Zur Frage der Hegemonie: Subcommandante Marcos und Parteichef Van der Bellen

Im Jahr 1997 veröffentlichte "Le Monde Diplomatique" unter dem Titel "Warum wir kämpfen" eine ausführliche Analyse der globalen politischen Situation von Subcommandante Marcos. In ihr identifiziert Marcos sieben Puzzleteile der gegenwärtigen Lage der Welt, die er den "vierten Weltkrieg" nennt.

"Zuerst einmal bitte ich dich, nicht den Widerstand mit der politischen Opposition zu verwechseln. Die Opposition widersetzt sich nicht der Gewalt, und ihre vollkommenste Form ist die der Oppositionspartei. Der Widerstand hingegen kann per definitionem keine Partei sein: er ist nicht zum Regieren gemacht, sondern zum ... Widerstehen." (Tomás Segovia, 1996 )

Im Jahr 1997 veröffentlichte "Le Monde Diplomatique" unter dem Titel "Warum wir kämpfen" eine ausführliche Analyse der globalen politischen Situation von Subcommandante Marcos. In ihr identifiziert Marcos sieben Puzzleteile der gegenwärtigen Lage der Welt, die er den "vierten Weltkrieg" nennt:

· Konzentration des Reichtums und Umverteilung der Armut,
· Globalisierung der Ausbeutung,
· Migration,
· Globalisierung der Finanzen und Verallgemeinerung der Kriminalität,
· legitime Gewalt illegitimer Macht,
· Megapolitik und Zwerge,
· Taschen des Widerstands.

Und er schreibt zu seinem siebenten Puzzleteil, zum Widerstand: "Die scheinbare Unfehlbarkeit der Globalisierung prallt gegen den verbissenen Ungehorsam der Wirklichkeit. Während der Neoliberalismus seinen Krieg führt, formieren sich an verschiedensten Stellen dieses Planeten Protestgruppen und Widerstandsnester. Das Reich der FinanzkapitalistInnen mit den vollen Taschen steht den Rebellionen der Taschen des Widerstands gegenüber. Ja, der Taschen. In verschiedenen Größen, in unterschiedlichen Farben, in vielfältigen Formen. Ihre einzige Gemeinsamkeit: der Wille zum Widerstand gegen die ‚neue Weltordnung' und gegen das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das dieser vierte Weltkrieg darstellt."

Gleichfalls in "Le Monde Diplomatique" schreibt der englische Schriftsteller John Berger einige Monate später einen Brief an Marcos , in dem er ein poetisches Bild des geduldigen Revolutionärs Antonio Gramsci zeichnet, "des undogmatischsten der Revolutionstheoretiker", der "eher an die Hoffnung als an Versprechungen glaubte, und die Hoffnung braucht Zeit." Berger beschreibt in seinem Brief einen nachdenklichen und poetischen Antonio Gramsci, geprägt durch die Geschichte und Landschaft seiner Heimatinsel Sardinien, und bietet ihn auf diese Art Marcos als Identifikationsfigur an.

Was in Bergers Brief allerdings nicht vorkommt, ist der zentrale Unterschied zwischen dem Kampf von Gramsci und dem von Marcos, der zugleich auch die Epochen ihres Lebens und Wirkens unterscheidet: Gramscis vielzitiertes Konzept der kulturellen Hegemonie entstand als Antwort auf die Frage: Wie kann es gelingen, den Kapitalismus zu besiegen, unter welchen Bedingungen ist eine kommunistische Revolution möglich? Für Gramsci stand außer Frage, dass eine Alternative zum Kapitalismus nötig und möglich und dass diese Alternative der Kommunismus ist. Marcos hingegen, der Hoffnungsträger nicht nur der Indios aus Chiapas, sondern auch zahlreicher linker Intellektueller aus weniger unterprivilegierten Weltgegenden, gelangt am Ende seiner Beschreibung der Weltsituation nicht zu einer positiven Utopie, sondern nur zu einem vagen Appell: "Es ist nötig, eine neue Welt zu bauen. Eine Welt, die viele Welten enthalten kann, die alle Welten enthalten kann".

