re/visionen

Der People of Color Terminus, im deutschen Sprachraum bisher kaum besprochen, wird hier in die vorherrschende Diskussion eingeführt, um „erstmals kritische Stimmen von Afro-, Asiatisch-, und anderen Schwarzen Deutschen, Roma und Menschen mit außereuropäischen Flucht- und Migrationshintergründen“ zusammenzufassen.

Ein dickes schwarzes Buch, am Cover eine Tür, die auf- oder zu geht, je nach dem was der/die BetrachterIn sehen möchte: re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Bereits im Untertitel werden essentielle Positionen sichtbar gemacht: Der People of Color Terminus, im deutschen Sprachraum bisher kaum besprochen, wird hier in die vorherrschende Diskussion eingeführt, um „erstmals kritische Stimmen von Afro-, Asiatisch-, und anderen Schwarzen Deutschen, Roma und Menschen mit außereuropäischen Flucht- und Migrationshintergründen“ zusammenzufassen. Perspektiven von People of Color bedeutet weiters, dass hier ausschließlich People of Color als AutorInnen und HerausgeberInnen tätig sind (1). Postkoloniale Perspektiven in Deutschland verweisen zudem auf die in Mainstream Diskursen dethematisierte koloniale Vergangenheit Deutschlands (und anderer deutschsprachiger Länder) und machen koloniale Kontinuitäten und Muster in heutigen Migrations- und Integrationsdebatten sichtbar. Im folgenden Gespräch zwischen Belinda Kazeem und Jo Schmeiser werden Standpunkte, Aussagen, Texte und durch die Lektüre aufgeworfene Fragestellungen diskutiert, um so ein Bild der vorliegenden Publikation zu zeichnen. Ein Bild jedenfalls, das aufgrund der Positionen, aus denen wir, die Rezensentinnen, sprechen, kein einheitliches, ungebrochenes sein kann. Die Vielzahl der Texte macht es uns leider unmöglich alle zu besprechen.
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J:Das Buch wurde ausschließlich von People of Color geschrieben. Für mich als weiße Frau wirft das Fragen auf: Welche LeserInnen adressiert dieses Buch und wie spricht es mich an? Wie kann ich mich in Bezug setzen? Im Jahr 2005 war ich bei einem selbstorganisierten Migrantinnenkongress in Berlin, bei dem es eine Quote für Mehrheitsangehörige (10%) gab. Das war für mich eine sehr wichtige Erfahrung. In diesem Sinne verstehe ich deine Idee eines Gesprächs auch als Einladung zu einer Auseinandersetzung, welche unterschiedlichen Fragen dieses Buch bei uns aufwirft. Worüber können wir hier und in dieser Konstellation (Schwarze und weiße Österreicherin) sprechen und worüber nicht?
B:Das Buch spricht mich als Person an, die in der Schwarzen Community Österreichs aktiv ist und verstärkt Verbindungen und Gespräche zu anderen Schwarzen AktivistInnen in Europa sucht. Ich interessiere mich sehr für Entwicklungen in Deutschland und Fragen nach möglichen Bündnissen und Gemeinsamkeiten. Meiner Meinung nach wendet sich das Buch an People of Color im deutschen Sprachraum. Natürlich ist den HerausgeberInnen klar, dass dieses Buch auch in weißen Zusammenhängen gelesen wird. Also würde ich ergänzen, dass sich das Buch auch an weiße Menschen wendet, die es aushalten, einmal nicht Ansprechperson zu sein, besprochen zu werden, ohne die Möglichkeit der Selbstpositionierung zu haben. Die Idee, mit dir über das Buch zu sprechen, entstand, weil ich eine gemeinsame Rezension in Gesprächsform spannend fand. In einer Besprechung dieses Buches müssen mehrere Stimmen zu hören sein. Ich hätte es seltsam gefunden, wenn es ausschließlich von weißer, feministischer Seite rezensiert worden wäre. Mein Hauptaugenmerk liegt auf der Betonung des Raumes, der durch dieses Buch geöffnet wird. Ein Raum, der mir als Schwarzer Frau wichtig ist und den ich mit besprechen möchte. Dies bedeutet klarerweise nicht, dass ich für alle Schwarzen Menschen, MigrantInnen oder People of Color sprechen kann.

