichen, so wurde in den letzten Monaten von Kanada bis Deutschland die mehr oder weniger flächendeckende Einführung von Fingerabdruck-Datenbanken allenthalben als zentrales Instrument zum "Schutz durch Kontrolle" der Bevölkerung vorgeschlagen. Als Peter Westenthaler vergangenen September den alten FPÖ-Vorschlag erneuerte und zudem als Vorstufe für die biometrische Erfassung der gesamten Bevölkerung präsentierte, erschöpfte sich die oppositionelle Kritik daran in wohlbekanntem, aber analytisch unzureichendem FPÖ-Bashing (wenig später trat andernorts der Vertreter einer rot-grünen Regierungskoalition, der deutsche Innenminister Schily, mit ganz ähnlichen Vorschlägen an die Öffentlichkeit); und als der österreichische Innenminister Ernst Strasser auf "eine EU-Richtlinie" verwies, war damit - ohne weitere Nachfrage oder gar Diskussion, wie zur Demonstration des skandalösen Mangels an einer europäischen kritischen Öffentlichkeit - die Debatte nicht eröffnet, sondern: beendet.

Zweifellos jedoch ist eine nähere Betrachtung dieser "Richtlinie" aufschlussreich: Am 1. Jänner 2002 ist - im Schatten der Einführung des Euro als Barzahlungsmittel und der Lobreden auf den "Integrationsschub", den diese bedeute - ein EU-Programm mit dem nichtssagenden Namen "Eurodac" in Kraft getreten. Es sieht im Wesentlichen die Einrichtung einer zentralen Computerdatenbank zur Sammlung und zum Vergleich von Fingerabdrücken von AsylbewerberInnen und "illegalen" MigrantInnen sowie die Bereitstellung der Mittel vor, die für den diesbezüglichen Datenverkehr zwischen der EU-Zentralstelle und den EU-Mitgliedsstaaten benötigt werden. Eurodac ist also ein EU-weit betriebenes, zentrales System der Identifikation und Erfassung von bestimmten Gruppen von MigrantInnen: Die beteiligten Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, unverzüglich von allen offiziellen AsylbewerberInnen sowie von allen Personen über 14 Jahren, die entweder bei einem illegalen Grenzübertritt oder beim illegalen Aufenthalt in dem betreffenden Staat aufgegriffen werden, Fingerabdrücke zu erstellen und diese an die EU-Zentralstelle zu übermitteln. Dort werden die Daten verglichen und somit festgestellt, ob die betreffende Person bereits in einem anderen EU-Mitgliedsstaat um Asyl angesucht hat bzw. ohne die benötigten Papiere aufgegriffen wurde; darüber hinaus dienen die Daten, die bis zu 10 Jahren gespeichert werden, auch vierteljährlichen statistischen Erhebungen etwa über Asylansuchen in den Ländern der Europäischen Union.

Der Ratsbeschluss vom 11. Dezember 2000 gibt als Begründung für die Einführung von Eurodac die Erleichterung der Umsetzung des Dubliner Abkommens über Asylfragen an, indem die Identifizierung von AsylbewerberInnen die Bestimmung des für das betreffende Asylansuchen zuständigen EU-Mitgliedsstaates erlaubt (und damit Asylansuchen in mehreren EU-Ländern einschränkt). Aus dieser Begründung geht freilich weder hervor, warum Eurodac sich nicht auf AsylbewerberInnen beschränkt, sondern die umfassende Registrierung von Sans Papiers vorsieht (ich verwende diesen im Französischen gebräuchlichen Ausdruck für MigrantInnen ohne Papiere, um die gerade in unserem Zusammenhang begrifflich wenig überzeugende Alternative zwischen "illegal" und "illegalisiert" zu vermeiden), noch erklärt sie, warum durch Eurodac die Behandlung des Menschenrechts auf Asyl zum Gegenstand statistischer Erhebungen gemacht wird. Entsprechend wenig überzeugend klingen, insbesondere angesichts bestehender Instrumente zur Migrationskontrolle wie dem "Schengen-Informationssystem" (SIS), die Versicherungen, dass die Anwendung von Eurodac ausschließlich auf die Umsetzung des Dubliner Abkommens beschränkt bleiben sollen; und entsprechend unzureichend mutet es an, wenn der EU-Ratsbeschluss in vager Formulierung festhält, die EU-Mitgliedsstaaten mögen ein System zur Sanktionierung von nicht bestimmungsgemäßen Verwendungen etablieren: Wem ist denn, in Österreich beispielsweise, das Monitoring von Eurodac anvertraut?

Halten wir uns darüber hinaus einige der historischen Kontexte vor Augen, auf die die Abnahme von Fingerabdrücken zu Identifikationszwecken verweist. Das große Interesse des 19. Jahrhunderts an Methoden zur Personenidentifikation, das Anfang des 20. Jahrhunderts von England ausgehend zur weltweiten Verbreitung der Fingerabdruckmethode führte, war stets mit dem Ansinnen verbunden, sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen bzw. deren Bewegung zu "schützen": etwa gegen vermeintlich "verschlagene" bengalische VertragspartnerInnen in Britisch-Indien, wo die Kolonialverwaltung erstmals Fingerabdrücke zu (zunächst ausschließlich zivilen) administrativen Zwecken einsetzte; vor allem aber gegen in der entstehenden Großstadtanonymität untertauchende Kriminelle, umherreisende BetrügerInnen etc., deren Herkunftsmilieu insbesondere unter jenen ArbeiterInnen vermutet wurde, die sich im Industriezeitalter in großer Zahl in den westeuropäischen Metropolen niederließen.

