Der dritte Ort
Mit dem Aufstieg der „Graphic Novel“ als „ernster“ Comic-Gattung sind auch Erzählungen über das Leben in der Migration bzw. Diaspora verstärkt ins Blickfeld gerückt.
Mit dem Aufstieg der „Graphic Novel“ als „ernster“ Comic-Gattung sind auch Erzählungen über das Leben in der Migration bzw. Diaspora verstärkt ins Blickfeld gerückt. Ein Gespräch über Fremdheitserfahrungen in Bildern, die Perspektive der „Autofiction“ und die Kunst des Comics, Unsichtbares sichtbar werden zu lassen.
Kulturrisse: In den 1980ern setzte sich im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung „Graphic Novel“ durch, mit erfolgreichen Comic-Romanen wie „Maus“ von Art Spiegelman. Ist es Zufall, dass diese „grafischen Novellen“ oder „AutorInnen-Comics“, wie sie auch genannt werden, häufig autobiografisch inspiriert sind und „Fremdsein“ zum Thema haben?
Barbara Eder: Die Bezeichnung „Graphic Novel“ geht auf den Comic-Pionier Will Eisner zurück, der damit Formen des autobiografisch inspirierten Erzählens von den SuperheldInnen-Comics abgrenzen wollte, die bis heute den US-amerikanischen und europäischen Markt dominieren. Im engeren Sinne ist ja die Novelle eine literaturwissenschaftliche Gattung, die eine unvorhergesehene Begebenheit thematisiert. Insofern ist dieses Format ideal, um wahrnehmungsbezogene Fremdheitserfahrungen wiederzugeben, die mit Migrationsprozessen einhergehen können. Abseits von Genre-Konventionen können hier Phänomene zum Ausdruck gebracht werden, die durch die „Master Narratives“ konventionellen Erzählens und die oft stereotypen HeldInnenfiguren im Mainstream-Comic nicht ausreichend beschrieben und dargestellt werden können.
Verbunden ist diese Entwicklung auch mit einem veränderten Verständnis biografischen Erzählens: Wenn z.B. Marjane Satrapi ihre Comic-Autobiografie „Persepolis“ als „Autofiction“ bezeichnet, dann suggeriert dies, dass sie die konstruktiven, diskursiven und medialen Aspekte biografischen Bilanzierens in Bildern in den Vordergrund stellt und nicht etwa von einer „authentischen Erfahrung“ ausgeht. Sie spielt in „Persepolis“ bewusst mit orientalisierenden Darstellungsformen von Frauen aus dem Nahen und Mittleren Osten wie etwa mit dem Klischee der „schweigenden Orientalin“, das besonders stark in Walt Disneys „Aladdin und die Wunderlampe“ eingesetzt wird.
Kulturrisse: In deiner Forschungsarbeit zu „Fremdheit und Migration in Graphic Novels und Comics“ verknüpfst du das Thema der Migration unmittelbar mit dem Genre Comic. Könntest du diese Verbindung näher erläutern?
Barbara Eder: Der Zusammenhang ergibt sich aus dem Thema: Zum einen gibt es einen überproportional hohen Anteil an jüdischen Immigranten auf Seiten der ProduzentInnen der ersten SuperheldInnen-Comics im Amerika der 1930er und 40er Jahre. Figuren wie Superman und Batman etwa sind Schöpfungen von Söhnen von (ost-)europäischen EinwanderInnen in die USA. Diese Figuren zeichnen sich durch ihr antifaschistisches Engagement aus und können auch als Projektionen von männlichen Retterfiguren gelesen werden, die in Reaktion auf die Realität der nationalsozialistischen Lebensbedrohung vor der Zeit im Exil entstanden.
Dass viele MigrantInnen in den 1990ern in Form von „Independent Comics“ von ihren Erfahrungen berichten, kann auch darauf zurückgeführt werden, dass es sich dabei um ein Format handelt, das von den Produktionsbedingungen und Vertriebsstrukturen der handelsüblichen Heft-Comics inhaltlich und ökonomisch relativ unabhängig ist. Zum einen sind die Produktionsbedingungen günstig – die Bilder in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten sind zumeist nicht aufwendig koloriert, was die Vervielfältigung und Verbreitung vereinfacht –, zudem bedarf es mit dieser autonomen Form der Distribution nicht der Kontakte zu den Major-Verlagen.
