Ohne geschichtlichen Wert?

Über Strategien marginalisierter Geschichtsschreibung am Beispiel von QWIEN – Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte

„Ohne geschichtlichen Wert / Nicht für Staatsarchiv“. Kleine Zettel mit dieser Aufschrift kleben auf der inneren Umschlagseite von zahlreichen Akten, die im Zentrum QWIEN derzeit bearbeitet werden. Es handelt sich dabei um Strafakten, in denen die Verfolgung von Wienerinnen und Wienern wegen „Unzucht wider die Natur“ dokumentiert ist – tausende Menschen zwischen heimlichem Sex und seiner Denunziation, zwischen prekärer Existenz und ihrer gesellschaftlichen Ächtung bzw. strafrechtlichen Ahndung. In diesen Strafakten suchen wir nicht nur die Spuren individueller Schicksale, sondern vor allem auch Hinweise auf schwul/lesbische Subkulturen und Beziehungsnetze, auf homosexuelle Identitäten und Selbstzeugnisse, auf Strategien, wie Menschen ihr unerwünschtes Leben im erwünschten integrierten. Manchmal, aber selten findet sich in einem Strafakt auch Beweismaterial – Liebesbriefe, Erinnerungsfotos, Erotisches –, das die Polizei bei den Durchsuchungen der Wohnungen der wegen Unzucht Beschuldigten gefunden hat und das gegen sie verwendet wurde. Das ist unser Archiv der Homosexuellen des frühen 20. Jahrhunderts.

Bis 1971, also bis zur Abschaffung des § 129 Ib, der die „Unzucht wider die Natur“ mit schwerem Kerker bestrafte, achteten die meisten homosexuellen Männer und Frauen penibel darauf, dass kein Hinweis auf ihre Sexualität in ihren Wohnungen zu finden war. Zu groß war die Gefahr der Hausdurchsuchung, die private Habseligkeiten zu Beweismaterial machte. Und niemand von ihnen hätte wohl daran gedacht, dass sich jemals jemand dafür interessieren würde, ihre Geschichte zu schreiben.

Archive im Kontext marginalisierter Geschichtsschreibung

Was haben ein Archiv der Migration und ein Archiv für die schwul/lesbische Geschichte gemeinsam? Sie beschäftigen sich mit marginalisierter Geschichte, sie sammeln Bestände, die andere wegwerfen, sie stellen Fragen an diese Bestände, die die hegemonialen Geschichtsschreibungen nicht stellen. Wichtige Quellen liegen oft nicht in den allgemeinen Archiven, sondern vielmehr direkt bei Angehörigen verschiedener Communitys, denen die Bewahrung und Erforschung ihrer Geschichte oft selbst fremd ist, so sehr haben sie Ignoranz und Marginalisierung, und im Falle der Schwulen und Lesben auch den Verfolgungsalltag, internalisiert. Noch heute bekommt das Zentrum QWIEN seine wesentlichen Schenkungen zur anonymisierten Verwahrung.

Dass marginalisierte Gruppen sich selbst überhaupt als „geschichtswürdig“ begreifen, dass sie überhaupt eine Geschichte haben und Teil der Geschichte sind, ist innerhalb der Communitys bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Die Hervorbringung eines solchen Bewusstseins ist vielmehr oft Antrieb und Aufgabe einer kleinen Gruppe, die sich ebenfalls am Rand der jeweiligen Community befindet und von dort aus den Gedanken der Identitätsstiftung durch Geschichte erst verbreitet. Die Gründung eines Archivs bzw. einer Forschungsinstitution bedarf also der Bewusstseins- und Überzeugungsarbeit innerhalb einer Gruppe so sehr wie gegenüber der „externen“ Öffentlichkeit inklusive potenzieller Fördergeber_innen und Unterstützer_innen. Die Aufgabe, jene von der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der eigenen Pläne zu überzeugen, steht in der Gründungsphase einer Institution selbstredend ungleich mächtiger vor den Gründer_innen als die eigene Selbstverortung.

Die Entstehungsbedingungen des Zentrum QWIEN

Das Zentrum QWIEN hatte dabei 2007 zwei entscheidende Vorteile gegenüber vergleichbaren Projekten: Der erste, pragmatische Vorteil war, dass der Verein Ecce Homo (der sich später in QWIEN umbenannte) als langjähriger Veranstalter des Kultur- und Entertainment-Festivals „Wien ist andersrum“ bereits von der Gemeinde Wien subventioniert wurde. Deshalb mussten bei den Verhandlungen um die finanzielle Basis der Arbeit im Zentrum QWIEN keine neuen Budgetmittel seitens der Gemeinde beantragt werden, sondern es musste lediglich die Zustimmung zur Neukonzeption der Vereinsaktivitäten eingeholt werden. Der zweite Vorteil war das Bestehen einer beträchtlichen Sammlung an Büchern, Recherche- und Archivmaterialien, die sich einerseits aus den privaten Sammlungen der beiden QWIEN-Gründer Andreas Brunner und Hannes Sulzenbacher, andererseits aus den umfangreichen Recherchen, die für die Ausstellung geheimsache:leben. Lesben und Schwule im Wien des 20. Jahrhunderts (Neustifthalle Wien, 2005) durchgeführt wurden, zusammensetzten. Die Ausstellung, die erstmals das Festival Wien ist andersrum ablöste, kann als Grundstein des Zentrum QWIEN angesehen werden.

