„Unschuld“

Lässt sich ein rassistisches Zeichen in ein antirassistisches umdrehen? Kann man nach einem antirassistisch gemeinten Stück über Rassismus diskutieren? (Überzeichnete) Erinnerung an ein Publikumsgespräch.

Zur Debatte um Rassismus und Antirassismus anlässlich der Inszenierung eines Stücks von Dea Loher am Deutschen Theater in Berlin. 

Lässt sich ein rassistisches Zeichen in ein antirassistisches umdrehen? Kann man nach einem antirassistisch gemeinten Stück über Rassismus diskutieren? (Überzeichnete) Erinnerung an ein Publikumsgespräch.

Vor dem Stück. „Jetzt habe ich neue Stiefel“, sagt die Frau neben mir zu ihrer Begleiterin und streicht sich über ihr Bein. Es ist ein Theaterabend an einer deutschen Bühne. Im Foyer im 1. Stock sitzt ein Teil des Publikums auf grün gepolsterten Sesseln unter dem Luster und wartet auf die Worte des Dramaturgen zur Einführung. Unschuld, das sei ein Stück der bedeutendsten deutschen Gegenwartsdramatikerin, inszeniert vom einzigen Regisseur, der einen Eintrag im Brockhaus hat, sagt er, und er sagt es sympathisch. Wer von uns könne das schon von sich behaupten? Eine Dramatik der sozialen Aufmerksamkeit habe die Autorin geschaffen, sie erzähle von benachteiligten, entrechteten Figuren.

Es ist die 15. Aufführung, und ich habe gelesen, dass bei der 14. Aufführung bei der ersten Szene 42 Personen schweigend den Saal verließen. Der Großteil von ihnen selbst Regisseur_innen, Schauspieler_innen, Dramaturgen. Sie protestierten dagegen, dass zwei weiße Schauspieler des durchgehend weißen Ensembles mit schwarzer Schminke im Gesicht und tiefrot geschminkten Mündern zwei „illegale schwarze Immigranten“ spielen, wie es in rassistischen Bühnenshows seit gut zwei Jahrhunderten üblich ist.

Nach dem Stück. Die Chefdramaturgin des Regisseurs und der Intendant sitzen vorne auf zwei der grün gepolsterten Sessel. Der Dramaturg steht und sagt, die beiden Schauspieler kämen gleich. Der Regisseur inszeniere leider gerade nicht in Berlin. Neben dem Theaterpublikum dieses Abends sind einige jener 42 gekommen, die letztes Mal aufgestanden und gegangen sind. „Vielleicht ist Ihnen aufgefallen“, beginnt der Dramaturg, „dass wir bei dieser Inszenierung etwas anders gemacht haben“. Er möchte gar nicht so viel erklären. „Wir wollen gerne wissen, wie es bei Ihnen angekommen ist.“

Keine Küchenrealität

Wortmeldung erste Reihe, Mann, graue Haare. „Also ich bin in Erwartung dieses blackface gekommen. Für mich wäre das kein Problem gewesen, für mich wäre das akzeptabel.“ Diese Lösung, die beiden jetzt weiß zu schminken, finde er aber sehr gut. „Jetzt werden die, die über alles meckern, stumm“, gibt sich ein anderer zwischen den Sesselreihen befriedigt. Eine Frau, die ganz hinten an die Bar gelehnt steht, fragt nach vorne, warum nur diese beiden Figuren weiß geschminkt sind und die anderen nicht. Sie sei dankbar, dass experimentiert wurde, das blackface wegzulassen. „Aber warum bleibt das Bild vom Schwarzen, der nicht hierher gehört?“ Auch ohne schwarze Farbe, meint eine Frau neben ihr, seien die beiden Figuren seltsam markiert. Dass Schauspieler 2 an manchen Stellen herum springe und „Uga-Uga“ mache, gefalle ihr überhaupt nicht. „Das ist ja ganz klar. Die beiden Männer haben keinen Pass“, interpretiert jemand aus der Mitte die Mittel. „Deswegen müssen sie ihr Gesicht verstecken, Identitätsprobleme wie die anderen Figuren, können die sich gar nicht leisten.“ „Der Süden war weg“, ruft eine Frau‚ „sie sind in Europa angekommen“.

