Uffdecken der janz kleenen persönlichen Scheisse

Im Berliner Märkischen Viertel entwickelte sich Anfang der 1970er Jahre ein breites Spektrum kollektiver emanzipatorischer Widerstandsformen und operativer Medienpraktiken, denen unter anderem die Maxime zugrunde lag, dass Erkenntnis und politische Arbeit „nur über Uffdecken der janz kleenen persönlichen Scheisse jehn kann“.

Im Zuge des Einsatzes kritischer Wissenspraxen wie der militanten Untersuchungen, die in den 60er Jahren in den Fabriken – den Orten der Produktion – ihren Anfang nahmen, rückten auch die Terrains der Reproduktion in das Visier der Kritik: Wohnen, Leben, das Soziale, die Stadtteile und Institutionen – die Vorräume der politischen Organisierung also – wurden zum Untersuchungs- und Aktionsfeld für Studierendenkollektive und Medieninitiativen. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die sozialen Kämpfe im Berliner Märkischen Viertel Anfang der 1970er Jahre. Hier entwickelte sich ein breites Spektrum kollektiver emanzipatorischer Widerstandsformen und operativer Medienpraktiken, denen unter anderem die Maxime zugrunde lag, dass Erkenntnis und politische Arbeit „nur über Uffdecken der janz kleenen persönlichen Scheisse jehn kann“.

Das Märkische Viertel ist eines der größten westdeutschen Wohnungsbauprojekte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Planungen begannen 1962, die Bauzeit erstreckte sich bis 1974. Gebaut wurden 16.000 Wohnungen und 500 Einfamilienhäuser für insgesamt 60.000 Menschen. Vor allem als Ausgleichsgebiet für UmsetzmieterInnen aus innerstädtischen Sanierungsgebieten geplant, kamen nun die ArbeiterInnen aus den traditionellen Arbeiterquartieren an im neuen Viertel.

Die Infrastruktur fehlte komplett: Es gab kaum Einkaufsmöglichkeiten, es herrschte akute Unterversorgung an Kindergärten, Schulen und Jugendtreffs. Das Gebiet lag abgehängt an der Berliner Peripherie und war schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Mieten und Nebenkosten stiegen unverhältnismäßig in einem relativ kurzen Zeitraum, viele MieterInnen verschuldeten sich auch durch die Neuanschaffung von Wohnungseinrichtungen. Mütter kehrten ins Berufsleben zurück, was das Problem der Kinderversorgung weiter verschlechterte. Diese Gemengelage führte in der Folge zu regelmäßigen Zwangsexmittierungen verschuldeter Familien. Zur harten Wohn- und Lebensrealität kam die stigmatisierende Repräsentation in den Medien: In jener Zeit wurde das Märkische Viertel (MV) durch die deutsche Presse gejagt als düsteres Abstiegs-Ghetto, Touristen ließen sich in gesicherten Bussen durch das Beton-Gebirge chauffieren.

Beforschung und „Kontrolle von unten“

Diese Zustände prädestinierten das MV für eine gründliche Kritik am kapitalistischen Städtebau und seinen sozialen Folgen: Heerscharen von StudentInnen und ProfessorInnen, SozialwissenschaftlerInnen und -pädagogInnen, ArchitektInnen, KünstlerInnen und FilmemacherInnen machten sich auf ins „Feld“, in die städtische Konfliktzone und begannen den Kampf um die Selbstorganisierung im Reproduktionszusammenhang. Ab 1968 bildeten sich im MV etliche Initiativen und Projekte, die in großen Teilen von Universitätsangehörigen initiiert oder mitgetragen wurden – von kritischen Architektur- und StadtplanungsstudentInnen sowie zu großen Teilen von Studierenden und Lehrenden der Pädagogischen Hochschule (PH). Auch an den Universitäten änderte sich das Klima. Neben der Gründung autonomer selbstorganisierter Studierendenprojekte wie z.B. der Kritischen Universität im WS 67/68 erfolgte auch strukturell in der Lehre ein methodischer Paradigmenwechsel hin zu vermehrter Projektarbeit.

