Artist Class - Vernetzungsplattform und Arbeitstraining für Künstler*innen mit Fluchterfahrungen
Das Projekt Artist Class ist ein Arbeitstraining für Künstler*innen, die fliehen mussten und sich nun beruflich in Wien und Österreich orientieren. Seit Frühjahr 2018 findet das Projekt in der Brunnenpassage statt. Der KunstSozialRaum am Wiener Brunnenmarkt bietet in einer ehemaligen Markthalle interdisziplinäre und partizipative Kunstproduktionen an. Die Arbeiten der Artist Class sind Teil des Programms. Die bis zu 12-monatigen Arbeitstrainings werden finanziert über das sogenannte Integrationsjahr, welches über das AMS abgewickelt wird.
Ziel der Artist Class ist die individuelle Unterstützung professioneller Künstler*innen mit Fluchterfahrung. Im Zeitraum des Arbeitstrainings wird angestrebt, dass die Teilnehmer*innen bei ihrer individuellen Einbindung in das hiesige Berufsfeld gefördert werden. Dabei ist die individuelle Vernetzung und Professionalisierung der Künstler*innen besonders wichtig. Durch das Teilzeittraining ist eine parallele Mitarbeit in externen Produktionen möglich und erwünscht. Die Brunnenpassage1 bietet Probenmöglichkeiten und nach Absprache Aufführungs- bzw. Ausstellungsmöglichkeiten. Es wird das vorhandene Equipment zur Verfügung gestellt. Unterstützung gibt es bei Fragen zu Produktionsabläufen wie Öffentlichkeitsarbeit, Zeitplanung, Vereinsgründung, Beratung zu Förderwesen, bis hin zu Versicherungsfragen und Steuerwesen. Eingeladene Gäste geben inhaltliche Impulse z. B. zur Arbeit der IGs und Angeboten von Smart.at. Versucht wird, sie dabei zu ermutigen, eigene Produktionen fortzuführen oder zu konzipieren, beratend zur Seite zu stehen, sei es vom Schreiben des Lebenslaufs bis hin zu Einreichungen und sie bei ihrer Professionalisierung zu begleiten.
Es sind 16 Personen, vier Frauen und elf Männer, die an der Artist Class teilnehmen. Zwei Künstler haben vorzeitig aufgehört, da sie Aufnahmeprüfungen an der Akademie der bildenden Künste bzw. an der Bruckneruniversität Linz geschafft haben. Die beteiligten Künstler*innen leben alle erst wenige Jahre in Wien und das nicht aus freiwilliger Entscheidung heraus. Während es einigen leichter fällt, mit ihrem Schaffen anzudocken, gibt es andere, denen es an Netzwerken und an Anerkennung über Jahre hinweg komplett fehlt. Sorgen bestehen, wenn (noch) kein Bühnenhochdeutsch gesprochen wird, wenn sie nicht mehr in ihrer eigenen Sprache schreiben können, wenn sie alle ihre Skulpturen und Kunstwerke hinter sich lassen mussten und keinerlei Ausstattung geschweige denn ein eigenes Atelier haben. Sorgen bestehen auch, wenn sie auf eine Art und Weise künstlerisch tätig sind, die in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft weniger üblich ist, etwa ein Instrument mit einer Viertel- und Halbton-Stimmung spielen oder in ihren Gesangstechniken, Schauspielweisen und kollektiven Arbeitsweisen verschieden sind.
