Soziale Infrastruktur. Für das gute Leben aller

In der neuen Produktionsweise des Neoliberalismus, die seit den 1980ern die bis dahin herrschende Variante von Kapitalismus, den Fordismus, abgelöst hat, werden gesetzliche Regelungen veranlasst, die Sozialleistungen reduzieren und damit die „Kosten der Arbeit“, auch als „Lohnnebenkosten“ diskutiert, zu senken. Arbeit wird, so zeigt sich bei dieser Gelegenheit, nicht als Quelle der Wertschöpfung, sondern als Kostenfaktor verstanden.

Der Mensch lebt nicht vom Lohn allein

Es gehört zu den unbestreitbaren Erfolgen der europäischen Arbeiterbewegung, dass sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Anerkennung der Bedeutung und Würde von Arbeit durchsetzen konnte. Arbeit, so wissen wir seither selbstverständlich, ist entscheidend für die Wertschöpfung und damit für den Reichtum der Nationen. Die Nazis haben mit ihrem effizient organisierten Einsatz von Arbeit als Folter und Arbeit als Vernichtung einiges getan, um die Würde von Arbeit zweifelhaft erscheinen zu lassen. In der Konsumgesellschaft der 1960er hat sich eine „instrumentelle Arbeitshaltung“ durchgesetzt, nach der das eigentliche Leben in der „Freizeit“ stattfindet. Aber seit es wieder hinreichend Arbeitslosigkeit und weltweit Konkurrenz durch billige Arbeitskraft gibt, ist Arbeit für die Einzelnen wieder nach der Gesundheit das Wichtigste im Leben. „Arbeit“ wird dabei mit Selbstverständlichkeit verengt als „Lohnarbeit“ verstanden.

Trotz aller seinerzeitigen und heute wieder verstärkten Bemühungen dazu geht aber der Mensch nicht ganz in seiner und ihrer Eigenschaft als Arbeitskraft auf. Immer wieder muss die Wirtschaft die Erfahrung machen, dass sie Arbeitskräfte ruft – und es kommen Menschen. Aus der Sicht dieser Menschen ist die Lohnarbeit nicht die einzige, nicht einmal die wichtigste Form der Arbeiten, die getan werden und die nötig sind, um ein Leben zu führen. So sehr uns selbstverständlich zu machen versucht wird, dass nur Lohnarbeit „Arbeit“ sei, alles andere „Freizeit“, so ist es doch unausweichlich so, dass die wichtigsten Arbeiten, von denen wir leben, die gemeinsamen Tätigkeiten und gegenseitigen Dienste sind, die als „Hausarbeit“, „Eigenarbeit“ und „Gemeindearbeit“ beschrieben werden können. Die Lohnarbeit, mit der wir Geld verdienen, ist nur ein notwendig gemachter Teil dieses Gesamt-Ensembles von Arbeiten der Haushaltsführung, von und in denen wir leben. Es war und ist eine törichte Illusion auch der Arbeiterbewegung, alle diese Arbeiten durch Waren und Dienste ersetzen zu können. Es war und ist ein törichtes Missverständnis, das Reich der Freiheit mit dem Reich der Freizeit gleichzusetzen – als ob die Freiheit darin bestünde, fernzusehen, Bier zu trinken und mit den Kumpels oder den Freundinnen kesse Sprüche zu führen.

In der Arbeit des Lebens hat die Lohnarbeit nur einen begrenzten Stellenwert. Die über den Einsatz von Lohnarbeit hergestellten Waren sind darüber hinaus nur begrenzt für das Leben nützlich, im Gegenteil oft überflüssig bis schädlich: Ein nicht gerade kleiner Teil der Waren, die in Lohnarbeit hergestellt und gehandelt werden, dient zum Beispiel dazu, Menschen mehr oder weniger massenhaft und grausam umzubringen. Aber auch – um ein harmloses Beispiel zu nehmen – in die Produktion von Plastikspielzeug, das spätestens beim zweiten Kontakt mit einem Kind kaputt geht, wird viel Erfindergeist und Arbeitskraft investiert. Dass bei vielen Waren, darunter zum Beispiel Automobilen, die ökologischen Folgen ihrer Produktion und ihres massenhaften Gebrauchs ein Problem darstellen, macht auch die Lohnarbeitsplätze in solchen Bereichen ein wenig dubios.

