Gevierteilte Gelehrsamkeiten

Fast erscheint es so, als ob die Gestaltung des Covers den Inhalt des Buches antizipierte: Auf dem Umschlag des von Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein herausgegebenen Sammelbandes „Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums“ befindet sich ein merkwürdiges Hybrid. Betrachtet mensch dieses analog der Leserichtung europäischer Comics, dann lässt das Coverbild die BetrachterIn zur ZeugIn einer eigentümlichen Metamorphose werden.

Fast erscheint es so, als ob die Gestaltung des Covers den Inhalt des Buches antizipierte: Auf dem Umschlag des von Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein herausgegebenen Sammelbandes „Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums“ befindet sich ein merkwürdiges Hybrid. Betrachtet mensch dieses analog der Leserichtung europäischer Comics, dann lässt das Coverbild die BetrachterIn zur ZeugIn einer eigentümlichen Metamorphose werden: Zum hypertrophen Auge eines Manga-Mädchens gesellt sich das Gesichtsviertel eines Bären, während in der nächsten Zeile des Bildes der mit einer Zigarre bestückte Mundwinkel eines Alltagszynikers aus einem U-Comic in Schwarz-Weiß-Schraffur die nebenstehende kantige Kinnpartie eines Superhelden mit Umhang kontrastiert. Das aus vier Teilen zusammengesetzte Gesicht suggeriert keine imaginäre Ganzheit, seine Oberfläche legt stattdessen nahe, im Angesicht des Inkommensurablen nach Ähnlichkeiten zu suchen. Beschränkt sich ein möglicher Ein-Blick in das Kaleidoskop gegenwärtiger Comicforschungen dennoch auf diese vier collagierten Ausschnitte? Warum ist es ausgerechnet das Viertel eines Manga-Mädchens, das den in diesem Band unterschlagenen Anteil von Frauen an gegenwärtigen Comic-Produktionen und -Rezeptionen repräsentieren soll?

Mit ihrem Gegenstand verfahren die AutorInnen des Bandes nicht bedeutend anders als auf dem Umschlag. Trotz ihrer Bedenken gegenüber etwaigen „normativen Definitionen“ (S. 13) verweisen die HerausgeberInnen im Vorwort auf vier kanonisierte Ansätze, die sich „für unsere Vorstellung vom Comic als populärkulturellem Medium als besonders einflussreich erwiesen haben“ (ebd.). Dabei handelt es sich – ganz so, als ob der Ausschluss darin nicht bereits begründet läge – um die einschlägig bekannten wissenschaftlichen Techniken der Genealogie, der Formalästhetik, der Sozialgeschichte und der Einzelanalyse, die zumeist deduktiv auf den medialen Gegenstand angewandt werden. Die Legitimität der adaptierten Ansätze für das Feld der Comicforschung begründen die HerausgeberInnen mit einem „Sinneswandel in der Literaturwissenschaft“ (S. 8) in Richtung Kulturwissenschaften, der zu einer „interdisziplinären Vernetzung“ (ebd.) führen solle. Hätte führen sollen: Die angestrebte Neuorientierung scheitert nämlich an jener durch die Kompilation der Beiträge vorgenommenen Begrenzung der Praktiken, Gebrauchs- und Betrachtungsweisen, infolge derer weite Teile des Comic-Feldes im Bereich des offscreen – oder besser: off the panel – verschwinden. Diese Ausgrenzung korrespondiert auf wunderbare Weise mit jenen viereckigen Umrahmungen, die Martin Langbein und Klaus Theweleit (1981) der Schutzfunktion gegenüber von Außen in die diegetische Welt des Comics eindringenden und damit als „fremd“ wahrgenommenen Wissensbeständen bezichtigt haben. „Woher“, so fragen sie, „kommt dieser Zwang, der bei den meisten Kindern irgendwann eintritt, auf dem Papier alles deutlich sichtbar umranden zu müssen? (...) This land is my land? Diese Figur gehört mir? Eintritt strengstens verboten?“

Begriffliche Fetische, wiederbelebte AutorInnen ...
Eng gesetzte Rahmungen können Horizonte auch beschränken: Die Beiträge der an der Abteilung für Nordamerika-Studien der Universität Göttingen durchgeführten Ringvorlesung „Bild/Schrift: Intermediales Erzählen im Comic“, die ihre nunmehrige Buchform einem „Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften“ (S. 24) verdankt, bemühen sich darum, altbewährte theoretische Rahmen auf einen neuen Forschungsgegenstand zu applizieren. Die Rekontextualisierung, geschweige denn die Erklärung von Comic-Produktionen aus der ökonomischen und sozialen Situiertheit ihrer ProduzentInnen und KonsumentInnen, erfolgt im Rahmen dieses Bandes indes selten bis gar nicht. So bedient etwa Stephan Packard in seiner „psychosemiotischen Medienanalyse des Cartoons“ das Vokabular der strukturalen Psychoanalyse Lacanscher Prägung, um seine Annahme zu bestätigen, dass der Comic seine RezipientInnen infolge der ihm immanenten Strukturierung nicht mit maternaler Fülle, sondern mit einem zerbrochenen Spiegel konfrontiert: Infolge des comicinternen Framings von Partialobjekten muss die von dem/r LeserIn unbewusst angestrebte narzisstische Identifikation mit dem medialen Gegenüber – „de[m] so genannten ,Groß-Anderen‘, typischerweise die Mutter“ (S. 40) – misslingen, was – so Packard einige Absätze weiter – „gerade dadurch die Konstitution eines Klein-Anderen als eines intersubjektiven Gegenübers provoziert“ (S. 48).

