Die Kartografierung des Sozialen als atmosphärisches Spektakel. Zur Installation „Küba“ von Kutlug Ataman

Ataman entscheidet sich, die von ihren Gefühlen überwältigten Individuen ungeschützt den Augen der BetrachterInnen preiszugeben. In diesen Passagen drohen Teile der Installation auf das Niveau von Talkshows abzustürzen, die auf quotengeilen Privatfernsehsendern dem Sozialvouyeurismus frönen.

In den Kulturrissen 01/2006 haben Therese Kaufmann und Beat Weber mit ihrem Text „Die Stiftung, der Staatssekretär und die Bank. ‚Küba’ – eine kulturpolitische Reise“ ein Beispiel einer problematischen Formierung einer Private Public Partnership aus dem österreichischen Kulturbetrieb beschrieben. Das von der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary Stiftung initiierte und vom Bundeskanzleramt und der Erste Bank hoch subventionierte Projekt „Küba: Eine Reise gegen den Strom“ ist nun nach mehreren Zwischenstopps im Zielhafen Wien angekommen. Dieser Text setzt sich mit der zentralen, namensgebenden Installation des Projekts auseinander. Die 2004 fertiggestellte Installation „Küba“ des in Istanbul geborenen Künstlers Kutlug Ataman war im arisierten ehemaligen jüdischen Theater im Nestroyhof in Wien zu sehen (24. Juni bis 9. September 2006).

Küba („Kuba“ auf Türkisch) ist ein aus mittlerweile 330 Behausungen bestehender informeller Stadtteil am Rande der Metropole Istanbul, der in den 60er Jahren von verarmten, aus dem Osten zugewanderten KurdInnen und TürkInnen aufgebaut wurde.

Die atmosphärische Installation „Küba“ besteht aus 40 Videos, die auf 40 verschiedenen alten Fernsehern gezeigt werden, die auf abgewohnten Fernsehtischchen platziert sind. Vor jedem Fernseher steht ein durchgesessener Fauteuil, auf dem eine Person Platz nehmen kann. Auf jedem der 40 Videos ist ein langes Gespräch mit einem/einer BewohnerIn des Stadtteils Küba zu sehen, in dem diese/r im Wohnzimmer sitzend zentrale Geschichten aus dem Leben für die Kamera schildert. Die räumliche Inszenierung der Ausstellung soll das Ambiente von türkischen Unterschichtwohnzimmern in den Ausstellungsraum übertragen, der Betrachter sitzt quasi dem Interviewpartner im Wohnraum gegenüber.

Gewalt als roter Faden

Betritt man die Installation und beginnt damit, sich auf die Geschichten der Menschen einzulassen, ist es schwer, in den Videos eine bestimmte Fokussierung auszumachen. Frauen beschreiben, wie sie als Minderjährige gegen ihren Willen von ihren Vätern verheiratet wurden, von ihren Ehemännern ausgehalten oder wegen anderer Frauen verlassen werden. Männer sprechen über die Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, über Alkoholismus, Spiel- und Drogensucht. Die Schwierigkeiten von KurdInnen beim Erlernen der türkischen Sprache werden ebenso thematisiert wie Krankheiten und Todesfälle, Mord und Raub und Erlebnisse in den Disziplinierungsmaschinen Schule, Gefängnis und Militär. Immer wieder werden auch Widerstandspraxen der als sehr kämpferisch geltenden Gemeinschaft der Küba-BewohnerInnen angesprochen, wie die Verteidigung der ohne öffentliche Genehmigung errichteten Behausungen Kübas. Wie ein roter Faden zieht sich ein hoher Level von Gewalt durch die Beschreibungen: Männer schlagen ihre Frauen, Frauen schlagen ihre Kinder, Kinder schlagen sich gegenseitig oder gemeinsam die Kinder der Nachbarsvierteln. KurdInnen und Jugendbanden liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, die wiederum agiert im rechtsfreien Raum, führt Razzien durch, prügelt, verhaftet und foltert systematisch.