Musiker und DJ Bairak Alaisamee © Brunnenpassage / Bairak Alaisamee
Wenn plötzlich nicht der/die Musiker*in im Vordergrund steht, sondern der Migrations- oder Fluchthintergrund, fängt das „Sich-Verbiegen“ an. Ebenso, wenn notgedrungen Rollen-Angebote angenommen werden, da ein erster Schritt auf die Bühne oder die Leinwand notwendig ist, jedoch die klischeehaften Drehbücher erst recht wieder zu neuen Rollenanfragen derselben Figuren führen. Es wimmelt an Flüchtlings-Theaterstücken, jedoch gibt es bis dato fast keine Regisseur*innen oder Produzent*innen mit eigener Fluchterfahrung. Aus den zugeschriebenen Rollen auszubrechen, gelingt selten, da die finanzielle Situation es nicht zulässt. Nicht wenige Künstler*innen werden nur engagiert, wenn sie Folklore bedienen, wenn sie trommeln, tanzen und singen, so wie es der westliche Fokus der Zusehenden erwartet. Es braucht deshalb Kunstorte, in welchen es möglich ist, Transkulturalität zu initiieren, zu experimentieren, neue Formate auszuprobieren. Es braucht Räume, in denen Künstler*innen selbst am Programm teilnehmen, aber auch eigene Veranstaltungen konzipieren oder Workshops leiten können, um Erfahrungen und Referenzen zu sammeln.
Wöchentliche gemeinsame Treffen dienen dem Austausch untereinander. Zudem finden regelmäßig individuelle „Jour fixes“ und Proben statt. In der Zusammenarbeit wird deutlich, dass es beim Ankommen oft nicht nur künstlerische Belange gibt, sondern viele Herausforderungen in alltäglichen Fragen des Überlebenst, die die Künstler*innen beschäftigen.
Anlässlich des Artikel-Schreibens fanden mit interessierten Künstler*innen der Artist Class ausführliche Recherche-Gespräche statt, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen verdeutlichen. So kam heraus, dass ein Teilnehmer der Artist Class von akuter Wohnungsnot bedroht ist, seit Monaten bei Freunden schläft, da ihm das Geld fehlt, eine Kaution zu hinterlegen. Andere erklären, dass es schwierig ist, in Wohngemeinschaften zu leben, da sie eigentlich nicht nur einen Schlafplatz brauchen, sondern unabdingbar einen Raum, in dem sie arbeiten und auch Kolleg*innen einladen können. Viele kämpfen parallel mit bürokratischen Eskapaden. Zwei Teilnehmer*innen der Artist Class haben monatelang ihr AMS-Geld nicht erhalten, da angeblich Formulare fehlten oder das vorgelegte Deutschkurs-Zeugnis nicht bei der richtigen Beraterin ankam. Zuständige zu erreichen funktioniert nicht, da am Telefon keine Auskunft gegeben werden darf. Ein Betroffener schildert, dass er ständig von A nach B geschickt würde und niemand könne Ja oder Nein sagen. So sind einige Künstler*innen zu Terminen begleitet worden, um Formalia zu klären. Ein Musiker der Artist Class erzählt, dass ihm ein Beamter im Sozialamt als verheiratet statt ledig angegeben hat, erst durch eine Beschwerde vor Gericht konnte dies rückgängig gemacht werden. Sein Wort stand gegen das des Beamten. Drei Monate lang hat er keine Mindestsicherung erhalten und ist seither verschuldet.
Von einem Termin zum nächsten geschickt zu werden, ohne dabei Auskunft zu bekommen, wer zuständig ist bzw. welches Dokument denn jetzt nun fehle, ist eine gemeinsame Erfahrung aller Teilnehmer*innen der Artist Class. Auch wenn es mit der Sprache immer besser funktioniere, sind die bürokratischen Abläufe oft nicht nachvollziehbar. Bemühungen, endlich eine sichere Arbeit zu finden, sind für viele von hoher Bedeutung. Doch erzählen ein bildender Künstler, der als Restaurator in Kirchen in Burgenland gearbeitet hat, oder ein anderer, welcher im Publikumsdienst tätig war, dass sie maximal nur geringfügig angemeldet wurden. Ein Schauspieler erzählt, dass er nicht das Gefühl habe, in seiner Profession ernst genommen zu werden. Beim Arbeitsmarktservice sei er darauf hingewiesen worden, bitte aufzuhören zu träumen, denn wichtig sei lediglich, eine Arbeit zu haben, um Steuern zahlen zu können. Er solle beruflich umdisponieren. Ein Bildhauer erklärt, dass die Menschen ein nettes Lächeln aufsetzten, wenn sie von seinem Berufsbackground als Künstler erfahren, doch dass er tatsächlich jahrelang an der Akademie for Fine Arts in Damaskus studiert hat und dies sein Beruf sei, werde nicht ernst genommen.