Zwar mag die von Packard zu Beginn seines Textes strapazierte Unterscheidung von Ikon und Index ein probates methodisches Werkzeug für die Bestimmung des Referenzobjekts eines Comic-Bildes sein; die kleinen oder etwas größeren Anderen, die Packard herbeizitiert, um die unvernähte Subjektgenese des/r Comic-LeserIn analog der aus der psychoanalytischen Filmtheorie übernommenen Figur der Suture ontologisch zu erklären, leistet der Ausblendung der Produktions- und Rezeptionskontexte von Comics indes beträchtlich Vorschub. Die Variable eines ahistorisch Signifikanten ersetzt die Beredtheit einer zur Zeichen-Leiche verkommenen empirischen Comic-LeserIn, deren Existenz gar nicht erst bemüht werden muss. Wo die selbst von den ApologetInnen (post-)strukturalistischer Theoriebildung zuletzt beschworene „Lust der LeserInnen“ (Barthes) geblieben sein soll, fragt mensch sich auch beim Lesen von Daniel Steins Beitrag „Was ist ein Comic-Autor?“, der zum Zweck der Analyse der Selbstpräsentation von Comic-AutorInnen nicht ohne die schizoide Doppelung von empirischer versus impliziter AutorInnenfigur auskommt und das analysierte Comic-Subjekt folglich in R. Crumb und Robert Crumb unterteilt. Mit nicht mehr als den lakonischen Worten „Ich bin Künstler“ und „Fickt euch Selber!“ hätte Crumb (1975) diesen bemühten Versuch quittiert.

... und das Fuhrwerken in sozialen Feldern
Sozialhistorischer orientiert ist hingegen der Beitrag von Frank Kelleter und Daniel Stein, der das Aufkommen des Comic-Zeitungsstrips im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die diaspora-spezifischen Entfremdungserfahrungen zurückführt, die den Alltag eines infolge kapitalistischer Akkumulationsbewegungen entwurzelten urbanen Proletariats prägten. Aufgrund der anfänglich nur rudimentär vorhandenen Sprachkenntnisse fanden MigrantInnen in stark bildaffinen und mit nur wenigen verbalen Slang-Ausdrücken durchsetzten Zeitungscomics ein probates Artikulationsmittel. Auch Thomas Becker und Andreas Platthaus führen die Kategorie der Zeit in ihre Texte ein: Während Platthaus auf eindrucksvolle Weise seine Aufmerksamkeit einer kleinen, zwischen zwei Panels angebrachten Notiz in Frank Kings Gasoline Alley zuwendet, die eine Veränderung im intradiegetischen Echtzeit-Erzählen dieses Zeitungs-Strips einleitete, zeichnet Thomas Becker in seinem Text mit dem Titel „Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen“ die historischen Konstitutionsbedingungen des autobiografischen Comics, den durch die Bezeichnung Grafic Novel betriebenen Etiketten-Schwindel sowie die Produktionsbedingungen und Distinktionsbestrebungen im Feld der Comic- ProduzentInnen nach. Mit Verweis auf die Geburt der autobiografisierenden UComix aus dem Geist der amerikanischen Underground-Bewegung, die zur Mitte der 1960er Jahre mit Jam-Sessions und ebenso spontan veranstalteten Zusammentreffen von ZeichnerInnen eine Szene formten, arbeitet Becker die Bedingungen für die Herausbildung eines künstlerischen Feldes mit vom Markt relativ unabhängigen Distributionsstrukturen heraus. Er verweist auf den aus feldinternen Kämpfen hervorgegangenen Bruch, infolge dessen U-Comix-ZeichnerInnen wie Robert Crumb, Richard Corben und Gilbert Shelton „eine politische Opposition gegen die disziplinierende Herrschaftsstruktur legitimer Ästhetik“ (S. 245) aufzubauen vermochten. Wenngleich Becker eine rein semiotisch-formale Herangehensweise ihrer Ahistorizität wegen verwirft, bemüht dieser sich – neben einigen Appendizes zu Crumbs kastrierenden „Schicksen“ im Mittelteil seines Textes – dennoch darum, die erkalteten Empathiebahnen des reizvermindernden Comics von der dem Film vorbehaltenen RezipientInnendisposition einer „kitschigen Einfühlung“ (S. 254) mithilfe von viel filmanalytischen Vokabular abzugrenzen.