Es ist Atamans Verdienst, diese Menschen zu Wort kommen zu lassen, die sonst nie die Möglichkeit haben, außerhalb ihrer Community Gehör zu erlangen. Durch die Produktion der Videos macht er diese Menschen und ihre Geschichten sichtbar und arbeitet so an einer Form der Kartografierung von Küba, das nicht einmal auf den Stadtplänen Istanbuls aufscheinen soll.

Die Kartografierung eines Stadtteils benötigt natürlich viel Zeit. So summieren sich die für „Küba“ produzierten Videos auf insgesamt 28,5 Stunden. Wie man sich vorstellen kann, tauchen über einen so langen Zeitraum bei den ihre Lebensschicksale schildernden Menschen die unterschiedlichsten Stimmungen auf, von Freude, Lebenslust, Kampfgeist und Stolz bis zu Trauer, Resignation und Verbitterung. Die aufgenommenen Szenen beginnen in einigen Passagen zu kippen, wenn etwa vom Leben enttäuschte Frauen bei der Schilderung ihrer Schicksalsschläge und der auf ihnen lastenden Bürden verzweifelt zu weinen beginnen. Die Kamera hält auch in jenen sehr persönlichen, intimen Situationen – von denen die Gesprächspartnerinnen bei der Zusage, sich filmen zu lassen, nicht wussten, dass es dazu kommen würde – direkt auf die verzweifelten Menschen drauf. Ataman entscheidet sich, die von ihren Gefühlen überwältigten Individuen ungeschützt den Augen der BetrachterInnen preiszugeben. In diesen Passagen drohen Teile der Installation auf das Niveau von Talkshows abzustürzen, die auf quotengeilen Privatfernsehsendern dem Sozialvouyeurismus frönen.

Das Faustrecht des Stärkeren

Bei anderen Erzählungen hingegen ist unklar, ob es sich um real Erlebtes, Erfundenes oder zumindest fantasievoll Ausgeschmücktes handelt. Ataman zeigt keinerlei Ambition zur Klärung von lückenhaft geschilderten oder möglicherweise erschwindelten Stories. Einige Burschen und Männer erzählen zum Teil auf prahlende Weise von ihren Schlägereien und reproduzieren dabei den für viele BewohnerInnen Kübas identitätsstiftenden Mythos, dass die Menschen aus den umliegenden Vierteln Angst vor Auseinandersetzungen mit ihnen hätten. Das Faustrecht des Stärkeren wird glorifiziert, und Ataman setzt kein Regulativ in den Videos, das die damit verbundenen reaktionären Vorstellungen und die dominierenden patriarchalischen Rollenzuschreibungen für Männer und Frauen hinterfragen würde.

Während wahrscheinlich alle GesprächspartnerInnen als Opfer der sozialen Umstände, in die sie hineingeboren wurden, angesehen werden können, befinden sich die noch zusätzlich von ihren Männern, Brüdern und Vätern unterdrückten, geschlagenen, mit ihren Kindern im Stich gelassenen oder misshandelten Frauen in einer sicher noch unerfreulicheren Situation als die Männer. Nur wer diese geschlechtsspezifischen Hierarchien ausklammert, kann mit den Ausstellungskuratorinnen Küba als „eine geschlossene Gemeinschaft, die sich der Außenwelt mit undurchdringbarer Solidarität präsentiert“, imaginieren.

Atmosphärisches Spektakel statt Archiv

Der 1961 geborene Kutlug Ataman wurde in Paris und Los Angeles als Filmemacher ausgebildet. Umso erstaunlicher ist es, dass er den Schritt wagt, sein angelerntes Wissen um die Herstellung professioneller Filmaufnahmen für diese Installation abzulegen und zu einer Art von Low-Tech-Aufnahmemodus findet, der dem Setting sehr gut entspricht. Ataman nimmt die auf ihren Fernsehsesseln sitzenden Personen ohne Stativ auf. Mit seinen etwas verwackelten und unterbelichteten Aufnahmen gelingt es ihm, den Eindruck einer besonderen Nähe zu den interviewten Menschen herzustellen. Das Medium Video selbst rückt in den Hintergrund und erhöht damit die Präsenz der interviewten Personen und deren Schilderungen. Es gibt nur wenige Schnitte in den Videos. Wird der Redefluss doch einmal durchschnitten, wird die Sequenz unprätentiös mittels Jump-Cut an die vorangehende angefügt.

