Die falsche Sanftmut der Kultur. Anmerkungen zur Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung

Kulturelle Vielfalt, Interkulturalität, Mobilität der Kulturschaffenden und ihrer Werke: Diese Basisbegriffe aktueller europäischer Kulturpolitik klingen hübsch, haben bei genauerer Betrachtung aber ihre Schattenseiten.

Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich Rudolf Burger noch mal zustimmend aus dem verstaubten Bündel der österreichischen Kulturkritik herausholen würde. Der Wiener Philosoph Burger hat sich in den letzten Jahren nach peinlich berührenden Anbiederungen an den von ihm so benannten „Drachentöter“ Wolfgang Schüssel und nach – so scheint’s – verzweifelten Provokationen im Dunstkreis des Antisemitismus selbst aus allen halbwegs politischen Diskursen hinauskatapultiert. Ende 1991 jedoch – zur gleichen Zeit, als mit dem Maastricht-Vertrag zum ersten Mal auch ein Kulturartikel in die EU-Verträge aufgenommen wurde – veröffentlichte Burger seinen Text über Die falsche Wärme der Kultur, der – so finde ich – Pflicht- und Straflektüre sein sollte für all jene, die Sätze schreiben wie „Kultur ist die Seele der menschlichen Entwicklung und Zivilisation.“ So hebt sie nämlich an, die letztes Jahr von der Europäischen Kommission publizierte Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung. Man muss befürchten, dass nicht nur KulturfunktionärInnen angesichts derartig abgestandener Phrasendrescherei wie von unsichtbarer Hand gesteuert automatisch eindämmern. JedeR riecht den Braten, würde man meinen. Jenen Braten, dessen idealistische Zutaten aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen und die nun ohne Umstände ins 21. Jahrhundert überführt werden sollen.

Rudolf Burger hat die konservativ-idealistische Rede von der Kultur und der kulturellen Identität enthüllt als etwas, das mit seiner Wärme offenbar eine dahinter liegende Kälte verdecken soll. Vor dem Hintergrund der damals am Anfang befindlichen und rasch voranschreitenden neoliberalen Transformation der postkommunistischen Länder nach 1989 schrieb er: „Die illusionäre Rekonstruktion einer ‚civil society’ auf den Trümmern einer verlogenen sozialistischen ‚Gemeinschaft’ führt in Wahrheit in die Kälte der kapitalistischen Gesellschaft und zu den brutalsten Formen ursprünglicher Akkumulation; nach dem ‚kuhwarmen Sklavenstall’ des Realsozialismus, wie Marx ihn wohl bezeichnet haben würde, hätte er ihn gekannt, ist die, nach einem Diktum von Kant, ‚ungesellige Geselligkeit’ der bürgerlichen Gesellschaft ein Taumel und ein Schock.“ Dies ist der Einsatz von Burgers These über die falsche Wärme der Kultur, dass nämlich hinter dieser falschen Wärme nicht nur auf den Territorien des Postkommunismus eine Kälte lauere, die Kälte der kapitalistischen Gesellschaft, wie Burger das nennt und vor allem der Ausschluss von allem, was nicht zu dieser Gesellschaft, zu dieser Kultur passt. Die Funktion des Kulturbegriffs als Substitut des nur noch in radikal rechten Diskursen ohne Gänsefüßchen vertretbaren „Rasse“-Begriffs, seine Rolle als kulturalistisches Element von exklusiven Identitäten, seien sie auf nationaler oder supranationaler Ebene angesiedelt, das ist es, wovor Burger damals warnte: „Vor allem aber vermeidet der Kulturalismus eine offen biologistische Argumentation, ja er vermeidet sie nicht nur, sondern er steht scheinbar sogar in äußerstem Gegensatz zu ihr. Und doch hat er eine durchaus analoge sozialpsychologische und politische Funktion: Er schafft ein ‚Wir-Gefühl’, das andere ausgrenzt. Er fungiert als präpolitische Basisideologie einer imaginären Gemeinschaft, mit deren Hilfe politische Gemeinschaften, wie Volk und Nation, scheinbar zwanglos, quasi-natürlich rekonstruiert werden können.“ Soweit Rudolf Burger vor siebzehn Jahren und in unserem Kontext könnte ergänzt werden, Kultur fungiert offensichtlich auch als präpolitische Basisideologie der imaginären europäischen Gemeinschaft.

