Bini Adamczak: Gestern Morgen

Bini Adamczaks Reise in die Vergangenheit beginnt in einem Zug. Die Reisenden schweigen, während SoldatInnen des NKWD, des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, ihnen reichlich zu essen bringen. Gut genährt sollen die deutschen und österreichischen AntifaschistInnen auf Basis des Hitler-Stalin-Paktes an Nazi-Deutschland ausgeliefert werden.

Den fünf Staffeln von Six Feet Under ist dieses Buch gewidmet. Dies erscheint ungewöhnlich für das Vorhaben des Buches, die Verbrechen des Stalinismus, den Verrat an der Utopie des Kommunismus aus linker Sicht zu bearbeiten. Der Unterschied ist jedoch, dass die Fishers in Six Feet Under ein Bestattungsunternehmen betreiben, Bini Adamczak aber sich stattdessen daran macht, die Leichname auszugraben, derer nie gedacht werden konnte, weil sie zu einem großen Teil nie im Bewusstsein linker Geschichte existieren durften. Bini Adamczak unternimmt den Versuch einer Trauerarbeit, die sich rückwärts voranschreitend der Revolution nähert in der Hoffnung, den Schmerz nicht zu groß werden zu lassen, bis zu dem Punkt, da sie feststellt, dass sie scheitern muss. Denn der mehrfache Verrat an einer kommunistischen Begierde findet kein Ende am Anfang.

Bini Adamczaks Reise in die Vergangenheit beginnt in einem Zug. Die Reisenden schweigen, während SoldatInnen des NKWD, des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, ihnen reichlich zu essen bringen. Gut genährt sollen die deutschen und österreichischen AntifaschistInnen auf Basis des Hitler-Stalin-Paktes an Nazi-Deutschland ausgeliefert werden. Über 1000 solcher Deportationen sind dokumentiert, die ersten bereits 1935, die letzten 1941, kurz vor Kriegsbeginn. International versuchen KommunistInnen den Pakt mit Hitler noch mit Friedenspolitik zu erklären, aber das große Morden hat bereits in den eigenen Rängen begonnen. Stalin verbannt und exekutiert Generäle seiner Armee noch bevor irgendein Krieg begonnen hat.

Niemand ist einsamer als ein/e KommunistIn im Kommunismus, schreibt Adamczak, Verrat ist überall, weil es nur durch ihn ein Überleben gibt und selbst das stimmt schließlich nicht, auch die VerräterInnen werden von der Revolution gefressen. Bini Adamzcak beschreibt den großen Terror 1938/37, die Schauprozesse 1936, den Ausschluss der Opposition 1927, die Niederschlagung der Kronstadt 1921 – es ist ein Weg zurück und es gibt kein Weiterkommen. Die KommunistInnen sind sich selbst ihre größten FeindInnen, keine Konterrevolution hat sie so nachhaltig bekämpft.

Kritik schadet, so scheint es heute selbst nach 1989, dem Kommunismus, der schon lange untot als Gespenst durch die Geschichte taumelt. Gestern Morgen erlaubt jedoch nicht einmal das „Zurück zu Marx“ und damit Zurück zu einer Zukunft, die es einmal hätte geben können, sollen. Dieses Zurück im Sinne eines Neustarts vergällt das Buch zu Recht. Es gibt keinen zu denkenden Kommunismus, der nicht dieser Toten gedenkt, die für ihn gestorben wären und durch ihn niedergestreckt wurden. Antisemitische Verfolgungen und Ermordungen gehören zum System der Säuberungen. Zum System gehört auch die baldige Messianisierung der Partei, der Glaube an bessere Zeiten – Kritik wird verschoben und Lenin bekommt ein Mausoleum. Nur er wird den Kommunismus der UdSSR überleben als Untoter, der nicht begraben wird.

Bini Adamczaks Buch Gestern Morgen bedient sich wohlweislich einer vielleicht nicht erwarteten Sprache, einer Sprache der Trauerrede, ein Zeugnis der (namenlos) Gemordeten, der Archäologie einer Begierde, die einmal die MatrosInnen in Kronstadt angetrieben haben mag, für eine Zukunft, die verraten wurde. Aber vielleicht erfüllt sich das Sperber-Zitat, das sie an den Anfang stellt, am Ende doch: Dass dieses Unterfangen auf der letzten Seite des Buches nicht endet, sondern beginnt ... 

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