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J:Enorm produktiv finde ich die Mischung unterschiedlichster Genres im Buch. Vom Comic über theoretische Texte und Essays reichen die Textformen bis hin zu Lyrik und Prosa, was ein völlig anderes Lesen zur Folge hat. Entgegen meiner Gewohnheit, nach der Reihe vorzugehen, habe ich dieses Buch kreuz und quer gelesen und auch zwischendrin viel gelacht, was sonst bei Theoriepublikationen eher selten vorkommt. Mita Banerjees Text (2) habe ich aufgrund seines Überschreitens von Genregrenzen, seines Veruneindeutigens von wissenschaftlicher und erzählerischer Sprache besonders genossen. Bemerkenswert ist auch die neue Textform der geschichtssplitter, die sich durch die ganze Publikation ziehen (3).
B:Auch ich hatte selten ein Buch in der Hand, das mich zum Lachen, Staunen und Nachdenken gebracht hat, und vor allem aber auch für verschiedene Lebenslagen und -situationen Texte anbietet. Bemerkenswert ist für mich nicht nur, dass diese Publikation es schafft, viele verschiedene Stimmen einzufangen, sondern auch, dass dadurch keine Gleichmacherei passiert. Im Gegenteil: Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewusst aufgezeigt, es wird auch ausgehalten, wenn sich AutorInnen widersprechen. Ein Buch als Diskussionsraum. Der Umstand, dass es sich hier um die erste Publikation ausschließlich von People of Color handelt, ist eine sehr ermächtigende Tatsache, und ich würde mir Ähnliches für Österreich wünschen. Vorhandene Schwarze und migrantische Textproduktionen will ich mit diesem Wunsch keinesfalls negieren, doch eröffnet sich hier ein neuer Raum. Ein Raum, der nicht nur abhängig von Anfragen und Einladungen weißer PublizistInnen ist, sondern eben selbstbestimmt entsteht.

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J:Christiane Hutsons Beitrag (4) gehört zu den besten Texten, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Hutson untersucht Krankheit als eine Konstruktion, in die sich „das Ineinandergreifen von ,Rasse‘, Geschlecht und Sexualität immer neu einschreibt“. Sie fragt nach der Beteiligung von Medizin, Gesundheitssystem und deren AkteurInnen an der Reproduktion von Rassismus, (Hetero-)Sexismus und kolonialer Macht. Maggi W. H. Leungs Text (5) fand ich auch sehr interessant. Der Text zeigt die ökonomischen und rassistischen Hintergründe der vermeintlich „kulturell bedingten“ Berufsentscheidungen von ChinesInnen in Deutschland.
B: Chinesisch-Sein war im deutschsprachigen Raum noch kaum Thema. AsiatInnen in Migrationsdiskursen werden oft nicht mitgedacht. Wichtig ist mir das Aufzeigen von selbstbestimmten und widerständigen Räumen (6), ebenso wie die historische Verortung (7).
J:Jin Haritaworns, Tamsila Tauqirs und Esra Erdems Beitrag (8) war der erste Text im Buch, den ich gelesen habe. Die Autorinnen zeigen, wie identitätskritische An-sätze oft jene AkteurInnen mit den mächtigsten (und reaktionärsten) Positionen in Schutz nehmen. „Weißes Europa. Eine un/mögliche Diskussion zwischen einem Mitglied von Kanak Attak und Kien Nghi Ha“: Diesen Text hätte ich, wie sicher viele andere LeserInnen auch, sehr gerne vollständig gelesen. Doch gab das Mitglied von Kanak Attak leider die per Email geführte Diskussion nicht zur Publikation frei. So können wir nur Kien Nghi Has Beiträge lesen. Der Text unterzieht postidentitäre Politikansätze einer kritischen Diskussion und fragt u.a. danach: „Inwieweit privilegiert eine Politk der Imaginierung einer vermeintlichen Identitätslosigkeit dominante Weiße Identitäten, die sich innerhalb eines solchen Ansatzes nicht mit der Konstruktion von Whiteness auseinandersetzen müssen?“
B:Der Beitrag von Muhsin Ormuca hat mich so zum Lachen gebracht, dass ich das Comic vielen FreundInnen zeigen wollte und musste, weil er einfach treffend aufzeigt, dass die Forderung nach Integration nichts anderes ist als ein Wunsch nach Assimilierung und erneuter Unsichtbarwerdung von People of Color. Nicht unbedingt der Inhalt ist so neu, sondern die Darstellung als Comic, das Aufnehmen von Stereotypen und natürlich das grandiose Ende, die mir wirklich zugesagt haben. Ähnlich witzig fand ich in diesem Kapitel auch Fatih Çevikkollus „Der Integrator“. Sehr interessant ist Mariam Popals Text (9). Der Vorwurf an weiße Feministinnen, muslimische Frauen in der Kopftuchdebatte zu vereinnahmen und zu bevormunden ist nicht neu. Mir kommt aber vor, dass er weiterhin gerne ungehört bleibt. weiße Feministinnen und ein patriarchales System unterstützen sich hier gegenseitig. Muslimische Frauen werden zum Gegenstand einer prominenten Diskussion gemacht, aber nicht daran beteiligt. Neu und mein Interesse weckend ist aber Popals Herangehensweise, das Kopftuch in Verbindung mit Hip-Hop zu setzen und aufzuzeigen, welche widerständigen Tendenzen beide enthalten können.

