Wie Geschichtspolitik entsteht – eine kleine Fallstudie

Es wäre vermessen und politisch unklug, zu glauben, dass der kurzfristig erreichte Konsens über die Notwendigkeit von Erinnerungspolitik ein stabiler sei. Der hier beschriebene Fall zeigt tatsächlich umgekehrt, wie brüchig und fragil der adäquate Umgang mit der eigenen TäterInnengeschichte in Österreich ist.

Erstmals in der zehnjährigen Geschichte der von den Tiroler Kulturinitiativen (TKI) ausgerichteten Förderschiene TKI open lehnte das Land Tirol zwei der von einer unabhängigen Fachjury ausgewählten Projekte ab: Alpenländische Studien von Tal Adler und Wahlen sind Betrug von Oliver Ressler. Initiiert von Oliver Ressler und weitergetrieben von den TKI kam es daraufhin zu einem umfassenden medialen Protest. (Gut dokumentiert auf der Homepage der TKI; siehe auch den zusammenfassenden Beitrag „Verstörende Landschaften“ von Benedikt Sauer in Kulturrisse Heft 1/2012).

Die erste Begründung für die Ablehnung des Projektes Alpenländische Studien, die in den Medien kolportiert wurde, lautete in etwa: Das Projektthema „Kein Thema“ des diesjährigen Calls wurde verfehlt. Anstatt dass, wie es die Ausschreibung vorsehe, Leerstellen behandelt und aufgespürt würden, beschäftige sich dieses Projekt just mit etwas, das in Tirol bereits gut aufgearbeitet sei: dem Nationalsozialismus (siehe zum Beispiel Tiroler Tageszeitung vom 18.01.2012, S.17). Beide Projekte fragten die Kulturabteilung des Landes Tirol nach den Gründen der Ablehnung. Daraufhin wurde diesen mitgeteilt, dass die Förderentscheidungen des Landes der TKI bereits „ausführlich erläutert“ wurden (E-Mail-Korrespondenz 22.12.2011). Die Alpenländischen Studien wandten sich somit an die TKI und erfuhren, dass diesen bei der Sitzung mit der Kulturabteilung am 14.12.2012 eben jene Begründung gegeben wurde, die dann auch in der Tiroler Tageszeitung vom 18.01.2012 zu lesen war – für die TKI selbst war das eine nicht nachvollziehbare Argumentation (siehe E-Mail-Korrespondenz vom 25.12.2011).

Im Folgenden soll an diesem Beispiel herausgearbeitet werden, dass geschichtspolitische Positionen nicht nur ideologisch fixiert sind. Vielmehr entstehen sie in einer veränderbaren, widerstreitenden und kommunikativen Praxis unterschiedlich Beteiligter.

Alles im Lot oder: Schlussstriche überall

Die Proteste rund um diese Causa hatten drei verschiedene (einander auch überlappende) Stoßrichtungen: Empörung darüber, dass die Politik sich in die Entscheidungskompetenz einer unabhängigen ExpertInnen-Jury einmischt; darüber, dass kritische Statements hiervon betroffen sind; und über die Behauptung, dass die NS-Vergangenheit schon zur Genüge aufgearbeitet wäre (MOLE 2/2012).

Ein großer Artikel in dem Nachrichtenmagazin ECHO – „auf Förderlinie“ (Ausgabe 1/2012) – beschäftigt sich mit der Ablehnung beider Projekte. Die Tiroler Landesrätin für Bildung, Kultur, Denkmalschutz u. a., Beate Palfrader, wird in diesem Text damit zitiert, dass „das Nicht-Erinnern-Wollen ja bereits an den Beispielen KZ Reichenau, Psychiatrie Hall, Bergbau Alpeiner Scharte und Ex-Messerschmitt-Kaverne Schwaz dokumentiert wurde“. Es wäre also nach diesem Zitat nicht nur alles bereits zur Genüge thematisiert, was den Nationalsozialismus in Tirol betrifft, sondern auch dort, wo es Versäumnisse gegeben haben könnte, ist alles im Lot: Auch das „Nicht-Erinnern-Wollen“ selbst sei „bereits dokumentiert“. Abgesehen davon, dass in so einer Argumentation gar nicht in Erwägung gezogen wurde, dass es nicht prinzipiell um die „Dokumentation“ des „Nicht-Erinnern-Wollens“, sondern um eine Veränderung dieses Wollens geht, ist doch bemerkenswert, worunter überall Schlussstriche gezogen werden können.

Nachdem sich die österreichische Gesellschaft jahrzehntelang nicht erinnern wollte, gilt nun übergangslos diese Tatsache selbst schon zu Genüge erinnert. Eine solche Aussage zeigt auch, dass sich öffentliche Statements zur Erinnerungspolitik in einem kommunikativen Prozess zwischen ForscherInnen, AktivistInnen, Medien und Politik herausbilden. In diesem Fall kann nachvollzogen werden, wie ein Befund seitens lokaler Initiativen und ForscherInnen – dass sich österreichische Erinnerungspolitik weitgehend durch „Nicht-Erinnern-Wollen“ auszeichne – zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Politik aufgegriffen und genau dadurch, dass auf diese Initiativen verwiesen werden kann, für bereits abgehandelt bezeichnet wird.