An der PH wurde mit der MV-Studie ein ganzes Forschungsprojekt im Fachbereich Sozial-Pädagogik eingerichtet: 100 Studierende und DozentInnen forschten über fünf Jahre zur Organisierung der Menschen im MV rund um die Interessen „Wohnen“ und „Erziehen“. Eine Zielsetzung war, die Bündnisfähigkeit der Studierenden zu testen. Was den Stadtteil anbetraf, galt es herauszufinden, ob und wie die auf Selbsthilfe gerichteten Kommunikationsstrukturen alter Arbeiterquartiere in überwiegend proletarischen Neubauvierteln zu rekonstruieren seien. In Projektgruppen wurde mit den unterschiedlichen AkteurInnen – Kindern, Eltern, BürgerInnen, Jugendlichen – in verschiedenen Formen zusammengearbeitet. Für letztere wurde ein Jugendzentrum geplant, mit ersteren wurde ein Kinderbuchprojekt entwickelt, Kita-Gruppen wurden realisiert. Es formierte sich ein kommunalpolitischer Arbeitskreis von BewohnerInnen, die schulpolitische Vorschläge entwarfen – die teilweise wiederum an der Uni weiterbearbeitet wurden, etwa bei der Entwicklung alternativer Schuleignungstests. Dass die Zusammenarbeit zwischen forschender Universität und beforschten BewohnerInnen nicht nur in einer Richtung verlief, sondern sich auch über eine „Kontrolle von unten“ definieren wollte, zeigt auch eine Ausschreibung des Mieterschutzbundes im Theorie-Praxis-Seminar Bürgerinitiativen im MV, in der die MVlerInnen „ihre“ StudentInnen casteten: „Eine Gruppe von Arbeitern und Angestellten, die im MVB eine Organisation von Mieterräten aufbauen wollen, suchen 5 bis 8 Studenten, die bereit sind, sie bei der politischen Schulung und Qualifikation in Fragen Mieten, Zusammenhang zwischen dem Reproduktions- und Produktionsbereich, Politökonomie des Reproduktionssektors usw. zu beraten und ihnen so zu helfen, ihre Tätigkeit als Mieterräte qualifiziert auszuüben“.

Ein von der PH initiierter und von Eltern organisierter Abenteuerspielplatz wurde zum Vorbildprojekt für andere Bezirke. 1969 wurde von SozialpädagogikstudentInnen ein Kindertheater gegründet, um dort mit den Arbeiterkindern Lebensbedingungen und Stadteilarbeit spielerisch zu thematisieren. Ein Kernprojekt war die Gründung der MVZ (Märkische-Viertel-Zeitung), einer Monatszeitschrift, die, von den LeserInnen selbst gemacht, Verbindungsglied, Kommunikationsebene, Machtfaktor und Instrument zur Interessenbildung in den Händen der BewohnerInnen sein sollte – und auch wirklich nach einiger Zeit von den MV-BewohnerInnen übernommen wurde. Zwischenzeitlich belief sich die Auflage auf 3.000 Exemplare. Desweiteren gründete sich der Arbeitskreis AK Mieten & Wohnen, der an einer Vernetzung der Berliner Stadtteilgruppen untereinander arbeitete und auch politische Schulungen durchführte. In diesem Rahmen formulierte sich übrigens erster Unmut seitens der ArbeiterInnen über die Inkompatibilität von Frühschichten und abendlichen Endlosdiskussionen.