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J: Interessant fände ich zu fragen: Lässt sich weiße Identität anti-essentialistisch denken, gesellschaftskritisch politisieren und in der feministischen antirassistischen Arbeit anwenden? In ihrem Beitrag zitiert Araba Evelyn Johnston-Arthur Maureen Maisha Eggers Begriff der Selbstsabotage. Eggers bezeichnet damit „alle Mechanismen, in ihrer Gesamtheit ausgeübt durch die Gruppe der Unterdrückten selbst, die dazu führen, dass der Zustand ihrer Unterdrückung und Ausbeutung aufrecht erhalten oder forciert wird“. Was ist, wenn wir den Begriff der Selbstsabotage umdeuten und auf die Gruppe der UnterdrückerInnen anwenden? weiße Selbstsabotage wäre dann eine Strategie, alle Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung im eigenen Denken und Handeln zu (unter)suchen und zu sabotieren. Bemerke ich in weißen queer-feministischen (akademischen) Kontexten die Abwesenheit von Schwarzen und MigrantInnen und fordere deren Anwesenheit bei der Konzeption und Durchführung von Projekten, kommt oft der Vorwurf „essentialistischer Identitätslogiken“. weiße Mehrheitsangehörige scheinen die Kritik an Identitätspolitiken zu nützen, um People of Color weiterhin nicht beteiligen zu müssen. weiße Selbstsabotage hieße für mich, die eigene Amnesie und Abwehr zu erkennen und zu unterwandern.
B: Für mich bleibt die Frage offen, ob frau wirklich so weit außen stehen kann, dass sie sich selbst sabotiert. Der Begriff der Selbstsabotage ist auch eine notwendige Benennung, ein Fassen von Mechanismen. Damit beginnt für mich gleichzeitig ein Ermächtigungsprozess der Unterdrückten. Der Begriff der weißen Selbstsabotage kann wiederum eine Aneignung eines Schwarzen Konzeptes durch weiße Mehrheitsangehörige bedeuten. Scheinbare Zugeständnisse werden gemacht, mit dem Ziel, zumindest nicht alle Privilegien zu verlieren.
J:Da hast du Recht. Die Frage ist aber, ob das per se so ist, oder ob mit der weißen Selbstsabotage auch gesellschaftskritisch gearbeitet werden kann. Wenn die Schwarze Autorinnenschaft explizit gemacht wird, finde ich schon, dass weiße Mehrheitsangehörige mit diesem Konzept arbeiten können.