Es geht hier weniger darum, ob die Landesrätin eine solche Aussage tatsächlich getätigt hat oder ob dies nur über die Medien so kolportiert wurde. Vielmehr ist interessant, welche öffentlichen Reaktionen unabhängig von ihren Worten ihre politische Praxis (die der Förderungsablehnung) auslöst und wie diese Reaktionen wiederum die Praxis verändern. So begründete laut Tiroler Tageszeitung vom 17.01.2012 die Landesrätin Palfrader die Ablehnung weniger inhaltlich, sondern damit, dass die abgelehnten Projekte nicht den Förderrichtlinien von TKI open entsprechen würden (eine Argumentation, die bis zum Schluss beibehalten wird). Für die Journalistin Ivona Jelcic sind diese Argumente jedoch „fadenscheinig“ und legen genau deshalb den „Zensurverdacht“ nahe. Je stärker also die politisch Verantwortliche versuchte, sich medial auf formale Kriterien zurück zu ziehen (und betonen wollte, dass sie gerade nicht inhaltlich eingriff), umso verdächtiger wurden ihre Handlungen in den Augen der medialen Öffentlichkeit, tatsächlich weitere Geschichtslügen zu betreiben.

So zieht Ivona Jelcic (Tiroler Tageszeitung 17.01.2012, Glosse) selbst eine Parallele dieser politischen Entscheidung zu anderen: Der von der Kulturabteilung des Landes Tirol geförderte Verein Institut für Tiroler Musikforschung veröffentlichte 2011 in der CD-Reihe historics Musik von Josef Eduard Ploner, ohne dessen aktive NS-Vergangenheit auch nur zu erwähnen. Ploner war eine Schlüsselfigur im NS-Musikleben Tirols. In seinem Werk finden sich zahlreiche Bezüge zur nationalsozialistischen Ideologie. 1941 hat Ploner „im Auftrag des Gauleiters und Reichsstatthalters Franz Hofer“ ein Liederbuch „für Front und Heimat des Gaues Tirol-Vorarlberg“ herausgegeben. Landesrätin Palfrader wies jedoch, laut Tiroler Tageszeitung vom 17.01.2012, die KritikerInnen an dieser CD Produktion und nicht den Herausgeber scharf zurecht. Jelcic meinte dazu: „Von Aufarbeitung etwa auch der Blasmusikszene hört man seither kaum etwas.“

Die Ablehnung des Juryentscheids von TKI open 2012 wird also hier diskursiv mit anderen politischen Aktionen des Umganges oder Nichtumganges mit der nationalsozialistischen Geschichte seitens der lokalen PolitikerInnen und der Zivilgesellschaft („Blasmusikszene“) verbunden. Diese Verbindung wird sowohl von einigen JournalistInnen als auch in einigen der schriftlichen Stellungnahmen hergestellt und wird vermutlich auch von der Kulturabteilung ab einem bestimmten Zeitpunkt verstanden. Es geht in manchen dieser Stellungnahmen gar nicht mehr oder gar nicht nur um die Ablehnung der Alpenländischen Studien und den Umgang mit der Förderschiene TKI open. Es scheint diese Ablehnung Pars pro Toto auf die österreichische Geschichte und die Geschichte der Ablehnung von Erinnerungspolitik zu verweisen. Ein Teil des diskursiven Felds der Empörung, das sich rund um so einen Entscheid bildet, ist im Kontext der unfassbaren und unerträglichen Tatsache von jahrzehntelanger Verweigerung von Aufarbeitung, Auseinandersetzung und Restituierung zu verstehen. Die Kolumne „Sauerstoff“ von Benedikt Sauer („Verneigen uns vor den Opfern“, Tiroler Tageszeitung 23.01.2012) und das Statement des Vorstandes des Institutes für Zeitgeschichte in Innsbruck, Dirk Rupnow, („Hinlänglich aufgearbeitet“, geposted auf der Homepage der TKI am 26.01.2012) sind zwei Beispiele dafür.

Aushandlungsprozesse und geschichtspolitische Diskursverschiebungen

Am 23.01.2012 schickten die Alpenländischen Studien einen Brief an die Kulturabteilung des Landes Tirol z. Hd. des zuständigen Beamten Benedikt Erhard mit der Bitte um ein Gespräch. In diesem Brief wurden die bis dahin in der Öffentlichkeit und dem Projekt gegenüber kolportierten Argumentationsweisen der Kulturabteilung – alles wäre bereits gut aufgearbeitet und das Projekt würde sowohl Thema als auch Richtlinien von TKI open verfehlen – aufgegriffen und widerlegt. Die Antwort erfolgte prompt telefonisch und via E-Mail mit der Zusage zu einem Treffen und einer ausführlichen Debatte über Leerstellen der Erinnerungspolitik in Tirol (siehe E-Mail Benedikt Erhard an Tal Adler und Karin Schneider 23.01.2012). Diese Kommunikation und das Treffen waren der Wendepunkt in der offiziellen Haltung der Kulturabteilung den Alpenländischen Studien gegenüber.