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist der Entwurf eines Gegenkonzeptes zum Kapitalismus anscheinend unmöglich. Denn einerseits erscheint seit dem Scheitern des großen Gegenkonzeptes, des real existierenden Sozialismus, der Kapitalismus mehr denn je als die natürliche Ordnung dieser Welt und andererseits ist es angesichts der Emanzipationsbewegungen zahlreicher selbst- und fremddefinierter Minder- und Mehrheiten, Gruppen und Communities kaum vorstellbar, ein utopisches Konzept, das all diesen Ansprüchen gerecht wird, zu entwickeln. In dieser Situation des wunschlosen Unglücks linker Analyse kommt es auch zu weitgehenden Umdeutungen jeglichen antikapitalistischen Denkens und Handelns in der Vergangenheit. Am radikalsten wurde dies wohl von Robert Kurz gefasst, wenn er in seinem "Schwarzbuch des Kapitalismus" den real existierenden Sozialismus als bloße Spielart des Kapitalismus definiert: "Es ist unschwer zu erkennen, dass die Regimes der ‚nachholenden Modernisierung' im Osten und Süden nicht nur in einer lediglich anderen ideologischen Verkleidung die längst vergessenen und verdrängten westlichen Frühformen des Kapitalismus wiederholten, um eine moderne industrielle Warenwirtschaft im Schnelldurchgang aus dem Boden zu stampfen; sie ahmten auch bis zur Lächerlichkeit die Affekte und die Mythologie der bürgerlichen Revolutionen, die kapitalistischen Lebensformen und sogar noch das westliche Design nach. Der Osten war insofern von Anfang an keine historische Alternative, sondern immer nur eine gröbere, eher mickrige und auf halbem Weg stecken gebliebene Billigversion des Westens selbst. Die ökonomische und technologische Überlegenheit des westlichen Kapitalismus war nie mehr als diejenige eines älteren Bruders, der den jüngeren gewohnheitsmäßig zusammenschlägt und darauf auch noch stolz ist."

Robert Kurz, der Theoretiker, beendet sein Buch: "Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist." Subcommandante Marcos, der Kämpfer, fügt seinem Artikel ein Postskriptum an, das mit dem Satz endet: "Die zapatistischen Feste waren wie üblich sehr fröhlich." Die Botschaft ist klar: Analyse ist möglich, Kampf ist möglich - doch Siege sind nicht abzusehen.

Und in dieser Situation globaler politischer Bescheidenheit fordert Oliver Marchart von Alexander van der Bellen die Entwicklung eines hegemonialen Gegenprojektes. Doch um Hegemonie zu erringen, benötigt man zuerst ein politisches Ziel, eine Gesellschaftsutopie, der man sodann versucht Geltung zu verschaffen. Und dies ist, wie ausführlich beschrieben, zur Zeit schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Nun ist die Situation in Österreich seit der Wahl im Herbst 1999 eine besondere und für die Entwicklung von Gegenprojekten potenziell günstige, da es nicht nur darum geht, den Neoliberalismus auch im hiesigen nationalen Rahmen zu bekämpfen, sondern der Widerstand einem konkreten, lokal verwurzelten Feindbild gilt, das sich deutlich rechts vom neoliberalen Mainstream befindet. Diese Konstellation machte die Entstehung einer Widerstandsbewegung möglich, die zumindest kurzzeitig auf unmittelbaren Erfolg (i. e. den Rücktritt der Regierung) hoffte. Und in dieser Situation entwickelten sich zumindest Teile einer Zivilgesellschaft, die Ansprüche jenseits des allgemein Akzeptierten formuliert.

