Dekolonisierung als politisches Projekt

Ganz zu Beginn des Sammelbandes findet sich eine programmatische Abbildung: Das Foto zeigt ein vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste in Wien aufgespanntes Transparent mit der Parole „We stand for decoloniality!“.

Ganz zu Beginn des Sammelbandes findet sich eine programmatische Abbildung: Das Foto zeigt ein vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste in Wien aufgespanntes Transparent mit der Parole „We stand for decoloniality!“. Es stammt vom November 2009, als sich von dort aus eine Welle von Protest- und Streikbewegungen in Österreich gegen die Bologna-Reform entwickelte, die wiederum verknüpft war mit transnationalen Formen des Widerstands gegen die Ökonomisierung des Bildungssystems und breiteren gesellschaftspolitischen Forderungen.1

Damit wird, bevor wir noch zu lesen begonnen haben, ein spezifischer Diskursrahmen innerhalb der postkolonialen Kritik eröffnet. Dekolonialität bezieht sich auf das von A. Quijano entwickelte Konzept der „Kolonialität der Macht“, das nicht nur die ökonomischen, politischen und militärischen, sondern auch die epistemischen Dimensionen kolonialer Beziehungen bzw. die Frage, wie sich hegemoniale westliche Wissensordnungen darauf stützten, mit einbezieht. Gleichzeitig wird eine Verortung im politischen Kontext aktueller Kämpfe buchstäblich veranschaulicht, was eine Lesart nahe legt, die über eine rein innerdisziplinäre Reflexion für ExpertInnen hinaus weist. Das macht den Sammelband auch für Nicht-SoziologInnen interessant: weil er, wie der Untertitel besagt, eine Reihe transdisziplinärer Ansätze umfasst – von der Kritik des Kosmopolitismus, über die Weltsystem-Analyse bis zu Area Studies – und weil viele der Analysen in den teilweise sehr divergenten Texten politisch motiviert und relevant sind.

Die europäische Moderne und ihr „Anderes“
Dass ein solcher, dekolonialer Ansatz ausgerechnet hinsichtlich einer europäischen Perspektive angegangen wird, scheint nur auf den ersten Blick paradox und hat zunächst mit der historischen Situiertheit der Disziplin zu tun: Untrennbar mit ihr verknüpft sind die europäische Moderne und das von ihr propagierte universalistische Fortschrittsparadigma, das wiederum nachhaltig unser Verständnis von Europa geprägt hat. Damit zusammen hängt eine spezifische epistemische Praxis und „internationale Arbeitsteilung“ zwischen der für die „modernen Gesellschaften“ zuständigen Soziologie und der Ethnologie, deren Aufgabe vor allem darin bestand, zu erklären, warum der „Rest“ (S. Hall), also die außereuropäische bzw. nicht-westliche Peripherie, eben nicht der Moderne angehörte, sondern zu ihrem „Außen“ und „Anderen“ erklärt wurde. Für eine Überwindung dieser „analytischen Blindheit“ gegenüber der „Unterseite der Moderne“ (E. Dussel) müsste eine Dezentrierung Europas deshalb auch eine Dezentrierung der Moderne beinhalten, wobei eine solche Verschiebung des Zentrums der Macht immer auch mit der Verschiebung von Wahrheitsregimen zu tun hat. Mehrere Beiträge setzen sich deshalb mit den Konzepten „multipler“ oder „neuer“ Modernen auseinander – jedoch unter dem Vorbehalt, dass durch eine simple Pluralisierung der Moderne nur allzu leicht Hierarchisierungen und ungleiche Machtrelationen nivelliert werden könnten.