Schauspieler Rachid Zinaladin in Blinde Kuh oder Kafkas Labyrinth – Theater Bodiendsole © Rachid Zinaladin
Ein Theaterschaffender beklagt, wenn seinesgleichen angesprochen werde, dann hätten sie das Gefühl, nur Komparsen zu sein. Wenn er Mini-Rollen oder unbezahlte Kunstprojekte nicht annehme, seien die Regisseure verwirrt, denn sie dächten, dass sie als Geflüchtete ja Arbeit bräuchten. Dem widerspricht er, denn er sagt, bevor er sich einem schlecht- oder unbezahlten Projekt widme, wo er nicht überblicken könne, was genau seine Position ist, bemühe er sich lieber, seine eigene Arbeit fortzusetzen. Ein Schauspieler und Regisseur, der jahrelang im Irak auf nationalen Bühnen gestanden ist, im öffentlichen Fernsehen gearbeitet und in Spielfilmen mitgewirkt hat, erzählt, wie verletzend es mittlerweile sei, nur Rollen angeboten zu bekommen, in denen er den Flüchtling spielen muss. Beim letzten Angebot, dass er bekam, habe er sich gefreut, denn ihm wurde die Rolle des „Bräutigams“ angeboten. Im Nachhinein habe sich aber herausgestellt, dass ihm die Rolle des „Bärtigen“ angeboten wurde und diese nahm er nicht an, da im Drehbuch der „Bärtige“ ein Türsteher war und nicht einmal Text zu sprechen hatte. Zwei andere berichten, dass es zu Beginn leichter gewesen sei, diese Migranten-Rollen zu spielen, da sie dachten, als Schauspieler ja ohnehin alles spielen zu können, bis sie realisiert hätten, dass sie nicht als Schauspieler angefragt würden, sondern als Flüchtlinge. Es sei leichter, an diese Rollen heranzukommen, doch sei es verletzend und absurd, wenn gefragt werde, ob der Akzent noch verstärkt werden könne, da sie schon zu gut deutsch sprächen.
Auf der anderen Seite wird von einem Teilnehmer berichtet, dass es ihm mittlerweile sehr gut gehe. Er habe eine Wohnung, die er sich finanzieren könne, eine Freundin gefunden, eine neue Sprache gelernt und sich auch künstlerisch weiterentwickelt. Zensur im Irak habe ihn zur Flucht gezwungen und hier habe er künstlerische Freiheit gefunden. Er erzählt, er habe seinen Traumberuf wegen des Krieges verloren, habe sein Lebensziel und vieles mehr drei Jahre lang liegen lassen, da er gedacht habe, alles sei verloren. Jetzt wisse er: Wenn jemand alles verliert, kann das auch eine Chance für einen Neuanfang sein. Doch ständig über Flucht reden zu müssen oder per se diese in der eigenen Kunst zu verarbeiten, das möchte niemand in der Artist Class.
Die Einsamkeit ist ein weiteres Thema, das fast alle Künstler*innen der Artist Class betrifft. Viele haben das Gefühl, alleine zu sein, und sagen auch offen, dass sie Angst hätten, bestimmte Plätze aufzusuchen, wie zum Beispiel Parks, da sie sich vor negativen Blicken oder Kommentaren fürchten. Nun aber Teil der Brunnenpassage und in der Artist Class zu sein, helfe ihnen, sich nicht mehr so verloren zu fühlen. Eine Routine und ein Ziel zu haben, neue Menschen kennenzulernen, weiterzukommen – das ist die Motivation für viele.