Die Argumentation der Landesrätin Palfrader ging von nun an ausschließlich in Richtung „falsche Förderschiene“, wobei immer andere Begründungen dafür aufgeboten wurden, warum dieser Topf der falsche sei (Co-Finanzierung durch den FWF, Projektverankerung an der Akademie der bildenden Künste, zu wenig Tirolbezug, keine neue Kulturinitiative etc.) (zum Beispiel Interview von Benedikt Sauer mit Landesrätin Palfrader am 01.02.2012 im KulturTon 105.9 auf FREIRAD). Eigentlich hätte es ein geschichtspolitischer Erfolg auf allen Ebenen sein können: Die offiziell politisch Verantwortliche veränderte in einem Zusammenspiel von medialer und inhaltlicher Kommunikation ihre öffentliche Haltung zu der Notwendigkeit geschichtspolitischer Arbeit in eine positive Richtung, sie veränderte ebenso ihre Förderpraxis und nahm diesbezügliche Entscheidungen zurück.

Dilemma und Knoten im Machtnetz

De facto aber ergab sich dadurch für die Alpenländischen Studien ein politisches Dilemma: Eine Ablehnung des Angebotes der Kulturabteilung, das Projekt aus einem Sondertopf fördern zu lassen (getätigt von Landesrätin Palfrader in dem Interview von Benedikt Sauer am 01.02.2012 im KulturTon 105.9 auf FREIRAD), hätte die eigene Argumentationsweise, dass auch die kleinsten Veränderungen im Umgang mit dem NS wichtig wären, ad absurdum geführt. Eine Annahme dieses Angebotes hatte jedoch zur Folge, dass die Kompetenz und damit auch das unabhängige Bestehen jener, die dem Projekt überhaupt erst zu einer Förderung verhalfen, nämlich die TKI und die unabhängige ExpertInnenjury, öffentlich infrage gestellt werden konnten (siehe „Schlag ins Gesicht der Jury und der TKI“, Tiroler Tageszeitung vom 1.2.2012).

Je mehr eine Verschiebung im hegemonialen Selbstverständnis gelang und gezeigt werden konnte, dass Erinnerungspolitik eine „Ehrensache“ auch für konservative PolitikerInnen werden kann, umso mehr kann diese als token (Spielstein) fungieren: Im Windschatten der öffentlichen Anerkennung von Geschichtspolitik beobachteten wir in diesem Fall eine klammheimliche Demontage unabhängiger Kulturpolitik. Während die Alpenländischen Studien genau mit dem Verweis der zuständigen Politikerin, wie wichtig dieses Thema sei (was ihr, wie angemerkt, erst nach der von Oliver Ressler und der TKI initiierten Kampagne überhaupt auffiel), aus einem anderen Fördertopf Geld angeboten bekamen, bestand dieselbe Politikerin darauf, dass die unabhängige Jury sich irrte, die eignen Richtlinien nicht kannte etc.

Dennoch wäre es vermessen und politisch unklug, zu glauben, dass der kurzfristig erreichte Konsens über die Notwendigkeit von Erinnerungspolitik ein stabiler sei. Der hier beschriebene Fall zeigt tatsächlich umgekehrt, wie brüchig und fragil der adäquate Umgang mit der eigenen TäterInnengeschichte in Österreich ist. Das, was wir hier beobachten konnten, war eine Ausnahme. Dass sich innerhalb von 14 Tagen das offizielle Narrativ von „Wir brauchen kein solches Projekt (das sich mit der NS Zeit beschäftigt, wir haben schon genug davon)!“ verschoben hat zu „Wir brauchen eine alternative Finanzierungsmöglichkeit!“, war nur aufgrund der öffentlichen Reaktionen und Aktivitäten möglich, die ihrerseits auf jahrelangen geschichtspolitischen Sensibilisierungen und Kämpfen aufbauen; eine solche Verschiebung ist dabei nicht selbstverständlich, zeugt auch von der Flexibilität aller am Prozess Beteiligten (also auch Seitens der Kulturabteilung) und könnte jederzeit – wie so oft – wieder zurückgenommen werden, bliebe der Protest ein nächstes Mal aus.

Karin Schneider ist Historikerin und Kunstvermittlerin und arbeitet zurzeit mit Tal Adler, Friedemann Derschmidt und Attila Kosa an der Akademie der bildenden Künste im Projekt MemScreen (FWF – PEEK call). In diesem Rahmen hat sie mit Tal Adler die Basisrecherche seiner Alpenländischen Studien durchgeführt.

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