Wirtschaftliche und soziale Infrastruktur

Aus dieser Diskrepanz, dass wir als Menschen leben, die Wirtschaft uns aber als potenzielle oder auch gar nicht benötigte Arbeitskräfte behandelt, entsteht auch eine Schieflage im Verständnis der Staatsfunktionen. Es erscheint allen selbstverständlich, dass der Staat die Aufgabe hat, Eigentum, Vertrag, Kredit zu garantieren, Transportwege, Energieversorgung und Grundstückserschließung zu bieten und zuletzt „riskante“ Investitionen noch finanziell zu unterstützen und so Infrastruktur für „die Wirtschaft“ bereitzuhalten. Höchstens dass gelegentlich an den „Subventionen“ herumgemäkelt wird, aber auch da geht es eher um die „Pendlerpauschale“ als um die massiven Absicherungen von unternehmerischem Risiko, die sie tatsächlich überwiegend darstellen. Im Übrigen sind die rechtlich vorgegebenen Betriebsformen von der GmbH bis zum Konzern, die Regelungen der Verlustabschreibung und das Konkursrecht als Mechanismen konzipiert, um die Verluste möglichst auf die gesamte Gesellschaft von SteuerzahlerInnen umzuverteilen. Was es analog als Absicherungen für die Reproduktion der Arbeitskraft gibt, ist, obwohl hierzulande weitgehend aus eigenen Beiträgen nach dem Versicherungsprinzip finanziert, immer im Ruf, ein Geschenk oder zumindest verweichlichender Luxus und also legitimer Gegenstand von Sparüberlegungen zu sein.

Dementsprechend werden in der neuen Produktionsweise des Neoliberalismus, die seit den 1980ern die bis dahin herrschende Variante von Kapitalismus, den Fordismus, abgelöst hat, gesetzliche Regelungen veranlasst, die Sozialleistungen reduzieren und damit die „Kosten der Arbeit“, auch als „Lohnnebenkosten“ diskutiert, zu senken. Arbeit wird, so zeigt sich bei dieser Gelegenheit, nicht als Quelle der Wertschöpfung, sondern als Kostenfaktor verstanden. Viel effizienter wird die soziale Sicherung aber ausgehebelt, indem neue Arbeitsverhältnisse auf Zeit, über Leiharbeit oder gleich über (Schein-)Selbständigkeit angeboten und das traditionelle gesicherte Anstellungsverhältnis auf eine Stammbelegschaft zusammengezogen wird. In diesem Prozess wurden als erstes in den 1980ern beginnend ältere Angestellte in die Frühverrentung entlassen, was zugleich eine „Krise der Sozialversicherung“ auslöste, die man wieder als Argument für Leistungsreduktionen verwenden konnte. Die traditionelle Form der sozialen Sicherung über ein tatsächliches oder fingiertes Versicherungs-Verhältnis, das an ein lebenslanges Lohnarbeits-Verhältnis gekoppelt ist, wird damit ausgehebelt. Die wirkliche „Krise der Sozialversicherung“ kommt erst, wenn diejenigen, die aufgrund unregelmäßiger und ungesicherter Arbeitsverhältnisse die Voraussetzungen für die Auszahlung nicht erfüllen, in die Situation kommen, sie zu brauchen.

So gesehen ist eine soziale Sicherung, die am – mehr oder weniger notdürftigen – Ersatz von ausfallenden Lohneinkünften orientiert ist, unzureichend. Soziale Sicherung besteht vielmehr in der Sicht der Menschen, aus denen eine Gesellschaft besteht, darin, dass alle die Arbeiten ermöglicht werden, die wir für unser Leben brauchen. Man kann das auch so ausdrücken: Der Staat hält (in Analogie zu dem, was für die wirtschaftlichen Aktivitäten getan wird) die soziale Infrastruktur bereit. Wie im Fall der Wirtschaft tut er das aus Steuermitteln. Die Wirtschafts-Infrastruktur ist, so betrachtet, ein Spezialbereich der sozialen Infrastruktur. Sie muss sich daran ausweisen, ob sie wirtschaftlichen Aktivitäten dient, die für das soziale Leben notwendig und nützlich oder ihm schädlich sind.