Atamans Konzept sieht vor, in seiner Installation „Küba“ die 40 Tonspuren der Videos laut (ohne Kopfhörer) und gleichzeitig abzuspielen. Wollte ein/e AusstellungsbesucherIn die einzelnen Interviews der Installation in türkischer Sprache hören und nicht die englischen Untertiteln lesen, wäre das wohl nur in den wenigsten Fällen und unter größter Anstrengung möglich, da die überlappenden Stimmen der benachbarten Fernseher das Verstehen einer einzelnen sprechenden Person so gut wie unmöglich machen. Es entsteht eine Kakophonie, in der die einzelnen Stimmen mit ihrem eigentlichen Informationsgehalt untergehen und ausschließlich zum akustischen Gesamtklangbild der Installation beitragen.

Diese Art der Präsentation legt den Schluss nahe, dass Ataman die Videointerviews zu einem gewissen Grad als beliebig einsetzbares und formbares Material für seine künstlerische Installation betrachtet. Es stellt sich die Frage, ob es bei der angegebenen Wertschätzung für seine GesprächspartnerInnen nicht unabdingbar gewesen wäre, den einzelnen Menschen z.B. über das Abspielen der Audiospur über Kopfhörer die Gelegenheit zu geben, ihre Lebensgeschichten auch akustisch verständlich vorzutragen.

Natürlich würde die Verwendung von Kopfhörern den Gesamteindruck der von der für spektakuläre Inszenierungen bekannten britischen Artangel Foundation in Auftrag gegebenen Installation grundlegend verändern. Sie wäre weniger atmosphärisch, sondern nüchterner, weniger Spektakel, sondern Archiv.

Auch Atamans Entscheidung, die über sehr intime Angelegenheiten sprechenden Menschen in der Installation nicht namentlich zu benennen, scheint weniger darin begründet zu sein, dadurch eine Identifizierung durch die Polizei zu verhindern – denn sonst hätte er die Menschen ja auch nicht identifizierbar im Video zeigen dürfen. Ein wahrscheinlicherer Grund ist da schon, dass Menschen ohne Namen von den AusstellungsbesucherInnen stärker über die Identität, ein/e BewohnerIn von Küba zu sein, wahrgenommen werden. So wird „Küba“ zum einzigen Namen für 40 Menschen und diese untrennbar mit dem Schicksal des verarmten Stadtteils Istanbuls verbunden.

„Freakshow“ statt Systemkritik?

Atamans Arbeiten wiesen immer schon einen Hang zu außergewöhnlichen Charakteren auf. Alle seine jüngsten Videoinstallationen sind von allerlei schrägen Freaks und Outsidern bevölkert. Sein Angebot reicht von einer alternden Operndiva zu an die Wiedergeburt glaubenden Menschen, von Transsexuellen zu eingeschworenen Perückenträgerinnen. Zeitgleich zur „Küba“ Ausstellung im Nestroyhof ist etwa in der Sammlung von Thyssen-Bornemisza Art Contemporary seine 4-Kanal-Videoinstallation The Four Seasons of Veronica Read (2002) zu sehen, das Porträt einer nervigen britischen Pflanzenliebhaberin, das bereits auf der letzten Documenta gezeigt wurde.

„Küba“ ist innerhalb des Oeuvres von Kutlug Ataman eine singuläre Arbeit, da sie das Porträt eines ganzen Stadtteils darstellt. Die Aufmerksamkeit und das Interesse, das Ataman den in „Küba“ sprechenden Menschen entgegenbringt, ist nur zu gut nachvollziehbar. Allerdings ist zu befürchten, dass auch diesmal Atamans Ausgangspunkt wieder sein Interesse an außergewöhnlichen Randexistenzen unserer Gesellschaft war, anstatt ein tief greifendes systemkritisches Interesse für die sozio-politischen Verhältnisse, die für die misslichen Umstände der in Küba lebenden Menschen verantwortlich sind.

Oliver Ressler ist Künstler und lebt in Wien. www.ressler.at

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