Nicht daheim und doch Zuhause
Es gibt Räume, die das Potenzial haben, dass unterschiedliche Menschen gern zusammenkommen und neue Perspektiven auf das Gewohnte ermöglichen – Anspruch viele Kulturräume und Dritter Orte. Was es mit dem Konzept der "Dritten Orte" auf sich hat und warum es mehr davon insbesondere in ländlichen Räumen braucht, erläutert Judith Lutz.
Es gibt Räume, die das Potenzial haben, dass unterschiedliche Menschen gern zusammenkommen und neue Perspektiven auf das Gewohnte ermöglichen. Wir nennen sie auch Begegnungs- und Experimentierräume. Oder Dritte Orte. Es sind Orte der Gemeinschaft und des miteinander Ausprobierens. Früher sind Begegnungen oft ganz natürlich entstanden – eine etablierte Wirtshauskultur, Vereinslokale, der öffentliche Platz bei Dorffesten oder nach dem Kirchengang. Stattdessen haben wir es immer mehr mit Einsamkeit zu tun. Laut der Diakonie Österreich klagen rund zwanzig Prozent über soziale Isolation und Einsamkeit.[1] Wirtshaussterben, insbesondere in ländlichen Regionen, ist seit Jahren ein Thema. Gab es 1978 in Österreich noch etwa 15.000 Gasthäuser, waren es 2016 nur noch 8.500 – und es werden immer weniger.[2] Kurzum: Dritte Orte sind vielleicht ein Rettungsanker für das dringend notwendige Aufpeppen unseres Sozialkapitals.
Was macht Dritte Orte aus?
Warum brauchen wir überhaupt diesen Begriff?
Dritte Orte sind ein Treffpunkt außerhalb der Familie und der Arbeit. Der US-amerikanische Soziologe Ray Oldenburg veröffentlichte schon 1989 das Werk „The Great Good Place“[3], worin er drei Orte definierte: Erster Ort (Ort der Familie), Zweiter Ort (Ort der Arbeit) und Dritter Ort (Ort des Ausgleiches von beiden). Diese Orte können sich im öffentlichen Raum der Stadt/des Landes oder in halböffentlichen Räumen, wie etwa in Kulturstätten oder Gastronomieeinrichtungen, befinden. Dabei soll es ein neutraler Ort sein, an dem sich Menschen eine Pause von Privatem und Beruflichem gönnen. Es ist ein Ort, der auch ohne inhaltliches Programm ganz simpel ausgedrückt als „ein Raum für Begegnung“ dient.
Wie sollen Dritte Orte aussehen?
Laut Oldenburg weist ein Dritter Ort acht Charakteristika auf:
- Neutral: Alle Menschen können kommen und gehen, wann immer sie wollen. Regelmäßige Besuche sind nicht erforderlich.
- Hierarchielos: Sie sind für alle Menschen offen. Es gibt keine Statusunterschiede.
- Gespräche und Austausch: Dies sind die wichtigsten Aktivitäten.
- Niederschwellig und leicht zugänglich: Es braucht keine Reservierung.
- Stammbesucher*innen: Neuankömmlinge werden nicht automatisch, aber meistens einfach akzeptiert.
- Einfache Ausstattung: Die Optik des Ortes spielt eine untergeordnete Rolle.
- Gute Stimmung: Fröhlichkeit und Ausgelassenheit stehen im Vordergrund.
- Zweite Heimat: Im Hinblick auf Unterstützung und Wohlbefinden gleicht der Dritte Ort einer zweiten Heimat.
Ein Konzept, das sehr offen und breit gefasst ist. Beispiele Dritter Orte laut Oldenburg sind etwa Kaffeehäuser, Biergärten, Frisöre, Buchläden und Bars. Alles Orte mit guter Gesellschaft und ausgelassener Stimmung. Er nennt zudem auch Hauptstraßen als Dritte Orte. Einfach Orte der (oft zufälligen) Begegnung. Das informelle Zusammentreffen mit anderen Menschen soll der eigenen Gesundheit sowie auch der Gesundheit der Gesellschaft förderlich sein, so Oldenburgs Definition. Des weiteren sind sie das Fundament einer funktionierenden Demokratie und sozialer Gleichstellung.
Vogelfreiraum © Martin Schachenhofer
Räume der Begegnungen, Räume des Dazwischen, informelle öffentliche Orte, Third Places und öffentliches Wohnzimmer für alle – so können Dritte Orte auch benannt werden. Weiters werden Dritte Orte zudem als ein soziologisches und urbanes Konzept[4] beschrieben, das die wichtige Rolle von halböffentlichen sowie halbprivaten Räumen im Hinblick auf die Förderung von sozialen Vereinen, Gemeinschaftsidentität sowie freiwilligem Engagement betont. Diese Orte bieten Raum für Entfaltung, vor allem, da sie für alle Gesellschaftsgruppen frei zugänglich sind und keine inhaltliche Aufgabe im Vordergrund steht. Es geht ums Zusammenkommen. Vor allem aber treffen Dritte Orte auch sehr gekonnt den heutigen Zeitgeist: Ein Dritter Ort bietet die Möglichkeit des temporären freiwilligen Engagements. Es gibt keine Pflicht oder das „Muss“, sich für einen gewissen Zeitraum für etwas zu engagieren. Es herrschen andere Rahmenbedingungen. Gerade für die heutige Gesellschaft, die ihre Freizeit viel spontaner und freier gestalten möchte, scheinen Dritte Orte eine andere Relevanz zu bekommen.
