Das ROSTFEST: Ein postindustrielles Festival
<p>Die Stadt Eisenerz mit dem Erzberg, ehemals als Brotlaib der Steiermark bezeichnet, und die Eisenstraße werden in unsererheutigen Zeit als „Systemfehler“ angesehen. In einer Welt, in der Wachstum als die maßgebliche Größe zur Bestimmung der Daseinsberechtigung angesehen wird, ist eine mit Strukturproblemen sondergleichen behaftete, ehemalige Bergbauregion im globalen Kontext wenig bis gar nicht relevant. Die Stadt Eisenerz ist in den letzten 50 Jahren mit einem
Die Stadt Eisenerz mit dem Erzberg, ehemals als Brotlaib der Steiermark bezeichnet, und die Eisenstraße werden in unsererheutigen Zeit als „Systemfehler“ angesehen. In einer Welt, in der Wachstum als die maßgebliche Größe zur Bestimmung der Daseinsberechtigung angesehen wird, ist eine mit Strukturproblemen sondergleichen behaftete, ehemalige Bergbauregion im globalen Kontext wenig bis gar nicht relevant. Die Stadt Eisenerz ist in den letzten 50 Jahren mit einem Rückgang von rund 13.000 auf rund 4.200 EinwohnerInnen auf ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung „geschrumpft“. Im Jahr 2004 stand mit rund 700 Leerständen fast ein Drittel aller Wohnungen leer. Inspiriert vom „Stadtumbau Ost“ und in Kooperation mit dem Programm „Shrinking Cities“ der bundesdeutschen Kulturstiftung startete vor über zehn Jahren der Prozess „re-design Eisenerz“: Ein auf 15 Jahre ausgelegter umfassender kommunaler Veränderungsprozess. Wesentliche Pfeiler der Vorgehensweise waren die politische Akzeptanz der demographischen Veränderung, die Aufwertung des historischen Ortszentrums mit Umzügen in zentrumsnahe sanierte Wohnungen und die zielgerichtete Vernetzung von Aktivitäten und Projektvorhaben. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat ein deutscher Soziologe 2006 noch empfohlen, die Stadt doch „vom Netz zu nehmen“, die Lichter abzudrehen, wenn auch die Letzten weggezogen sind. Und auch auf Ebene politischer EntscheidungsträgerInnen wird in Zeiten schrumpfender Budgets die Sinnhaftigkeit hinterfragt, öffentliche Mittel in eine totgesagte Region zu stecken.
Im Jahr 2009 wurde im Rahmen des Projekts „re-design Eisenerz“ ein Kulturentwicklungskonzept erarbeitet. Ziel dieses Konzeptes war es, den Veränderungsprozess um den wichtigen Bereich der Kulturarbeit zu ergänzen, lokale AkteurInnen zu stärken und mit Kunstschaffenden überregional zu vernetzen. Daraus entwickelte sich 2010 das Programm „eisenerZ*ART“, und im Jahr 2012 wurde in Kooperation das ROSTFEST als eigenständiges Format gestartet. Es basiert auf der Annahme, dass leerstehende Gebäude eine (wachsende) Ressource darstellen und Eisenerz Pionier in der Aushandlung einer Postwachstumgsgesellschaft sein kann: Europa ist seit 2008 mit einer umfassenden Krise konfrontiert, und in Österreich sind die Arbeitslosenzahlen aktuell auf einem für die zweite Republik historischen Niveau. Diese Umstände wurden in der Region rund um den Erzberg bereits vor 20 Jahren zur Wirklichkeit. Nach einer langen Phase der Realitätsverweigerung hat an der Eisenstraße in den letzten Jahren ein Prozess der Akzeptanz und des Umdenkens eingesetzt. Neue Strategien werden erprobt und kulturelles sowie soziales Kapital als wesentliche Faktoren einer Veränderung angesehen. Das ROSTFEST will dafür einen Experimentierraum schaffen.