Nun wäre gegen so eine präpolitische Basisideologie vielleicht oberflächlich gar nichts einzuwenden, wären da nicht die von Burger ins Spiel gebrachten „Kälte“-Effekte einer „falschen Wärme der Kultur“. Und diese Kälte-Effekte tauchen auch auf in der Mitteilung der Kommission, nur sind sie offenbar zumindest für die AutorInnen des Papiers als solche nicht evident. In der programmatischen Einleitung der Mitteilung heißt es in Ablehnung der Rolle der EU als reiner „Handelsmacht“: „Schon jetzt ist die Europäische Union ein Beispiel für eine ‚sanfte Macht’, eine Rolle, die es zu verstärken gilt.“ Was könnte das bedeuten? Gibt es im Sinne der eben von Burger übernommenen Figur der falschen Wärme der Kultur eine Kehrseite dieser sanften Macht (einer Macht, die hier in unausgesprochener Weise mit Kultur gleichzusetzen wäre), eine Kehrseite, die in der rauen Gewalt der Militärs und in der kalten Gewalt des Kapitals liegt? Oder ist es noch komplizierter, breiten sich diese widersprüchlichen Dualismen zwischen warm und kalt, sanft und hart, vielleicht beide auf demselben Grund der Kultur aus? Welche Kälte, welche Härte, welcher Ausschluss lauert dann hinter dem Slogan von der EU des „kulturellen Reichtums“ und der „Vielfalt“ als „sanfter Macht“?

Wir bewegen uns hier jedenfalls vom ersten Paradigma der konservativ-idealistischen Diskurse in das zweite Paradigma, das offensichtlich die Kehrseite der Wärme und Sanftheit der Kultur ausmacht, einen Diskurs, der neoliberale Ökonomisierung im kulturellen Feld betreibt.

Kulturelle Vielfalt, Interkulturalität, Mobilität der Kulturschaffenden und ihrer Werke: Diese Basisbegriffe aktueller europäischer Kulturpolitik klingen hübsch, haben bei genauerer Betrachtung aber ihre Schattenseiten. „Interkultureller Dialog“ etwa wird nicht nur als „persönlichkeitsprägend“ und „toleranzfördernd“ beschrieben, sondern auch als „sehr nützlich in einer globalen Wirtschaft in Hinblick auf die bessere Beschäftigungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und Mobilität der Künstler …“ Manchmal genießt die übersetzte Variante den Vorzug der Deutlichkeit. Deutlicher kann kaum gesagt werden, dass in dieser ökonomischen Perspektive jede Idee von relativer künstlerischer Autonomie verloren geht, dass Flexibilität und Mobilität in keiner Weise als Freiheitsgewinn, sondern als rein ökonomischer Imperativ eingeführt werden. Vollends klar wird der Widerspruch der „sanften Macht“ dort, wo auf der operativen Ebene der Begriff der Kulturindustrie ins Spiel kommt. Das Feld der Kulturpolitik wird durch die massive Einführung des vor allem im angloamerikanischen Bereich schon durchgesetzten Begriffs „creative industries“ einer diskursiven Verschiebung unterzogen, die nicht anders denn als Instrument neoliberaler Ökonomisierung des kulturellen Felds verstanden werden kann.

Die Mitteilung betont, „dass kreative Unternehmer und eine lebendige Kulturindustrie eine einzigartige Innovationsquelle für die Zukunft darstellen“ würden. Vor allem auf deutschsprachigem Terrain frage ich mich immer wieder, was mit der Rezeption von Horkheimers und Adornos wahrlich nicht schlecht verbreitetem „Kulturindustrie“-Aufsatz passiert ist. Zugegeben, es gibt einen Unterschied zwischen dem Phänomen, das Horkheimer und Adorno vor mehr als 60 Jahren als Kulturindustrie bezeichnet haben und jenen Unternehmungen, die heute diesen Stempel aufgedrückt bekommen. Die Kreativitätsfabriken der 1940er, wie etwa das Zeitungswesen, das Kino, das Radio und das Fernsehen, passten sich nach Horkheimer und Adorno als letzte den Kriterien der fordistischen Fabrik an: die Kultur quasi als zuletzt aufgegebenes Terrain. Die Entwicklung der „creative industries“ in den letzten Jahrzehnten kann umgekehrt als Avantgarde eines neuen postfordistischen Paradigmas verstanden werden, das die Kreativen in eine ganz spezifische Sphäre der Freiheit und der Selbstregierung entlässt.