In den 60er und 70er-Jahren hätte die Linke diese Bewegungen nicht Zivilgesellschaft genannt, sondern APO - außerparlamentarische Opposition; und mit dieser Benennung auch die Überzeugung ausgedrückt, dass nur außerhalb des Parlaments die Entwicklung echter Alternativen möglich ist. "Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten", lautete der zugehörige Slogan. Zumindest in Österreich scheint sich die Bewertung der parlamentarischen Opposition seit damals deutlich verbessert zu haben. "Dem langfristig angelegten hegemonialen Projekt der Umgestaltung Österreichs in Richtung autoritären Neo-Thatcherismus mit ständestaatlichen Elementen lässt sich mit Bewahren (SPÖ) oder Stillhalten (Grüne) nicht begegnen, sondern nur mit einem hegemonialen Gegenprojekt", schreibt Oliver Marchart und versteht diese selbstverständlich korrekte Einschätzung nicht als Aufforderung an die APO, sich nicht länger auf die Parlamentsopposition zu verlassen, sondern als Vorwurf an SPÖ und Grüne. In die gleiche Kerbe schlägt Gerald Raunig, wenn er die Frage nach den notwendigen Bedingungen einer "erfolgreichen Praxis von wucherndem Widerstand" beantwortet: "Es braucht an erster Stelle eine parlamentarische Opposition, die nicht bei jedem kleinsten Rechtsruck der Regierungsparteien gleich nachrückt, um die freiwerdenden Stimmen einzukassieren, eine parlamentarische Opposition, die sich die Positionen einigermaßen strategisch aufteilt, nicht alle Themen verdoppelt und den Antagonismus zwischen Links und Rechts erkennt statt ausblendet. Es braucht eine gestärkte außerparlamentarische Opposition von Linksparteien, die auf Sicht auch in die parlamentarischen Strukturen einsteigen und das demokratische System pluralisieren: wenn schon nicht auf nationaler, dann zumindest auf kommunaler und regionaler Ebene." (S. 31f)

Warum sollte der - wie auch immer definierte - Erfolg einer Widerstandsbewegung von diesen Faktoren abhängen? Warum wird der parlamentarischen Opposition so viel Bedeutung zugemessen, wo wir doch wissen, dass national die Exekutive, also die Regierung, ständig an Macht zulasten der Legislative, also des Parlaments gewinnt, dass die Europäische Union durch ihre zunehmende Entscheidungskompetenz zusätzlich zur Entmachtung der nationalen Parlamente beiträgt, ohne auch nur annähernd befriedigende demokratische Prozesse auf supranationaler Ebene zu bieten, dass Parteien in dieser Konstellation nur mehr einen Bruchteil der politischen Bedeutung haben, die sie einmal hatten?

Würden die zitierten Sätze von Raunig statt mit "Es braucht", mit "Es wäre schön" beginnen, wäre ihnen vorbehaltlos zuzustimmen. Es wäre schön, wenn man Verbündete im Parlament hätte, die zumindest zeitweise als Sprachrohr der Bewegung dienen, es wäre schön, wenn der Widerstand außerhalb des Parlaments durch strategische Positionen innerhalb des Parlaments unterstützt und ergänzt würde. Es wäre schön, wenn sich die österreichischen Grünen weniger staatstragend gebärden würden und sich auf ihre Wurzeln in diversen Basisbewegungen besinnen würden (revolutionäre Wurzeln hatten sie ja bekanntlich auch vor Van der Bellen nicht) und es wäre auch schön, wenn man die deutschen Grünen noch von irgendeiner anderen Regierungspartei unterscheiden könnte.

Doch es braucht etwas Anderes. Es braucht die Entwicklung von Denk- und Handlungsmodellen jenseits des Neoliberalismus und es braucht die Entwicklung von Organisationsformen, die diesen Modellen angemessen sind - wobei es schwer vorstellbar ist, dass sich solche innerhalb der bestehenden Staatsstrukturen finden lassen. Dass man nebenbei auch jede Unterstützung nehmen sollte, die man situativ gerade brauchen kann - egal ob sie von den österreichischen Grünen oder den EU-14 kommt - versteht sich von selbst. Ebenso wie es sich von selbst versteht, dass sich die Aufgabe, ein hegemoniales Gegenmodell zu entwickeln, nicht an eine Oppositionspartei delegieren lässt.

Monika Mokre arbeitet am Research Unit for Institutional Change and European Integration der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ist Mitglied von FOKUS, Forschungsgesellschaft für kulturökonomische und kulturpolitische Studien

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