Das Serialitätsprinzip der Panels, der das Darzustellende oftmals auf wenige Linien und Flächen reduzierende Zeichenstil sowie die Konzentration auf Schwarz-Weiß-Kontraste, die das Umgehen des kostspieligen Vier-Farbdruck ermöglichten – diese comicspezifischen Stilmittel gehen nicht auf die Innovationskraft künstlerischer Originalgenies zurück, sondern auf die Produktionslogiken kapitalistischer Ratio. Ole Frahm, der die Rede von einer Comic-Avantgarde in seinem Beitrag mit den dadurch klingelnden Geldbeutel des Kunstmarkts in Verbindung bringt, rekonfiguriert den Comic im Gegensatz dazu als Produkt der politischen Ökonomie des Fordismus. Der Comic hat den/die AutorIn säkularisiert, indem er sie/ihn zur Fließband-ProduzentIn gemacht hat. In seiner Interpretation von Julie Doucets gezeichneten Enthauptungen und Kastrationen kommt Frahm indes nicht ohne Verweis auf postmodernes „Disseminations“-Vokabular aus. Bedauerlich ist das vor allem deshalb, weil Doucets (2007) gezeichneten Folgeaktivitäten reale Vergewaltigungsakte vorausgegangen sind, die sie in ihrem New Yorker Tagebuch eindrücklich dargelegt hat. Wirkt angesichts dessen die Rede von „Mehrdeutigkeit“ und „dem Spiel mit der Position des Betrachters“ (S. 198) nicht etwas zynisch?

Verfemte Teile
In einem Nebensatz seines Textes „Literatur und Biografie“ bemerkte der russische Formalist Boris Tomasevskij ([1923] 2000), dass selbst eine literarisierte KünstlerInnen-Biografie von der Ökonomie des Alltagslebens so tief durchdrungen sei, dass mensch diese letztlich wie ein amtliches Dokument behandeln müsse. Comics in dieser Weise als „whole way of culture“ zu begegnen, setzte nicht nur ihre ökonomische, geschlechterpolitische und soziologische (Wieder-)Verortung voraus, sondern auch die Kenntnis der lebensweltlichen Bezugssysteme von ComicautorInnen, die in merklichem Kontrast zu den Termen von Repräsentation und Ästhetik stehen. Darum also fehlen sie mehrheitlich, die Verweise auf die in WG-Küchen produzierten queeren Comic-Zines der Riot!-Grrl-Bewegung, auf die Raumschiff-Mythologien schwarzer Diaspora-Kontexte, auf die sich im transnationalen Nirwana der Festung Europa abspielenden Comic-Biografien von MigrantInnen, auf die in der Praxis des Slashens zum Ausdruck kommende Emanzipationsbewegung einer webbasiert agierenden Comic-Fankultur genauso wie auf die unter Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit und kapitalistischer Rezession im Punk-Gestus gezeichneten Alltagsepisoden der tätowierenden butch Diane DiMassa in Hothead Paisan. War es nicht Ole Frahm, der gegen Ende seines Beitrags nach einer durch Comics erzählbaren „anderen Geschichte“, einer „Geschichte des Proletariats, der Frauen, der Tiere?“ (S. 198) gefragt hat? Hinzufügen möchte ich unbedingt, dass diese noch zu schreibende Geschichte auch eine der Queers und der FeministInnen wäre.

LITERATUR
Crumb, Robert (1975): Die 17 Gesichter des Robert Crumb. Mit fünfzig Comics und einem Interview. Übersetzt von Harry Rowohlt, kompiliert von Lutz Reinecke. Frankfurt am Main: Zweitausendeins (im Original keine Paginierung).
DiMassa, Diane (1999): The Complete Hothead Paisan. Homicidal Lesbian Terrorist, San Francisco: Cleis Press
Ditschke, Stephan/Kroucheva, Katerina/Stein, Daniel (2009): Comics. Zur Geschichte und Theorie eine populärkulturellen Mediums, transcript: Bielefeld
Doucet, Julie (2007): New Yorker Tagebuch. Berlin: Reprodukt
Theweleit, Klaus/Langbein, Martin (1981): Bruch. Zugabe von Martin Langbein und Klaus Theweleit, Beiheft zu: Spiegelman, Art (1981): Breakdowns. Gesammelte Comic Strips. Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern (im Original keine Paginierung)
Tomasevskij, Boris ([1923] 2000): „Literatur und Biographie“. In: Fotis, Jannidis/ Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/ Winko, Simone (Hg.Innen) (2000): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, S. 49-61

Barbara Eder ist prekarisierte SoziologIn und PräventionistIn bei der AIDS-Hilfe Wien. Für den von ihr mitherausgegebenen und im Sommer 2010 bei transcript erscheinenden Reader „Theorien des Comics“ hat sie die Rubrik „Heteronormative Realitäten/Queere Fantasien“ zusammengestellt.

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