Die enge Verflechtung von Kolonialrassismus, grundsätzlicher Verdächtigung von sozialen Gruppen in Bewegung und der im 19. Jahrhundert in Europa wie in den Kolonien vorherrschenden Tendenz, Kriminalität nicht in sozialen Ursachen, sondern in kriminellen Naturanlagen begründet zu sehen, belegt das bizarre Beispiel des "Criminal Tribes Act" von 1871, der in Britisch-Indien - zum Zwecke der "Registrierung, Überwachung, Kontrolle von gewissen kriminellen Stämmen" - die Bewegung selbst von Angehörigen jener kastenlosen, nomadischen Gruppen unter Strafe stellte, die, in kruder Auslegung des indischen Kastenwesens und unter Gleichsetzung von Kasten und "Rassen", als wesenhaft kriminell verstanden wurden. Ein ähnliches Muster zeigt sich in England selbst verdichtet in der Gestalt des Francis Galton, der - als Begründer der britischen Eugenik und jenes "Klassenrassismus", der die sozialen Unterwerfungen der ArbeiterInnenklasse in deren genetischer Minderwertigkeit begründet und gerechtfertigt sah - 1892 das erste Grundlagenwerk über Fingerabdrücke veröffentlichte, ein Buch voll von haltlosen Mutmaßungen über an Fingerabdrücken ablesbare rassenspezifische Differenzen.

Aus all dem lässt sich freilich noch nicht ableiten, dass ein Programm wie Eurodac umstandslos als rassistisch bezeichnet werden könnte. Es zeigt aber zum einen, in welch engen Wechselwirkungen rassistische Diskurse bzw. Strukturen, die polizeilich-administrative Kontrolle bestimmter sozialer Gruppen und Verschiebungen des problematischen Verhältnisses zwischen Polizei und Recht stehen können; und es lässt den Zusammenhang zwischen der realen und symbolischen Diskriminierung bestimmter Gruppen und jenem allgemeinen Zugriff auf das Individuum sichtbar werden, der für die spezifisch moderne (national)staatliche Tendenz zur Erfassung und Kontrolle der "Bevölkerung" sowie insbesondere zur Kontrolle von Bewegung charakteristisch ist.

Vor dem Hintergrund der für den Nationalstaat konstitutiven rechtlichen Grenzziehung zwischen StaatsbürgerInnen und Nicht-StaatsbürgerInnen zeichnet sich darin nicht weniger ab als das "europäische", strukturell nationalstaatliche Dispositiv des Umgangs mit Migration, für das Eurodac ein markantes Beispiel gibt: umfassende und kapillare Kontrolle von MigrantInnen bei gleichzeitiger zumindest partieller Negierung der solcherart "bestimmten" Individuen als politische und juristische Subjekte. Dies wiegt umso schwerer, als im "erweiterten Nationalstaat" der Europäischen Union der Ausbau polizeilich-administrativer Kontrolle und Kooperation bislang in krassem Kontrast dazu steht, dass es weder eine europäische Verfassung noch einen verbindlichen Status der EU-Grundrechtscharta gibt.

Migration ist nicht nur ein Faktum, sondern auch eine zentrale Herausforderung an den demokratischen Rechtsstaat, zumal dann, wenn dieser Staat seinen Wohlstand fortwährend auf jenen politischen, sozialen und ökonomischen Ungleichheiten errichtet, die Migrationsbewegungen bedingen. Seine Rechtstraditionen sind allerdings bis auf weiteres der angesichts dieser Herausforderung völlig unzureichenden Idee des Nationalstaats verpflichtet, das heißt der strengen Verknüpfung von Souveränitätsprinzip, staatsbürgerlichem Rechtsstatus und Geburtsprinzip (wo nicht, wie in Österreich, Blutsprinzip), an der weder naturalizations - so der bezeichnende englische Ausdruck für die Legalisierung von Nicht-StaatsbürgerInnen - noch der viel besprochene "Souveränitätstransfer" im Zuge der europäischen Integration Grundsätzliches ändern. Die Folge davon ist ein zunehmendes Auseinanderklaffen von demokratischen Rechtsgrundlagen und den "empirischen Zwecken" (Benjamin) jener Staaten, die sich auf demokratische Rechtsgrundlagen zwar berufen, dem flagranten Widerspruch jedoch durch polizeilich-administrative Kontrolle zu begegnen versuchen. Dass dieser Versuch scheitern muss, ist ebenso offensichtlich wie der Umstand, dass damit der Punkt berührt wird, an dem der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat wird.

Stefan Nowotny ist Philosoph, lebt in Brüssel und Wien und arbeitet derzeit am Centre de Philosophie du Droit, Universität Louvain-la-Neuve, Belgien.

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