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J: Hito Steyerl rät in ihrem Beitrag, sich darauf zu konzentrieren, was zu tun ist, nicht was man sein soll. Identität ist das Problem, nicht die Lösung, so Steyerl. Sie hat schon Recht. Anti-identitäre Positionen sind theoretisch richtig und wichtig. Und dennoch finde ich sie problematisch, weil sie fast automatisch von weißen, dominanten Subjekten eingenommen werden.
B:Anti-identitäre Positionen werden vor allem gerne eingenommen, weil sie den bestehenden Widerstand weißer Subjekte gegen Selbst-Identifikation und Bloßlegung unterstützen. weiße Kulturproduzentin kann dann behaupten, dass sie schon reflektiert hat und entsprechend handelt, egal ob sie das auch tatsächlich tut.
J: Deshalb scheint es mir nach wie vor notwendig, auf Identitäten zu bestehen, mit ihnen politisch zu arbeiten. Sie werden zugeschrieben, es gibt sie, auch wenn wir sie nicht benennen wollen. Brauchbar scheint mir neben der Strategie der weißen Selbstsabotage auch jene der Veruneindeutigung (Antke Engel). Keine klare oder zu klärende Identität also, sondern eine, die immer wieder sabotiert und veruneindeutigt werden muss, um ihre Sprengkraft zu erhalten.
B: Ich stimme dir zu, dass Identitäten immer wieder gestört, neu verhandelt, umbenannt etc. werden müssen, um nicht festgeschrieben zu werden. In meiner Praxis äußert sich das so, dass ich mich an verschiedenen Orten verschieden benenne. Du hast mich vorher als Schwarze Österreicherin bezeichnet, was ich hier in diesem Kontext nicht getan hätte. Was mir am Buch sehr gut gefällt, ist, dass die HerausgeberInnen betonen, dass der People of Color Ansatz nicht die endgültige Lösung ist, sondern dass es sich um eine neue Diskussion handelt. Für mich ist der People of Color Ansatz sehr spannend und aufbauend, weil ich Verbindungen zwischen mir, asiatischen Frauen, türkischen Männern, Musliminnen etc. finden kann.

Anmerkungen

Die *** kennzeichnen unsere Bearbeitung, ein Sampling jenseits des authentischen Sprechens.

Eine Langversion des Gesprächs kann auf der Website www.kulturrisse.at nachgelesen werden.

Literatur

Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.) (2007): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster (Unrast)

Fußnoten

(1) Den HerausgeberInnen ist bewusst, dass eine solche Herangehensweise viele Diskussionen und auch Abwehr auslöst. Diese Reaktionen und Diskussionsprozesse werden aber gerade als wichtig erachtet, um eine „Weiße Norm“ zu beschreiben und anzugreifen, die auch in antirassistischen und antiheterosexistischen Kreisen wirkmächtig ist.

(2) vgl. Mita Banerjee: „Ethnizität als Buhfrau der Nation? Über disziplinäre Umwege und die (Un)Möglichkeit ethnischer (Selbst)Artikulation“

(3) Diese splitter erzählen in wenigen Absätzen die Geschichten und Erfahrungen von marginalisierten und diskriminierten Personen in Vergangenheit und Gegenwart. Geschichten, die in dominanten Öffentlichkeiten nicht vorkommen und als Vorbilder zum Widerstand gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Antisemitismus dienen können.

(4) vgl. Christiane Hutson: „Schwarzkrank? Post/koloniale Rassifizierungen von Krankheit in Deutschland“

(5) vgl. Maggi W. H. Leung: „,Warum sind die so chinesisch?‘ Dekonstruktionen von Chinesisch-Sein in Deutschland“

(6) vgl. z.B. Kook-Nam Cho-Ruwwe, Hyun-Sook Kim, Sa-Soon Shin-Kim und Hyun-Sook Song: „Wir sind keine Ware, wir gehen zurück, wann wir wollen! Ein Gespräch über den Politisierungsprozess der Koreanischen Frauengruppe“

(7) vgl. z.B. geschichtssplitter: „Chinesische Präsenzen in Deutschland bis 1945“

(8) vgl. Jin Haritaworn, Tamsila Tauqir und Esra Erdem: „Queer-Imperialismus: Eine Intervention in die Debatte über ,muslimische‘ Homophobie“

(9) vgl. Mariam Popal: „Kopftücher Hip-Hop – Körper sprechen schweigend (andere) Geschichten“

Belinda Kazeem ist Schwarze Aktivistin und Kunstvermittlerin.

Jo Schmeiser ist weiße Feministin und Künstlerin der Gruppe Klub Zwei.

 

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