„Theater setzt ein Zeichen“, sagt der Dramaturg, „das ist vieldeutig“. Man wolle nicht sagen, wie es zu verstehen sei, und dann sagt er doch, dass sich die beiden Figuren von den anderen unterscheiden, auch durch Zuschreibungen. Das sei nicht immer böswilliger Rassismus. Man habe intern viele Varianten diskutiert, auch die Schminke ganz wegzulassen, es hätte unterschiedliche Meinungen gegeben. Man sei sich nicht hundertprozentig schlüssig. Wichtig sei die große Künstlichkeit. „Als Mensch geredet“, sagt er, „nicht als Dramaturg: Das ‚Uga-Uga‘ geht nur unter dieser Künstlichkeit, sonst wäre es falsch“. Die Chefdramaturgin stimmt ein: Eine Frau im Stück habe rosa Haare, eine Philosophin werde von einem Mann gespielt. Das sei eine albtraumhafte Welt, wie der Regisseur sie erlebe. Sie verstehe, dass man das verwendete. Frage aus dem Publikum, zu wessen Fantasie diese Gorillaszene gehöre? Kurz Stille.

„Der will einfach hoch hinaus“, schmettert Schauspieler 2 und schmettert es gleich nochmal in den Raum. „Der will einfach hoch hinaus. Wie der Gorilla, der auf das Empire-State-Building klettert.“ Große Augen. Frage aus dem Publikum: Wäre ihm das bei einer weißen Figur auch eingefallen? Schauspieler 2 sagt etwas von Geld, der Dramaturg erklärt leicht verzweifelt. „Er meint, das Geld treibt ihn dahin.“ Wortmeldung, um Fassung bemüht: „Zu dieser King-Kong-Parallele: Wenn man ein Stück über Rassismus macht, dann muss man sich auch mit rassistischen Bildern auseinandersetzen.“ Schauspieler 2 macht sich zu. Noch zwei Beiträge wird er diesen Abend liefern. Dass der Rassismus-Vorwurf endlich aus dem Raum müsse und später, dass sich auch ein Diabetes-Verband bei der Autorin beschwert hat. So als zeige das, wohin die Diskussion führe.

Schauspieler 1, zeigt auf, er scheint aufgewühlt. Das sei schon die dritte Diskussion. Immer komme der Vorwurf, sie hätten sich nicht damit auseinandergesetzt. Tatsächlich hätten sie sich aber total damit auseinandergesetzt. „Wir bekommen ‚Rassist’ auf die Stirn gepinselt und ihr behauptet, ihr hättet ein Reinigungsmittel dafür.“ Er fühle sich unglaublich eingeengt. Kunst sei nicht objektiv, Kunst sei immer subjektiv. Der Vorwurf habe ihn unglaublich berührt, aber man müsse nicht jedes Mittel erklären. „Wenn die Kunst eingeschränkt wird, beugen sich mir die Zehennägel auf.“ Der Intendant erklärt väterlich tröstend, dass nun einmal sie eine Zuschreibung bekämen. Zum Publikum sagt er, der Regisseur habe verschärft, er wolle keine Küchenrealität. Alle Figuren seien überzeichnet. „Wir spielen mit der Wahrnehmung.“ Schauspieler 1 fährt sich durch die Haare, lümmelt nach vorne und stützt seinen Kopf über den Knien ab. Er wirkt auch überzeichnet. Eine Schauspielerin, die im Stück eine Diabetikerin mit Krücke gibt, tritt kerzengerade vor das Publikumsgesprächspublikum. Man müsse bedenken, was für ein ungeheurer Eingriff in die Arbeit das sei. Schauspieler 1 und 2 hätten das ausprobiert, das verdiene eine unglaubliche Anerkennung.

Unsere Befindlichkeiten

Publikumsgespräch, Wortmeldung links: Die Wahrnehmung sei schon extrem sensibilisiert, andere Dinge würden nicht als diskriminierend wahrgenommen. Wortmeldung dahinter: Das sei Berlin, in Frankfurt hätten wir diese Diskussion nicht. Analytisch: Bei der Einführung wurde gesagt, das sei ein Stück über Schuld. Hier werde massiv mit Schuldgefühlen gearbeitet. Wortmeldung Mitte: Sie gehe oft ins Theater und habe viele schwarz geschminkte Gesichter gesehen. Jetzt frage sie sich zum ersten Mal, ist das Mittel okay? Wortmeldung hinten: Die Gruppe wolle ein Zeichen tabuisieren. Aber bezogen auf das Stück, auf den ganzen Text, wo stecke da der Rassismus? Das hätte er gerne erklärt.