In der Planung von QWIEN als Forschungsinstitution war es uns besonders wichtig, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Menschen, die man heute „lesbisch“, „schwul“, „transgender“ bzw. „queer“ nennt, auch unmittelbar „unter die Leute zu bringen“ und nicht nur im akademischen Zusammenhang zu publizieren. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm sollte dafür das Mittel werden, ein Plan, der letztlich Budgetnöten zum Opfer fiel. Eine wesentliche Säule der Popularisierung hingegen sind die Stadtführungen und Stadtspaziergänge geblieben, die thematisch vom „schwul/lesbischen Leben der Zwischenkriegszeit“ bis zur Verfolgung im Nationalsozialismus und der jüngeren schwul/lesbischen Geschichte reichen.

Queering History als das Anders-Sehen historischer Umstände

Im Selbstverständnis als Institution der Erforschung und Vermittlung marginalisierter Geschichte sehen wir es als unsere Aufgabe, überall die „kleine“ in die „große“ Geschichte einzuschreiben, die Lücken der Ignoranz und Ablehnung zu füllen. Queering Prinz Eugen hieß eine unserer Führungen in einer Ausstellung des Belvedere (Unteres Belvedere, 2010), die außer fragwürdiger Heldenverehrung nichts anderes bot als die einseitige und unkritische Darstellung eines politischen Konfliktes zweier Weltreiche als Glaubenskrieg. Die QWIEN-Führungen erzählten entlang der ausgestellten Objekte eine andere Geschichte des Feldherren und benannten die gröbsten Auslassungen vor Ort.

Und damit ist nach wie vor ein wesentliches Merkmal unserer Tätigkeit beschrieben: Queering History, das Einschreiben und Umdeuten, das Anders-Sehen historischer Umstände, die die bestehende Geschichtsschreibung aufgrund ihrer Heteronormativität nicht sehen konnte oder wollte. Im Zentrum der Forschungen von QWIEN stehen also alle Spuren „mannmännlichen“ und „weibweiblichen“ Begehrens, Zeugnisse von Personen, deren Lebensweisen und Identitäten so gut wie nichts mit heutigen „Lesben“ oder „Schwulen“ zu tun haben. Und doch gehören sie „zu uns“, zur Geschichte der Homosexualität (die ihren Namen auch erst 1869 von einem geborenen Wiener bekam). Heute kann lediglich versucht werden, auch ihrer Geschichte und ihren Erfahrungen gerecht zu werden und sie nicht mit heutiger Terminologie erneut in oktroyierte Schemata zu pressen.

Von den Rändern in die Mitte der Geschichtsschreibung

Die wesentlichste Voraussetzung dafür, dass es das Zentrum QWIEN heute gibt, war jedoch die rasante Veränderung des gesellschaftlichen Klimas gegenüber Lesben und Schwulen in unseren Breiten, der Aufstieg aus dem sozialen Abseits in die Mitte der Gesellschaft – dahin, dass heute die Stellung der Homosexuellen in einem Land als Lackmustest für dessen politische Reife gesehen wird. Nur diese Veränderung kann erklären, dass die Gemeinde Wien heute eine solche Forschungsinstitution finanziert.

Die Geschichte der Homosexualität wurde damit auch in die Mitte der Geschichtsschreibung geholt, ein Faktum, das nur auf Teile der Geschichte der Migration bzw. der bestehenden Migrant_innen-Communitys zutrifft, zu sehr bestimmt die politische und gesellschaftliche Einstellung gegenüber den jeweiligen Gruppen über ihre „Geschichtswürdigkeit“. Und auch die Diskussion um Archivierung und Geschichtsschreibung von Migration ist nicht davor gefeit, die Definition von Migration einzuschränken und vor allem um die Erfahrungen von gesellschaftlich diskriminierten Migrant_innen – „Gastarbeiter_innen“, Flüchtlingen oder „Armutsmigrant_innen“ – zu kreisen, denen man nicht nur zu einer Geschichte, sondern auch zu sozialen Fortschritten verhelfen will. Doch dies ist wiederum ein Verfahren der Exklusion, das letztlich die Marginalisierung fortschreibt und die Erkenntnis verhindert, dass gerade in eine Großstadt fast jede_r irgendwann zugewandert ist und dadurch ganz Wien Migrationshintergrund hat. Oder gibt es bereits Ansätze, den Aufstieg von Prinz Eugen, der als Flüchtling in Damenkleidung nach Österreich kam, als Migrantenkarriere zu beschreiben?

www.qwien.at

Hannes Sulzenbacher arbeitet als Historiker im Zentrum QWIEN sowie als freier Ausstellungskurator.

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