In einem Beitrag zur gesellschaftlichen Vielfalt erörtert Luis Fidlschuster die Bedeutung von „Diversität“ für die Entwicklung des ländlichen Raums. Ausgehend von dem Befund, dass die Bindung der Menschen an ländliche Regionen auch davon abhängt, inwieweit es gelingt, verschiedene Bevölkerungs- und Altersgruppen zu integrieren und sozialen Ausschluss zu verhindern, fordert er „soziale Spielräume“, in denen BürgerInnen ihre Talente und Interessen entfalten und in die Entwicklung einbringen können. Solche Spielräume entstehen durch die Wertschätzung, Förderung und Nutzung der Vielfalt in einer Region. In diesem Kontext warnt Fidlschuster von einer Überbetonung der regionalen Identität, die (zu) stark auf Traditionen und regionalen Besonderheiten basiert und regionsunabhängige, zeitgenössische (globale) Werte sowie in Regionalentwicklungsprojekten unterrepräsentierte Gruppen (Jugendliche, MigrantInnen etc.) weitgehend ausblendet.
Mit dem ROSTFEST konnten wir über die letzten vier Jahre einen Handlungsspielraum schaffen, in dem unterschiedliche Generationen und Milieus aufeinandertreffen und in Austausch treten. Innerhalb dieses Rahmens sind neue Formen der Beteiligung entstanden: Normalerweise dominieren Flip-Charts und Diskussionsformate herkömmliche Regionalentwicklungsprozesse, die damit auch eine Zugangsbarriere für einzelne soziale Milieus schaffen. Durch die niederschwellige Vernetzung beim ROSTFEST können ganz unterschiedliche Menschen erreicht werden. Im Sinne des Prinzips „Hands On“ gehen wir davon aus, dass vieles bereits diskutiert und analysiert wurde. Vielmehr braucht es die konkreten Aktivitäten und Umsetzungen vor Ort, um die Veränderung gemeinsam zu gestalten. Beim monatlich in Eisenerz stattfindenden ROSTFEST-Stammtisch werden diese Aktivitäten besprochen und die Möglichkeiten der Umsetzung im konkreten sozialen Austausch erörtert. Dadurch werden unterschiedliche Menschen mit ihren jeweils gegebenen Ressourcen angesprochen und so ein gleichberechtigter Teil des Prozesses.
Das Festival selbst zeichnet sich durch die einzigartige Mischung von Kunst, Musik, Sport und Action, Inhalte für alle Generationen sowie Diskurse zu unterschiedlichen relevanten Themen bei freiem Eintritt aus. Als verbindende Klammer steht Kunst und Kultur im Mittelpunkt des Formats. Es werden unterschiedlichste Genres programmiert und Beziehungen dazwischen hergestellt. So trifft beispielsweise Heavy Metal auf Volksmusik, bildende Kunst auf „performative arts“, StraßenkünstlerInnen arbeiten mit etablierten Kulturschaffenden, und lokales Handwerk wird in unterschiedliche Methoden künstlerischen Schaffens integriert. So entstehen neuartige Inhalte, die unterschiedliche Menschen und Bevölkerungsgruppen ansprechen und zum Reflektieren motivieren: KünstlerInnenkollektive arbeiteten in und rund um leerstehende Gebäude, beleben Plätze, zeigen auf, provozieren, denken über Vergangenes nach, behandeln die Zukunft, verändern Perspektiven und Fragen nach Handlungsstrategien. Performances schaffen Spielräume, die zum Nachdenken anregen, neue Perspektiven aufzeigen oder einfach zum Mitmachen inspirieren. Im Jahr 2015 fanden an drei Tagen über hundert Programmpunkte an unterschiedlichen Locations statt, und das Festival wurde von rund 10.000 Menschen besucht.