Andererseits ist der Comic ein Medium, in dem Bedeutung nicht allein durch Schrift generiert wird, sondern primär durch grafische, lautbasierte und der gesprochenen Sprache nahe stehende Zeichen. Mithilfe der Vorläufer der visuellen sequenziellen Kunst konnte man deshalb eine LeserInnenschaft erreichen, die durch Bildungsbarrieren vom Lesen und Schreiben ausgeschlossen wurde – wie etwa mit den Revolutionsgrafiken im 18. Jahrhundert. Die häufige Verwendung von Mischsprachen im Comic zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein starkes Indiz dafür, dass damit verstärkt eine AdressatInnenschaft angesprochen werden sollte, die unterschiedliche Landessprachen im Alltagsgebrauch miteinander kombinierte.
Kulturrisse: Werden Migrationserfahrungen heutzutage stärker über das Medium Comic verhandelt? Oder sind Comics, die sich mit Migration beschäftigen, einfach nur sichtbarer geworden?
Barbara Eder: Ich denke, dass es eine Geschichte der Darstellung von Migrationserfahrungen im Comic gibt, die bisher nur bedingt sichtbar gemacht wurde. Das ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass das Thema der Migration bisweilen nur selten ein Fokus in der Betrachtung und Lektüre von Comics gewesen ist, sondern auch darauf, dass mehrfache kulturelle Herkünfte von ZeichnerInnen und Figuren oft nur am Rande erwähnt werden und wurden. Während Migration in Marjane Satrapis „Persepolis“ und in Parsua Bashis „Nylon Road“ das zentrale Thema ist, ist dieses z.B. in den Strips vieler queer-feministischer ZeichnerInnen nur ein Nebenaspekt. Ein Beispiel ist „Hothead Paisan“ von Diane DiMassa: Obgleich der Name auf die plurilokale Herkunft der Comic-Protagonistin anspielt – „paisan“ ist eine italienisch-amerikanische Wortschöpfung für die „beste Freundin von Nebenan“ – wird dieser Aspekt durch die Thematisierung von Hothead Paisans sexueller Identität sowie ihr Leben mit ihrer Katze Chicken und ihrer blinden Freundin Roz überlagert.
Marginalisiert wird das Migrationsthema auch in den frühen SuperheldInnen-Comics, in denen der Geburtsort der HeldInnenfiguren oftmals in den Bereich des Fantastischen verschoben wurde. So wurde Wonder Woman im geografischen „Outer Space“ eines matriarchal regierten Inselstaats namens „Paradise Island“ als Amazone geboren – ein Aspekt, der erst im Zuge der Reinterpretation der Serie durch den spanisch sprachigen Emigranten George Perez in den 1980ern verstärkt ins Zentrum gerückt wurde. Superman, der gelegentlich auch Kal-El (Hebräisch für „Gott ist in allem“) genannt wird, entstammt einem Planeten mit dem Namen Krypton, dessen Darstellung frappante Ähnlichkeiten mit dem Stehtl im Minsk der 1930er Jahre aufweist.
Kulturrisse: Was kann deiner Meinung nach das Medium Comic in Bezug auf Themen wie Migration, Diaspora und Fremdheit, was andere Medien nicht können?
Barbara Eder: Der US-amerikanische Comictheoretiker Scott McCloud hat einmal die visuelle sequenzielle Kunst des Comics als „unsichtbare Kunst“ bezeichnet, weil dadurch Unsichtbares sichtbar gemacht werden kann. Anders als bei der Fotografie handelt es sich bei einem Comic-Bild nicht um eine Form der Repräsentation, die analog gesellschaftlicher Konventionen als Abbild gelesen wird. Mithilfe von gezeichneten Bildern können auch Dimensionen des Wahrnehmens zum Ausdruck gebracht werden, die sich nicht in der Wahrnehmung von aktuell vorhandenen Dingen in der Außenwelt erschöpfen. So sind etwa die aufgezeichneten Erinnerungen Marjane Satrapis an ihre Zeit im österreichischen Exil durch die für Erinnerungsprozesse so charakteristische Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen ebenso gekennzeichnet wie durch ein fortwährendes Changieren zwischen dem imaginierten Herkunftsland und dem Einwanderungsland, in dem die Erzählfigur sich zum Zeitpunkt des Erzählens befindet. Zwei geografisch voneinander entfernte Territorien erscheinen infolge der sequenziellen Anordnung der Comic-Bilder wie benachbarte Orte.