Eine weitere Annäherung an das Konzept Dritte Orte bietet die Unterscheidung in traditionelle Dritte Orte und die Bildung einer neuen Kategorie Dritter Orte: Nennen wir sie konsumfreie Dritte Orte. Diese Annäherung sieht über den Tellerrand der klassischen Definition nach Oldenburg, wie etwa Cafés und Bars, hinaus und versteht Dritte Orte als einen Ort ohne Konsumzwang. Aus diesem Grund ist Oldenburgs Konzept immer wieder in Kritik geraten. Denn Konsumzwang schließt wiederum nur gewisse gesellschaftliche Klassen mit ein, was den Ort in Folge nicht für alle Gesellschaftsschichten frei zugänglich macht.
Auch können Dritte Orte, je nachdem ob am Land oder in der Stadt, ganz anders ausgestaltet sein. Während es in Wien das Museumsquartier mit den „Enzis“ zum Verweilen und Zusammenkommen ist, könnte ein Dritter Ort am Land durchaus ein (leerstehender) Bauernhof sein. So klischeehaft das auch klingen mag. Dritte Orte sind nicht nur hippe Orte in großen Städten, sie sind genauso wichtiges Bindeglied zwischen Gemeinschaften im ländlichen Raum, wie in etwa das gute alte Dorfcafé. Denn genau in ländlichen Gebieten liegt großes Potential für regionale Innovation. Gerade hier ist die Bereitschaft der Menschen für freiwilliges Engagement und gegenseitigen Austausch durch die oftmals weite räumliche Distanz voneinander groß.
Welche Wirkungen, welchen Nutzen haben Dritte Orte?
Orte können sich aus unterschiedlichem Bedarf entwickeln, vielfältigen Nutzen stiften und Funktionen erfüllen:
- Regionalentwicklung: (monofunktionale) Nicht-Orte in Gemeinden in multifunktionale, belebte Orte transformieren; regionalen Zusammenhalt stärken, Sozialkapital fördern, Schlüsselfaktor bei Stadtentwicklung
- Soziale Entwicklungen: Segregation und Einsamkeit entgegenwirken, Konflikte frühzeitig erkennen, Durchmischung von Gruppen unterstützen
- Engagement-Förderung: neue Formen des Engagements ermöglichen, Popup-Engagement, attraktive Angebote für Rückkehrer*innen
- Arbeitswelt: Facharbeiter*innenmangel entgegenwirken, Innovationen jungen Menschen zugänglich machen, neue Formen der Arbeit und Zusammenarbeit stimulieren, Co-Working-Spaces, Anschlussfähigkeit für zugezogene Arbeitskräfte bieten
- Bildung, Know-how und Innovation: Neue Bildungsformate entwickeln, Räume für Themen bieten, Themen breit streuen und offenen Zugang dazu schaffen, Praktiker*innentreffen, niederschwellige Experimentierräume für neue Ideen und Methoden
- Identifikation, urbaner Touch, gesellschaftspolitisches und räumliches Bewusstsein: Potenzial von Urbanität erschließen, individuelle Zugänge ermöglichen, Labore für Zukunft
Wer kennt nicht den Reiz eines leeren Raumes, der eine lange Geschichte hat und jetzt freigeräumt und neu genutzt werden möchte? Vorsichtig geht man über die Schwelle und die Fantasie beginnt zu blühen. Aber bis solche Räume nachhaltige Orte werden, ist es ein langer und manchmal verzwickter Weg. Der Reiz und Ansporn sind die Verwirklichung eigener Träume. Die Wirkung kann man an dem ermessen, was sie beim Einzelnen und für die Gesellschaft/das Gemeinwohl an Bereicherung hinterlassen. Es braucht etwas Vertrauen und eine Portion Mut, sich auf ergebnisoffene Prozesse einzulassen. Aber damit kann etwas Wundervolles entstehen, das der Gemeinschaft guttut. Im Großen wie im Kleinen.
Judith Lutz ist für das Büro für
Freiwilliges Engagement und Beteiligung (Amt der Vorarlberger Landesregierung) tätig. Sie berät, begleitet und kommuniziert Beteiligungsprozesse auf Landes- und Gemeindeebene.
1 Tag der Nachbarschaft: Diakonie fordert Maßnahmenpaket gegen Einsamkeit, Presseaussendung der Diakonie Öster- reich, 23. 05. 2023
2 Wirtshaussterben: Wenn die Jungen nicht mehr wollen, Beitrag von Guten Morgen Österreich, online abrufbar unter: https://tv.orf.at/gutenmorgen/stories/2888924/
3 Oldenburg, Ray (1989). The great good place – cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of the community. https://archive.org/ details/greatgoodplaceca00olde_2/page/n5/mode/2up
4 Zukunftsinstitut: Third Place Living: Die Stadt als Wohnlandschaft, www.zukunftsinstitut.de; Stadtmarketing Austria: Wo ist der Dritte Ort geblieben?, www.stadtmarketing.eu
Dieser Artikel ist erstmals in der Ausgabe 1.23 „LAND KULTUR ARBEIT“ des Magazins der IG Kultur Österreich – Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter office@igkultur.at (5 €) bestellt werden.
Coverbild: Burgruine Blumenegg © Hanno Mackowitz