Viele dieser Projekte sollten das Fehlen infrastruktureller Wohnfolgeeinrichtungen kompensieren, die BewohnerInnen aus ihrer vom Umzug ins Neubau-Viertel verursachten Isolierung herauslösen und zur gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen gegenüber Wohnungsbaugesellschaft und Bezirksamt anregen. Um auf die prekäre Situation im Hinblick auf die Entwicklung der Mieten aufmerksam zu machen, wurden aus den Projekten heraus auch etliche, teilweise überregional medienwirksame Aktionen entwickelt: Mietstreiks, Protestresolutionen, ein Autokorso mit 150 teilnehmenden Autos zum Berliner Rathaus, dann die sogenannte „Handtuchaktion“: 1972 hängten 3000 MieterInnen Laken und Tücher als Zeichen des Protests gegen die Mieterhöhungen aus ihren Fenstern.

Film als politischer Prozess

Nicht zuletzt wurden etliche Filmprojekte umgesetzt. Gerade was die Darstellung des MV anbetraf versuchten sie, mit selbstorganisierter Medienarbeit an der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit und neuen Formen der Produktion zu arbeiten. Die damals neuen 16-mm-Kameras und später Videotechnik ermöglichten es, informell in sozialen Situationen zu drehen. Als historische Bezugspunkte wurden Formen revolutionärer und alternativer Kulturproduktion der 20er Jahre wiederentdeckt: Texte der russischen Avantgarde, die revolutionäre Kinobewegung Dziga Vertovs mit der Idee der mobilen Kinoki, aber auch frühe Medienbewegungen wie die Arbeiter-Radio-Klubs und die Tradition der Arbeiter-Zeitungen. Auch die Theorien Sergej Tretjakows wurden prominent, der den Begriff des Operativen für Kunst und Medien etabliert hatte, worunter er „unmittelbare praktische Wirksamkeit“ als Vehikel zur Veränderung verstand. Operative, aktivierende Medienarbeit legt den Schwerpunkt auf den Produktionsaspekt gesellschaftlicher Kommunikation, auf praktische Auseinandersetzung, Eingreifen in politische Prozesse. Auch der Film wird politischer Prozess.

Einige gegen Ende 1968 wegen ihrer politischen Aktivitäten von der DFFB (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) relegierte Studenten gründeten im MV die Gruppe Basis-Film, um „Basisfilme“ mit und für die arbeitende Bevölkerung zu machen. Dazu gehörten die aktivistischen „Kinogramme“, kurze Impulsgeberfilme als Arbeitsgrundlage für die weitere politische Stadtteilarbeit. Vierwöchentlich wurden Gegenwochenschauen im MV veranstaltet, vor manchmal über 200 Zuschauern. Ein Kinogramm z.B. dokumentierte die Abwendung einer Zwangsräumung durch gemeinsames Handeln und die Anwesenheit von Kameras.

Es wurden aber auch nicht wenige „professionelle“ Dokumentar- und Spielfilme gedreht: Der lange Jammer (1973) von Max Willutzki z.B. ist ein konventionell und mit den klassischen Hierarchien produzierter dokumentarischer Spielfilm mit den BewohnerInnen als SchauspielerInnen, der weite mediale Verbreitung fand. Als Gegenbeispiel zu dieser Praxis können die Filme von Helga Reidemeister gesehen werden, die sich über lange Zeiträume mit den Leuten im Viertel auseinandergesetzt und die Filme gemeinsam mit ihnen erarbeitet hat. Die BewohnerInnen wurden zu den Subjekten ihrer Filme: Sie bekamen „wandernde Kameras“ in die Hand gedrückt, die untereinander weitergegeben werden sollten, und dokumentierten ihr Leben, ihre Alltagspolitiken selbst. Es ging darum, die eigene Subjektivierung zu politisieren, und um die Feststellung, dass nur aus dieser Perspektive politische Handlungsfähigkeit entstehen könne. In Von wegen Schicksal (1979) etwa dokumentiert die Arbeiterfrau Irene Rakowitz, die sich nicht mehr mit ihrer langjährigen Rolle als Ehefrau und Mutter abfinden wollte, auf intensive Weise ihren oft schmerzhaften Emanzipationsprozess.