Zu unserer eigenen Verwunderung ist das Format URBAN-CAMPING von Beginn an der „Publikumsschlager“ beim ROSTFEST. Im Jahr 2015 wurden rund 80 leerstehende Wohnungen in der Siedlung Münichtal von über 800 FestivalbesucherInnen bewohnt. Die Siedlung und deren Wohnungen sind dann in kürzester Zeit mit vielen jungen Menschen, Schlafsäcken, Isomatten, Gaskochern, Taschenlampen, Musik(instrumenten) etc. wieder bevölkert. Für die CamperInnen (meist junge Menschen, aber auch Familien) ist dies ein völlig neues Urlaubsgefühl. Vor allem aber auch die verbleibenden BewohnerInnen in der Siedlung erfreuten sich über die neue Nachbarschaft. Auf Grund des großen Erfolgs stellt sich die Frage, ob mit den Erfahrungen aus dem URBAN-CAMPING ein neues Angebot für bestimmte Zielgruppen im Tourismusbereich entwickelt werden kann: Gerade KlettersportlerInnen, BergsteigerInnen, TourengeherInnen und KanufahrerInnen sind interessiert an alternativen Tourismuskonzepten. Die Eisenstraße mit ihren Attraktivitäten im Bereich Extrem- und Alpinsport bietet ein perfektes Umfeld dafür. Durch die Beschäftigung mit Urban-Camping kann ein neues System entstehen, in dem leerstehende Gebäude mittels einfachen und kostengünstigen Aufwertungsmaßnahmen zu attraktiven Angeboten für diese Zielgruppe werden. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Nachhaltigkeit in der regionalen Entwicklung aus Experimenten entstehen kann. Eine Herausforderung dabei ist der Umgang mit bestehenden Gesetzen und Normen.
Wesentlich erscheint dabei: Statt einer Selbstgefälligkeit ist für die Entwicklung des ländlichen Raums ein Selbstbewusstsein und die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem gefragt. Neben der Brauchtumspflege gilt es, die Lust am Experiment zu entwickeln. Kunst darf in kommunalen oder regionalen Entwicklungsprozessen nicht zur Behübschung eingesetzt werden. Kunst kann auch verstören, Wunden aufreißen, Angst machen und kritisieren. Kunst kann aber auch verbinden, Sinn produzieren, glücklich machen und Ideen generieren. Wie Erfahrungen zeigen, besitzen Kunst und Kultur in Prozessen der Veränderung damit eine besondere Bedeutung. Dafür braucht es Mut und ein Bekenntnis zum Neuen seitens der politischen EntscheidungsträgerInnen in der Region. Die Bevölkerung muss direkt angesprochen und an der kulturellen Entwicklung beteiligt werden.
Kulturelle Entwicklung an der Schnittstelle zwischen künstlerischen Aktivitäten und sozialen Strukturen braucht im wesentlichen Kontinuität: Es ist wichtig, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, um wirksame Experimente zu ermöglichen. Dieses Vertrauen kann nur durch langjährige Arbeit vor Ort entstehen. Zahlreiche regionale Kulturinitiativen im ländlichen Raum Österreichs leisten dahingehend beispielhafte Arbeit. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Transformation und Umbrüche ist es wesentlich, diese Aktivitäten zu stärken. Das ROSTFEST selbst basiert auf umfassendem ehrenamtlichen Engagement. Auf Dauer wird es aber nicht möglich sein, so weiterzuarbeiten. Deswegen erscheint es uns als wesentlich, Kulturbudgets in diesen Zeiten zu erhöhen, um dabei das Stadt-Land-Gefälle zu reduzieren. In Zukunft wollen wir ein Netzwerk ähnlicher Initiativen aufbauen, um diese Forderung gemeinsam stärker artikulieren zu können.
Rainer Rosegger ist Soziologe, mit der Agentur SCAN im Bereich kommunaler und regionaler Veränderungs-prozesse tätig und unterrichtet an der Karl Franzens-Universität und der TU Graz. Engagiert in gesellschaft-lichen Projekten in Österreich und Afrika. Seit 2012 gemeinsam mit Elisa Rosegger-Purkrabek und Franz Lammer für das ROSTFEST verantwortlich.