Von Künstlern und Skifahrern: Der Skandal um Hirschhorns "Swiss-Swiss Democracy"

"JETZT MUSS DAS VOLK EINGREIFFEN!" titelt der Blick, die größte Schweizer Boulevard Zeitung. Anlass war das traurige Abschneiden der Ski-Nationalmannschaft bei den eben zu Ende gegangenen Weltmeisterschaften in Bormio, wo keine einzige Medaille errungen werden konnte. Natürlich eine Blamage für die Ski-Nation Schweiz, verbunden mit der bangen Frage: haben die Österreicher am Ende den besseren Schnee?

"JETZT MUSS DAS VOLK EINGREIFFEN!" titelt der Blick, die größte Schweizer Boulevard Zeitung. Anlass zu diesem martialischen Aufruf war nicht etwa ein Politskandal, der die Grundfesten des Staates erschüttert hätte, es war auch kein Appell nun endlich handfest gegen kriminelle Asylbewerber durchzugreifen (das konnte man auch schon lesen, aber heute ist das Boulevardblatt eher links gerichtet, das ist aber eine andere Geschichte). Nein, Anlass war das traurige Abschneiden der Ski-Nationalmannschaft bei den eben zu Ende gegangenen Weltmeisterschaften in Bormio, wo keine einzige Medaille errungen werden konnte. Natürlich eine Blamage für die Ski-Nation Schweiz, verbunden mit der bangen Frage: haben die Österreicher am Ende den besseren Schnee? Ein Problem, in der Tat, nicht zuletzt für die Tourismuswerbung. Wie das "Volk" der Misere Abhilfe verschaffen könnte, blieb aber auch nach der Lektüre des Artikels rätselhaft. Umso anschaulicher trat wieder einmal der urschweizerische Glaube an die Wunderkraft der direkten Demokratie zu Tage. Das Volk und die Berge, eine unschlagbare Kombination.

Szenenwechsel. Anfang Dezember 2004 eröffnete Thomas Hirschhorn, einer der Stars der jungen Schweizer Kunstszene, seine Ausstellung "Swiss-Swiss Democracy" im Centre Culturelle Suisse de Paris. Auf der Einladungskarte waren Folterbilder aus dem irakischen Abu Ghraib Gefängnis auf die Embleme der Schweizer Gründungskantone montiert und mit dem Slogan "I love democracy" versehen. In der Ausstellung wurde allerlei Material von Zeitungsausschnitten über Bücher und Videos bis zu Modelleisenbahnen präsentiert, zu einer Wohn- und Spielzeuglandschaft zusammengestoppelt und dick mit braunem Klebeband umwickelt, was der Ausstellungen einen leicht unappetitlichen Farbton und die entsprechende Geruchskomponente verlieh. Darüber hinaus wurde auch noch eine Aufführung des Stücks Wilhelm Tell zum besten gegeben, in der ein Schauspieler in eine Wahlurne kotzte und ein anderer, einen Hund imitierend, das Bein an einem Bild des Rechtsaußenpolitikers und Neo-Bundesrates Christoph Blocher hob. So stand es am nächsten Tag in den Zeitungen, und der Skandal war perfekt.

Während sich Blocher selbst nicht zur Ausstellung äußerte, griffen seine Sekundanten den Austellungsmacher und die Kulturstiftung Pro Helvetia, die das Projekt mit knapp 200.000 Franken (ca. 130.000 Euro) finanziert hatte, scharf an. Wieder einmal wurde die Frage gestellt, was staatlich geförderte Kunst alles dürfe und nicht dürfe, und ob es die Aufgabe der Kulturstiftung sei, für die Schweiz im Ausland Werbung zu machen, oder aktuelle, und eben auch heimatkritische Kunst zu zeigen (die österreichische Regierung kommt dieser Diskussion ja mit der präventiven Stilllegung der entsprechenden Institutionen zuvor). Nach einer kurzen und heftigen Diskussion im Ständerat (Vertretung der Kantone) wurde der Pro Helvetia das Budget um 1 Million auf 33 Millionen Franken gekürzt. Die Ausstellung gesehen hatte kaum einer der Abgeordneten. Der Nationalrat, der wenig später tagte, mochte diesem Ansinnen zwar nicht folgen, aber da im Falle eines Budgetstreites zwischen den Kammern das niedrigere Budget sich durchsetzt, trat die Streichung dennoch in Kraft. Praktische Lösungen à la Suisse.