Gefragt nach ihren Wünschen, sagt ein Schauspieler, dass er das Ziel verfolge, ans Mozarteum zu gehen, und hoffe, endlich nicht mehr über seine Geschichte gefragt zu werden, sondern über seine Pläne hier, denn diese seien groß. Ein Tänzer und Schauspieler erzählt, dass er seinen Traum bereits erreicht habe. Er habe nie die Chance gehabt, eine wirkliche Ausbildung zu machen. Bevor er in Wien ankam, befand er sich fünf Jahre lang auf der Flucht. Vom Irak nach Syrien, in die Türkei, wieder Syrien, Türkei, zehn Versuche, das Meer zu überqueren, Griechenland, Mazedonien, Griechenland – und dann die Ankunft in Österreich. Sein Ziel sei aber immer Italien gewesen, für ihn sei es das Zentrum der Kunst. Bei all diesen Stationen habe er unterschiedliche Erfahrungen gesammelt, am Bau gearbeitet, in einer Tischlerei, in der Bäckerei, in der Gastronomie, als Kameramann, als Schauspieler. Letztes Jahr habe er im Film „Wicked Games“ von Ulrich Seidl mitgespielt und das in Italien, so sei eigentlich sein größter Wunsch bereits in Erfüllung gegangen.
Schauspieler Ibrahim Al-Samrai gemeinsam mit dem Regisseur Ulrich Seidl – Wicked Games © Ibrahim Al-Samrai
Die Frage, ob sie bei bestimmten Projekten nur dabei sind, weil sie Geflüchtete sind, bringt viele zum Nachdenken. Und das ist auch die Herausforderung für die hiesige Kunstwelt: Wie können Menschen in Projekte eingebunden werden, und wie kann garantiert werden, dass sie als Künstler*innen gefragt sind und nicht als geflüchtete Künstler*innen? Selbstverständlich wäre ein großes Ziel, die Artist Class auch 2019/2020 fortzusetzen. Dies ist jedoch eine Finanzfrage. Aus eigenem Budget kann dies die Brunnenpassage keinesfalls stemmen. Künstlerisch ist die Zusammenarbeit in jedem Fall eine große Bereicherung für alle Seiten und absolut ausbaufähig. Während sich Kulturinstitutionen immer schwerer tun, die diversifizierte Gesellschaft zu repräsentieren, können neue Stimmen und Perspektiven, Türen sowohl im Programm, als auch für das Publikum öffnen.
Die Recherche-Gespräche fanden mit Ibrahim Al-Samrai, Bairak Alaisamee, Rachid Zinaladin, Jaber Barchin und Ahmed Al Obaidi statt.
(1) Die Brunnenpassage am Wiener Brunnenmarkt ist ein Labor und Praxisort für transkulturelle und partizipative Kunstprozesse. Künstlerische Qualität und eine soziale Zielsetzung bei gleichzeitig niederschwelligem Zugang werden verbunden, um neue kollektive Räume zu schaffen, die ein selbstbestimmtes Miteinander abseits von klassischen Zuteilungen ermöglichen.
Dilan Sengül studierte Raumplanung und Raumordnung, sowie Schauspiel an der diverCITYLAB Akademie. Seit 2015 ist sie als Projektmitarbeiterin in der Brunnenpassage tätig und arbeitet an der Schnittstelle von Stadtsoziologie und Kulturarbeit.
Coverfoto: Schauspieler Ahmed Al Obaidi in badluck reloaded – Theater Nestroyhof Hamakom © Ahmed Al Obaidi
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe „prekär leben“ des Magazins der IG Kultur in Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien erschienen. Das Magazin kann unter office@igkultur.at (5€) bestellt werden.