Eine der 42 fragt, was das heißen soll, Kunst ist frei? Das finde sie schwierig, gar nix sei frei. Alle seien sozialisiert, es gebe einen Raum und in diesem könne man sich entscheiden. Eine andere der 42 findet das Stück gar nicht interessant. Es suggeriere, Schwarze Menschen lebten nur südlich von Stuttgart. Es erzähle ihr nicht die Geschichten von hier. Eine Frau erzählt, sie kenne den Ursprung dieser Bilder. Sie werde gefragt, ob ihre Haut abfärbt. Sie werde gefragt, ob ihr Vater von einem Affen abstammt. „Ich weiß durch mein ganzes Leben, was solche Bilder auf der Bühne bewirken.“ Die Chefdramaturgin wirkt nachdenklich. Sie arbeite seit zehn Jahren mit dem Regisseur, sie kenne die Gorilla-Pose von anderen Stücken, heute Abend sei es ihr eiskalt über den Rücken gelaufen. Man überdenke seine Zeichen. Sie macht eine Pause. Der Regisseur wolle provozieren, sagt sie, als zweifle sie, ob das noch ihr Regisseur sei. Er wolle gegen das Publikum provozieren. Wen provozieren, fragt einer der 42. „Auf Minderheiten einprügeln …“, beginnt er.

Da wird es dem jungen Lederbejackten neben mir zu viel. „Komm gehen wir, das ist ja lächerlich“, sagt er zu seiner deutlich älteren Begleitung. Der Wein wippt in seinem Glas, aber sie bleiben sitzen. Die Chefdramaturgin fährt fort, dass, ja der Gegner das Establishment sei, so sei sie sozialisiert. Das sei die weiße Mehrheit, da sei sie völlig d’accord. Wortmeldung, Frau neben mir, neben dem Lederbejackten: Sie verstehe diese Diskussion nicht, sagt sie berührt, sie sehe das Stück zum zweiten Mal. Da kämen zwei ganz aus der Fremde. Die seien arm, die seien am Verrecken. Die könnten sich die Menschheit nicht leisten, eine ertrinkende Frau zu retten. „Mir hat das so viel gegeben, dieses Stück“, sagt sie. Sie wendet sich zur Frau, die von ihrer Erfahrung mit rassistischen Bildern erzählt hat: „Da kommen Sie mit Ihrer Lebenserfahrung, ich mit meiner. Wenn wir alle mit unseren Befindlichkeiten kommen, dann kann da oben auf der Bühne nichts mehr stattfinden. Ich weiß gar nicht, ich bin heute einfach ins Theater gekommen. Das ist ein verdammt gutes Stück.“ Als einer der 42 laut sagt, Rassismus sei keine Befindlichkeit, sondern unser aller Problem, spricht sie weiter. Das sei unfair, aggressiv. „Ich weiß nicht, ich bin zu einem ganz normalen Publikumsgespräch gekommen“, sagt sie. Sie dürfe ihre Wahrnehmung schildern. Der Dramaturg bestätigt, dass sie das dürfe.

Von vorne erklärt der Intendant, sie hätten gedacht, sie könnten das blackface der Minstrel-Shows umdrehen. Sie wüssten nun, dass das so nicht ankomme. „Wir haben euch gesagt, das war anders gemeint“, sagt er zu jenen der 42. Da seien sie im Gespräch nicht weitergekommen. Die Chefdramaturgin bilanziert: „Dass man ein rassistisches Mittel einsetzt mit antirassistischer Absicht, das funktioniert nicht. Das haben wir gelernt.“ „Wir haben zugehört und reagiert. Wir werden das auswerten und weiter wirken lassen“ sagt der Dramaturg und beginnt zu versuchen, das Gespräch zu beenden. „Wir werden heute Abend nicht fertig werden …“ Nach zwei weiteren längeren Wortmeldungen springt Schauspieler 1 auf und stößt befreit aus: „Ja, die Hautfarbe ist ganz egal!“

Leute reden durcheinander. „Bitte hör zu“, ruft eine Frau von hinten und greift sich an die Wange. „Das ist echt, das ist keine Farbe, die abgeht. Und es macht einen Unterschied.“ Wer am Hauptbahnhof kontrolliert werde? Welche Mutter, die mit ihrem Kind im Zug unterwegs ist, aus dem Schlaf aufgeweckt werde? Schauspieler 1 geht von vorne ein paar Schritte auf die Frau hinten zu, er setzt sich verkehrt auf einen der grün gepolsterten Sessel in der ersten Reihe, die übrigen Sesselreihen zwischen ihnen. „Ja, es ist egal ob schwarz oder weiß“, sagt er nochmals, als sei es bestätigend. „Da sind wir so“, sagt er und legt seinen Mittelfinger über den Zeigefinger. „Da sind wir so.“

Katharina Ludwig arbeitet als freie Journalistin/Autorin in Berlin.

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