Es ist bezeichnend für Migrationsprozesse, dass sich das Bild des Herkunftlandes von der Perspektive des Einwanderungslandes aus betrachtet in Relation zu den jeweiligen Lebensbedingungen stark verändern kann. Im Hinblick auf die Darstellung der „Imaginary Homelands“ ebenso wie in Bezug auf die Möglichkeit der Darstellbarkeit subjektiver Wahrnehmungen von MigrantInnen scheint der Comic ein Glücksfall zu sein. Durch wolkenförmige Sprechblasen können beispielsweise Träume und Fantasien dargestellt werden, die Ausdruck einer eigenständigen subjektiven Realität im Kopf der ErzählerInnen sind. Dass es im Comic die Möglichkeit gibt, Imaginationen einen symbolischen Ausdruck zu verleihen, prädisponiert diesen für die Darstellung von „Fremdheits“-Erfahrungen: Im Comic kann der imaginative Raum eines „Dritten Ortes“ dargestellt werden, mit dem sich viele MigrantInnen identifizieren, die sich weder dem Herkunftsland ihrer Eltern noch der Kultur im Einwanderungsland zugehörig fühlen.
Problematisch ist die genaue Lokalisierung eines Herkunftsortes auch für viele AfroamerikanerInnen, deren Vorfahren zur Zeit des transatlantischen Sklavenhandels gewaltsam verschleppt worden waren. Im Hinblick auf die „Black Diaspora“ spricht Paul Gilroy deshalb von Afrika als „imaginierten Kontinent“, der in der Comic-affinen „Black Science Fiction“ oftmals an einen atopischen Ort außerhalb von Raum und Zeit verlagert wird.
Kulturrisse: „Persepolis“ von Marjane Satrapi ist einer der populärsten Graphic Novels der jüngsten Zeit, die Migration thematisieren. Kannst du weitere Beispiele nennen?
Barbara Eder: „Persepolis“ hat eine ganze Reihe an autobiografischen Comic-Novellen von Frauen inspiriert, in deren Zentrum die Themen Erinnerung und Leben im Einwanderungsland stehen. 2006 folgten Parusa Bashis „Nylon Road“ und „Meine Mutter war eine schöne Frau“ der nach Frankreich emigrierten weißen Südafrikanerin Karlien de Villiers. Das „New Yorker Tagebuch“, in dem die in Québec geborene Comic-Autorin Julie Doucet von ihrer Migration nach New York berichtet, erschien bereits 2004 in deutscher Übersetzung. Der einem migrantischen ArbeiterInnen-Milieu entstammende französische Zeichner Hervé Baruela, der unter dem Künstlernamen Baru in „Der Champion“ und „Wut im Bauch“ die Geschichten von Boxern mit Migrationshintergrund erzählt, verbindet in seinen Storys Themen wie den antikolonial motivierten Widerstand von AlgerierInnen, Rassismus und Sport als Mittel des sozialen Aufstiegs. Die in Amerika lebende Comiczeichnerin Lynda Barry erzählt in „One Hundred Demons“ ihre eigene „Autobiofictionalography“, die durch Erinnerungen an Erzählungen aus der philippinischen Mythologie seitens ihrer Mutter inspiriert ist.
Zurück verfolgen kann man die subtilen Anspielungen auf Migrations- und Fremdheitserfahrungen in Comics jedoch bis auf die frühen Darstellungen in den „Wimmen’s Comix“ der 1970er Jahre. In „Nose Job“ etwa thematisiert die Zeichnerin Aline Kominsky-Crumb nicht nur ihre eigene Fremdheit gegenüber ihrer Familie polnischer Herkunft, die sie zu einer Nasenoperation drängt, um die jüdische Zugehörigkeit unsichtbar zu machen, sondern noch eine ganz andere Form von Fremdheit: Jene im dazumal noch binär gedachten heterosexuellen Geschlechterverhältnis.
Anmerkung
Dieses Interview erschien zuerst in Ausgabe 2010/2 von migrazine.at, dem „Online Magazin von Migrantinnen für alle“, und ist Teil einer Kooperation zwischen den Kulturrissen und migrazine.at.
Mehr Infos unter: Migrazine
Barbara Eder ist Soziologin. Gemeinsam mit Elisabeth Klar und Ramón Reichert hat sie den Reader „Theorien des Comics“ (transcript 2010) herausgegeben.