Hirschhorn, der eine ähnliche Arbeit ohne vergleichbares Medienecho zur selben Zeit auch in der Londoner Tate Gallery zeigte, erklärte seine Absicht in einem Interview folgendermaßen: "Für mich ist die Demokratie nie ein Ideal, sondern sie ist nur immer eine Realisation. Und weil sie eine Realisation ist, hat sie Fehler, und deshalb darf ich, muss ich sie kritisieren. Ich finde, es gibt nichts Luxuriöseres als heute zu sagen: 'Ich bin Demokrat' – im Angesicht der Welt." Mit der selbstgefälligen Gleichsetzung Demokratie=gut wird in der Tat allerlei Schindluder getrieben, dies ist aber kaum etwas Neues. So trug etwa der Ostteil, nicht der Westteil Deutschlands jahrzehntelang die Auszeichnung demokratisch im Namen, ohne sich speziell um politische Freiheiten zu kümmern. Warum also der Skandal? Nur weil jetzt auch die Schweizer Demokratie nicht über alle Zweifel erhaben sein soll? Auch diese Erkenntnis ist seit der Auseinandersetzung um das 'Nazi-Gold' nicht mehr so schockierend wie sie es vielleicht einmal war.

Der Skandal entbrannte vielmehr, weil sich via Hirschhorns Ausstellung ein Stellvertreterkonflikt austragen ließ um die brisanteste politische Frage der Schweiz: Wo sind die Grenzen der direkten Demokratie? Für die populistische Rechte rund um Blocher gibt es keine Instanz, die legitimer Weise über dem Volkswillen, wie er sich in Sachabstimmungen zum Ausdruck bringt, stehen kann. Darüber hinaus gibt es (potenziell) keine Frage, über die das Stimmvolk nicht befinden könne. So gibt es etwa Gemeinden in der Schweiz, in der Einbürgerungsgesuche an der Urne entschieden werden, was schwere menschenrechtliche Probleme schafft, weil die Praxis eindeutig diskriminierend ist (alle Anträge von Einwanderern aus Ex-Jugoslawien wurden abgelehnt). Aber was sind schon die Menschenrechte gegen den authentischen Volkswillen. Hinter dieser schon hitzigen Diskussion steht die noch viel umstrittenere Gretchenfrage der Schweizer Politik: das Verhältnis zur EU. Die Linke will beitreten, die Rechte auf keinen Fall, und die Mitte? Sie weiß es nicht.

Dementsprechend ist der Hauptleidtragende dieser Diskussion nicht die Linke (sie ist durchaus in der Lage, selbst populistisch zu argumentieren und Abstimmungen zu gewinnen), sondern die bürgerliche Mitte. Sie, die jahrzehntelang die politische und wirtschaftliche Macht im Lande inne hatte und einen großbürgerlichen, liberalen Kurs verfolgte, hat massiv an Deutungshoheit und Einfluss verloren. Ideologisch gesehen ist das Kernstück schweizerischer Identität, die direkte Demokratie, fest in der Hand der neuen Rechten, und ihre Interpretation wird weit über die Parteigrenzen hinaus geteilt. Der damit einhergehende Populismus bereitet der Mitte ernste Sorgen. So hatte vor wenigen Monaten der Innenminister, ein Bürgerlicher, der Rechten vorgeworfen, sie "mythologisiere das Volk", in dem sie es als unfehlbar und als letzte Instanz in allen Fragen darstelle. Da die Schweiz aber eine Konkordanzregierung besitzt (bestehend aus 4 Parteien, die etwa 80% der Stimmen auf sich vereinigen), ist diese Diskussion schnell unterbunden worden, schließlich musste man ja am nächsten Tag wieder zusammenarbeiten.

Auf diese wunde Stelle legte nun Hirschhorn seinen Finger. Seine Kritik ist nicht wesentlich anders als diejenige des Ministers, auch wenn er sie deutlich grober und ohne politische Rücksichten formuliert. Deshalb musste sich der Innenminister, der auch für die Kultur zuständig ist, aber eigentlich Verständnis für solche Eskapaden hat, vor Hirschhorn und die Pro Helvetia stellen und die Kunstfreiheit verteidigen. Wirklich mit Überzeugung tat er es nicht, und dass die Gelder trotzdem gekürzt wurden, wird ihn auch nicht sonderlich gestört haben.

Nun gut, was machen wir jetzt mit der freien Million? Geben wir sie doch den Skifahrern, denen geht's noch schlechter als den Künstlern und des Volkes Wille wäre es allemal. Es würde auch auf's schönste Hirschhorns Analyse bestätigen. Das Theaterstück endet nämlich folgendermaßen. Drei Schauspieler sitzen auf einem Sofa und deklamieren: "Wir sind frei! Wir sind frei! Wir sind frei!" Dann kuscheln sie sich unter ein großes Poster von Willhelm Tell und schlafen ein.


Felix Stalder ist Soziologe, Medienwissenschafter und Mitbegründer des Open Source-Netzwerks Openflows.

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