Infrastruktur ist nötig für die defensiven Tätigkeiten der Sicherung von Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Haushaltsausstattung. Infrastruktur ist nötig für die Tätigkeiten der Bildung und Entwicklung, des Zusammenlebens und der gegenseitigen Förderung. Infrastruktur ist nötig für die Pflege in vorhersehbaren Situationen und Zeiten der besonderen Bedürftigkeit, wie z.B. Kindheit und Jugend, Unfall, Krankheit, Alter. Infrastruktur ist nötig für die Ermöglichung von „ausgreifenden“ Tätigkeiten der Organisation bestimmter Abläufe und Leistungen. Infrastruktur ist nötig für die Möglichkeit aller, sich an den Entscheidungen über die Zukunft der Gesellschaft zu beteiligen und ihre Ideen dazu beizutragen. Diese Infrastruktur besteht daher in Einrichtungen der Grundversorgung, der Gesundheitspflege, der Bildung, der Ermöglichung von Pflege, der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, der Wissenschaft und Kunst, des Experimentierens mit Lebensweisen. Ein (nachgeordneter) Teil der Infrastruktur ist auch etwas wie ein Grundeinkommen, das umso niedriger sein kann, je besser die Infrastruktur ausgebaut ist.

Soziale Infrastruktur statt Versicherung und Fürsorge

Was wir zur Zeit als Umbau zum Neoliberalismus erleben, ist nicht nur darauf aus, soziale Sicherungen zu reduzieren, sondern auch darauf, Infrastruktur-Leistungen, von Müllabfuhr und Wasserversorgung über Transport und Bildung bis hin zu Aufgaben der Exekutive in Polizei, Strafvollzug und Militär, zu „kommodifizieren“, sie in Waren und Dienste umzuwandeln. Das Versprechen ist weniger Bürokratie und – über Markt und Konkurrenz – günstigere Preise. Übersehen wird dabei, dass auch die Wirtschaft über eine Bürokratie verfügt, die der staatlichen nicht unbedingt nachsteht, und dass auch ausgelagerte Kontrollen und Evaluationen die Bürokratie vermehren. Bei Privatisierungen sind bisher (etwa bei Bahn, Telefon, Paketdienst) die Kosten gestiegen und die Leistungen gesunken. Das gilt notwendig bei Dienstleistungen: Rationalisierung ist hier grundsätzlich nur durch mehr „Selbstbedienung“ zu haben. Im Bereich von Bildung und Gesundheit bleibt besonders sichtbar die Leistung zunehmend nur für Reiche verfügbar.

Insofern ist der Kampf um die Infrastruktur ohnehin eröffnet. Ihn defensiv zu führen, indem man (wie die Gewerkschaft) versucht, die Verhältnisse des Fordismus zu „retten“, ist schon die halbe Niederlage. Wir brauchen in jedem Fall eine neue Form der sozialen Sicherung, die den prekären und arbeitskraft-unternehmerischen Bedingungen angemessen ist, unter denen immer größere Teile der LohnarbeiterInnenschaft beschäftigt sind. Darüber hinaus sind die Nachteile, die eine lohnarbeits-zentrierte soziale Sicherung immer schon hatte, Grund genug, über bessere Möglichkeiten nachzudenken. Dazu muss der Gedanke neu durchgesetzt werden, dass es die raison d’etre eines demokratischen Staates ist, eine soziale Infrastruktur bereitzuhalten; für alle die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die man braucht, um sein Leben autonom gestalten und voll und gleich am Leben der Gesellschaft teilnehmen und ihre (hoffentlich bessere) Zukunft mitentwickeln zu können. Die Idee der sozialen Infrastruktur lässt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens anwenden und kann damit Grundlage einer umfassenden Reform-Orientierung sein.

Politik der sozialen Sicherung so zu betrachten, ergibt sich einerseits aus einer aufgeklärten Einsicht in die verschiedenen Formen der Arbeit und ihre Bedeutung, andererseits aus der Aushebelung der Sozialversicherung durch Prekarisierung und Arbeitskraft-Unternehmertum in der Produktionsweise des Neoliberalismus. Ein grundsätzlicher Umbau der sozialen Sicherung ist notwendig. Er sollte sich nicht auf die Idee eines Grundeinkommens beschränken, sondern umfassender den Ausbau der sozialen Infrastruktur als Orientierung haben.

Literatur

Heinz Steinert und Arno Pilgram (2003): Welfare Policy from Below: Struggles against Social Exclusion in Europe. Aldershot (Ashgate)

Mehr Informationen zum Thema Soziale Infrastruktur finden sich auf der Website: www.links-netz.de/rubriken/R_infrastruktur.html

Heinz Steinert ist Professor für Soziologie, Schwerpunkt Devianz und soziale Ausschließung, an der J.W. Goethe Institut-Institut Frankfurt am Main. Er lebt in Frankfurt und Wien. Veröffentlichungen: www.gesellschaftswissenschaften.uni-frankfurt.de/hsteinert

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