Um nochmals auf den Widerspruch der Paradigmen 1 und 2 zurückzukommen, auf die idealistische Beschwörung der Kultur als Seele der Zivilisation und der Europäischen Union als sanfte Macht einerseits sowie die straffe Einführung von ökonomischen Parametern und Begrifflichkeiten andererseits: Dieser Widerspruch ist in Wirklichkeit keiner. Konservativ-idealistische Stehsätze sind vielmehr die komplementäre Kehrseite der neoliberal-ökonomisierenden Diskurse, der augenscheinliche Gegensatz zwischen Wärme und Sanftmut der kulturellen Identität Europas auf der einen Seite und den kalten, harten Fakten neoliberaler Ideologie (also nach der Mitteilung: Kultur und Kreativität als Investition mit dem Ziel des Wirtschaftswachstums, Arbeitsplatzbeschaffung und des Standortvorteils) andererseits, dieser Gegensatz stört nur die PhilosophInnen, nicht aber das Geschäft.

Was ist dieser mehrfachen diskursiven Verschiebung sowohl als Praxis als auch begrifflich entgegenzustellen? Wie gelangen wir zu einem dritten Paradigma, einer emanzipatorischen Kulturpolitik, die vor allem mit demokratiepolitischen Argumenten hantiert? Dieses dritte Paradigma ist zunächst weniger in den programmatischen Anteilen zu suchen als in sehr pragmatischen Umsetzungsfragen. Zuerst finden sich emanzipatorische Diskurse vor allem in der existierenden Praxis transnationaler Kooperation, sei sie nun mit Unterstützung der EU zustande gekommen oder nicht. Durch scheinbar technokratische Verbesserungen der Programme sind in den vergangenen Jahren letztlich auch Veränderungen der EU-Kulturpolitik auf inhaltlicher Ebene entstanden. Und dennoch möchte ich nach wie vor auf die diskursiven Wirkungen der Programm-Ebene bestehen und daher zuletzt noch einige Vorschläge zur produktiven Umdeutung der Begrifflichkeiten der bestehenden Programme und der Mitteilung vorschlagen. Mobilität der AkteurInnen etwa könnte auch bedeuten, kritisch zu den aktuellen Formen der Prekarisierung und Flexibilisierung im kulturellen Feld Stellung zu nehmen und neue Formen der selbst organisierten Mobilität zu entwickeln. Unter dem Stichwort der Mobilität von Kunstwerken kann auch versucht werden, einen Diskurs über die (post-)kolonialen und (post-)imperialen Bedingungen zu fördern, denen die Sammlungen in den meisten europäischen Museen unterliegen. Hier könnte eine wirklich transeuropäische Dimension des Teilens und des Austausches entstehen, die vor allem auch das in der Mitteilung angesprochene Feld der EU-Außenbeziehungen betrifft. Mobilität kann hier gleichermaßen zu einer Frage des Umgangs mit der kolonialen Vergangenheit Europas werden wie zur Debatte über die aktuellen neokolonialen Praktiken im Erweiterungsprozess der Europäischen Union – und ich spreche hier vor allem über die problematischen Funktionen von – auch österreichischen – Banken und Versicherungen in diesem Prozess. Der Begriff der Interkulturalität schließlich muss nicht unbedingt ein fader Ersatz der Multikulturalität sein, mit dem bescheidenen Ziel, als bestehend vorausgesetzte Kulturen in Dialog zu bringen. In seinem Umfeld können sich Praxen entwickeln, die künstlerische migrationspolitische Themen einbringen, etwa – um es tagespolitisch zu kodieren – zur Problematisierung der Asylgesetzgebung.

Und lassen Sie mich noch einen letzten Vorschlag machen, den ich in der Tat Ernst meine. Die Europäische Union kann auch aus den best practices der nationalen Kulturpolitiken ihrer Mitglieder lernen. Was Österreich da zu bieten hätte, wäre auf jeden Fall ein radikalsubjektivistisches Instrument, das in den 1990er Jahren aus meiner Sicht sehr erfolgreich war. Warum sollten wir also nicht die in der Mitteilung enthaltene Idee der „Kulturbotschafter“ in folgendem Sinn umdeuten: Statt ein paar alte Männer „repräsentative Ansichten äußern“ zu lassen, könnte man das Modell der österreichischen BundeskuratorInnen auf der EU-Ebene weiterdenken: also etwa ein paar jüngeren ExpertInnen für eine gewisse beschränkte Zeit Ressourcen überlassen, um damit transnationale, multilaterale, über Europa und auch über das kulturelle Feld hinaus gehende, Projekte nicht nur zu fördern, sondern vielleicht auch zu initiieren.

Literatur

RUDOLF, BURGER (1992): „Die falsche Wärme der Kultur“, in: Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Neue Heimaten, Neue Fremden, Wien: Picus, S. 65-77
Europäische Kommission: Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung Mitteilung

Gerald Raunig, Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia+Kant 2007

Gerald Raunig ist Philosoph und arbeitet am European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp) in Wien.

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