„die nehm uns hier so auseinander“

Die zahlreichen Projekte im MV sind in einer beeindruckenden Publikationsmenge dokumentiert. Der Rowohlt-Sachbuch-Band von 1975 „Wohnste sozial haste die Qual“, herausgegeben von Helga Reidemeister und anderen QuartiersaktivistInnen und BewohnerInnen, veranschaulicht in einem recht schonungslosen selbstreflexiven Rückblick die Aktivitäten im MV und analysiert die Verhältnisse der verschiedenen AkteurInnen untereinander. Protokolle von Tonbandgesprächen, die im Zeitraum von 1968 bis 74 bei Redaktionssitzungen der MVZ geführt worden waren, dienen hier dem autonomen Versuch praktischer Geschichtsschreibung, anstatt diesen linken ForscherInnen, FilmerInnenoder PublizistInnen zu überlassen. Durch die Lebensberichte einiger Betroffener werden die Drehpunkte in den persönlichen Entwicklungsgeschichten plastisch für ein Verständnis politischer Radikalisierung. Und es werden die Differenzen zwischen Studierenden und BewohnerInnen hinsichtlich der unterschiedlichen Lebensumstände, Geld- und Zeitressourcen, aber auch der Artikulationshoheiten benannt. „Irene Rakowitz: Du, Scheiße, du, die Typen, die nehm uns hier so auseinander, die lern so prima von uns, und eines Tages könnse uns noch viel besser ausbeutn, weilse uns besser kenn. Eines Tages sind die so weit, da gehörn die auch zu der Klasse, die uns rauswirft...“

Literatur:

ARCH+ 33/1977. „Selbsthilfe im Wohnungsbau; Initiativen und Berater; Ästhetik und Alltag“

AUTORENGRUPPE ASP/MV: „Abenteuerspielplatz. Wo Verbieten verboten ist. Experiment und Erfahrung Berlin – Märkisches Viertel“. Reinbek 1973

AUTORENGRUPPE „märkische viertel zeitung“. Stadtteilzeitung, Dokumente und Analysen zur Stadtteilarbeit. Reinbek 1974

BETROFFENE DES MÄRKISCHEN VIERTELS: „Jetzt reden wir“. Wohnste sozial haste die Qual. Mühsamer Weg zur Solidarisierung. Reinbek 1975

AUTORENGRUPPE WESTBERLINER VOLKSTHEATERKOOPERATIVE: „Blumen und Märchen. Stadtteilarbeit mit Kindern im MV Berlin. Das Fest“ im Märkischen Viertel. Reinbek 1974

BECKER, HEIDEDE / EULER. ELLINOR / WALTZ, VIKTORIA: „Sanierung des Märkischen Viertels, ein Beitrag zur Strategie der Stadtteilarbeit“. Berlin ca. 1969

DRECHSLER, MICHAEL: „Selbstorganisierte Medienarbeit in basisdemokratischen Initiativen, die Filmprojekte im Märkischen Viertel Berlin“. Berlin: Verlag Klaus Guhl 1980

EBERT, HELME / PARIS, VOLKHARD:„Warum ist bei Schulzes Krach? Kindertheater Märkisches Viertel / Rollenspiel / Politisches Lernen, Teil 1 & 2“. Berlin 1976

HELLMICH, ACHIM / MEISSNER, HELGA / PUTHZ, GISELA: „Ein Kinderbuchprojekt in der Gemeinwesenarbeit. Sozialpädagogische Handlungsforschung im Märkischen Viertel von Berlin“. Weinheim 1974

HARTMUT, HORST / LOHDING, WOLFGANG /MEDIENKOOPERATIVE BERLIN E.V.: „Operatives Video“. Berlin 1977

PLENUM MÄRKISCHES VIERTEL in Zusammenarbeit mit dem WANNSEEHEIM FÜR JUGENDARBEIT: „Material zum Märkischen Viertel“. Berlin ca. 1969

Katja Reichard Buchhandlung Pro qm, kpD kleines postfordistisches Drama und Metrozones e.V. Center for Urban Affairs. Lebt in Berlin

  

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