Bei der „europäische Perspektive“ geht es um die Übertragung der Kritik an der Verschleierung der Kontinuitäten kolonialer Erfahrungen und Strukturen in den heutigen Machtsystemen des globalen Kapitalismus (entgegen der Annahme, mit dem Ende der Kolonialherrschaften und ihren Administrationen sei eine tatsächliche Dekolonisierung erfolgt) auf den Kontext Europas und somit einer Auseinandersetzung mit dem „Außen innerhalb seiner Grenzen“ (Dussel) als Analyserahmen, wobei innere Differenzen und Hierarchisierungen in Bezug auf sein koloniales/imperiales Erbe nicht ignoriert werden sollen. Eine Reihe von Beiträgen – und diese Beiträge gehören sicher zu den Stärken des Bandes – analysieren unter dem von W. Mignolo entlehnten Begriff des „Grenzdenkens“, wie aktuelle Migrationspolitiken, die Formulierung von Nation, BürgerInnenschaft und Arbeit in Relation zur „Kolonialität der Macht“ stehen: So liest Kien Nghi Ha die so genannten Integrationskurse für MigrantInnen in Deutschland ausgehend von W.E.B. Du Bois in einer Verbindungslinie zu kolonialen pädagogischen Praxen, während der Beitrag von Jin Haritaworn (sehr aktuell im Kontext der Ablehnung des vom Berliner CSD verliehenen Preises durch Judith Butler in diesem Sommer!) sich kritisch mit der „Neuerfindung der deutschen Gesellschaft als schwulenfreundlich“ durch die Verschiebung von Homophobie an ihre Ränder, in diesem Fall die MigrantInnen, auseinandersetzt. Sandra Gil Araújo veranschaulicht die massiven Differenzen, die in Spanien zwischen unterschiedlichen Migrationsgruppen und ihrer Naturalisierung in Relation zu Narrativen der „kulturellen Nähe“ als Teil der Konstruktion der spanischen Nation gemacht werden.

Materialität des Wissens
Es geht also nicht um das reine Dazuaddieren einer postkolonialen Perspektive oder Analysekategorie, sondern um deren Veränderung. Dass zwischen den einzelnen Vorschlägen dafür innerhalb des Buchs oft Spannungen und Widersprüche entstehen, führt ein Projekt vor Augen, das sich nicht einfach vereinheitlichen oder im wörtlichen Sinne disziplinieren lässt. Konsequenter Weise muss es auch die postkoloniale Kritik selbst einschließen bzw. über ihre aktuelle Form hinausgehen, wie Boaventura de Sousa Santos und Encarnación Gutiérrez Rodríguez betonen, wobei letztere in ihrem durchaus als programmatisch zu wertenden Text zur Ontologie der Wissensproduktion auf die Rolle postkolonialer Kritik als Label im globalen Wettbewerb der Bildungsökonomien und die Marginalisierung von Schwarzen, queer-feministischen und Chicana-Positionen wie auch deren RepräsentantInnen innerhalb der Institutionen verweist. Und mit der Frage nach den materiellen Bedingungen der Wissensproduktion sind wir quasi wieder dort, worauf das Bild am Anfang uns stößt – Dekolonisierung als politischer Ansatz.

1 Das Bild stammt übrigens von Jens Kastner und findet sich auch auf dem Cover von „Desobediencia Epistémica“ von Walter Mignolo, das im Frühjahr 2011 in Wien auf Deutsch erscheinen wird.

Literatur
Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Manuela Boatc/Sérgio Costa (Hg.) (2010): Decolonizing European Sociology. Transdisciplinary Approaches. Ashgate.

Therese Kaufman arbeitet am eipcp in Wien und koordiniert das Projekt Creating Worlds.

Ähnliche Artikel

Ukraine Krieg, Demonstration Wien, Stephansplatz Während 2015 schnell die Flüchtlingskrise ausgerufen wurde, findet der Begriff heute noch kaum Verwendung, obwohl bereits nach wenigen Wochen mehr Menschen aus der Ukraine in die EU geflohen sind, als in den Jahren 2015 und 2016 zusammen. Woran liegt das? Könnte die Stimmung wieder kippen? Ein Gespräch mit Migrationsexpertin Judith Kohlenberger darüber, was nun besser funktioniert, wieso aber das Thema Asyl weiter politisiert und die Flüchtlingskonvention aufgeweicht wird.
Die Lage Kulturtätiger von Spanien bis Ungarn, von England bis Italien ist relativ ähnlich. Und doch unterscheiden sich die Konsequenzen deutlich, von den Hilfsleistungen bis zu den politischen Implikationen, von einer neuen Solidarität bis zu verstärktem Demokratieabbau. Ein flüchtiger Blick über die neuen alten Grenzen. 
"Lange genug haben wir im Kultursektor den Wettbewerb und die Separierung eingeübt, und es ist höchste Zeit, diese Haltung zu überwinden", fordert Lillian Fellmann, politische Philosophin, Journalistin und Koordinatorin des Netzwerks „Arts Rights Justice Europe" in ihrer Analyse aktueller Problemlagen der Kunstfreiheit in Europa. Nicht nur Verstöße gegen das Recht auf Kunstfreiheit, sondern auch der Anstieg von Hass im Netz, die Abwesenheit von Rechtsstaatlichkeit und der Zusammenhang mit Streichung und Reduktion finanzieller Mitteln sind zu beobachten.