Menschen, die sprechen

Journalist_innen und Auto-/Biograf_innen wenden verschiedene Strategien an, um sich die Interpretation der Geschehnisse nicht nehmen zu lassen – Ergebnis davon sind eine Reihe neuer Reportagen und Erzählungen zum Thema Flucht und Migration

„Welches Theater wird da gespielt, bei dem wir Anlass geben, aber selbst nicht vorkommen? Ich habe noch keine Antwort gefunden. Vielleicht wollten sie uns schonen, und so wie wir aussahen, in diesen Decken, wie die letzten Geretteten der Welt, könnten sie leicht gedacht haben, dass wir geschont werden müssen. Ich hätte trotzdem gerne mit ihnen gesprochen. Und ich wäre auch gerne etwas gefragt worden. Das war schließlich meine Fahrt.“ Als die Protagonistin Helen in Maxi Obexers Roman „Wenn gefährliche Hunde lachen“ bei ihrer Ankunft an der Küste Spaniens die aufgeregte Pressearbeit europäischer Journalist_innen miterlebt, ist ihre Analyse: Nicht gefragt werden, nicht reden dürfen und die Mittel zur Verbreitung des Gesagten vorenthalten bekommen – so werden Erfahrungen zum Verstummen gebracht. Als Gegenwehr entwirft sie eine Utopie selbstbestimmter Medienarbeit: „Es sind verschiedene Menschen zu sehen, Afrikaner größtenteils, sie sprechen ausführlich, sie berichten und erläutern, erklären und kommentieren, und während Kamera und Mikrofon keine Eile haben, entsteht vor uns das Bild der Menschen, die sprechen.“ Journalist_innen und Auto-/Biograf_innen wenden verschiedene Strategien an, um sich die Interpretation der Geschehnisse nicht nehmen zu lassen – Ergebnis davon sind eine Reihe neuer Reportagen und Erzählungen zum Thema Flucht und Migration

Während Günther Walraff sich bemüßigt fühlt, mit dunkelbrauner Schminke im Gesicht ein authentisches Erleben von „Schwarzsein in Deutschland“ herzustellen, gibt es eine jüngere Riege an Journalist_innen und Autor_innen, die sich aus solidarischer oder biografischer Perspektive dem Themenkomplex Flucht und Migration widmen und dabei ihre eigene Position mitzureflektieren versuchen. Bei jenen, die das eigene Erleben dokumentieren, geht es wie so oft in der autobiografischen Geschichtsschreibung nicht nur um eine Chronik der persönlichen Geschichte, sondern darum, sie eingebettet und begründet durch die Umstände, die strukturelle Gewalt, die politischen Verhältnisse zu erzählen. Die Motivation antirassistischer Journalist_innen ist in den meisten Fällen sehr ähnlich gelagert und nicht zuletzt von dem Wunsch getragen, der Arbeit von Mainstreammedien in Transit- und Zielländern respektvolle Fragen und kritische Analysen über Recht auf und Verantwortung für (die Folgen und das Gelingen von) Migration und Flucht entgegenzustellen.

Stellvertretende Solidarität, antirassistische Autobiografie

Dem Nicht-Gefragtwerden entgegnet die Berliner Aktivstin und Journalistin Leona Goldstein mit einer Arbeit, die auf ihren Reisen und Besuchen in Nord- und Westafrika, Ost- und Mitteleuropa entstanden ist. Sie portraitiert das Leben, die Arbeit, das Warten und Kämpfen entlang von Migrationsrouten. Diese führen sie von Flüchtlingslagern an der spanischen Grenze zu Anhaltelagern in der Ukraine, zu (Haus-)Arbeitsplätzen in Italien und zu entlegenen Unterkünften für Asylwerber_innen in Deutschland. In der dreisprachigen Publikation „displaced – Flüchtlinge an Europas Grenzen“ (2008), die in Zusammenarbeit mit der NGO Pro Asyl entstanden ist, kommen in Zitaten, die als Bildtexte fungieren, und in Interviews in den auf einer DVD beigelegten Dokumentarfilmen Leute in verschiedenen Situationen auf dem Weg hin zu einem Sich-Niederlassen zu Wort. Dieses Niederlassen, Ausruhen, Ankommen, der sehr simple Wunsch nach einem interessanten, befriedigenden und sicheren Leben, findet an den Innen- und Außengrenzen Europas, zwischen den Institutionen seiner Abschottung und der geringen angebotenen Hilfestellung statt. Zwar trägt die Publikation die strategische Handschrift der NGO, aber Goldsteins Fotografien bestimmen die Blickrichtung und die Momentaufnahmen, die über die Migrationsreisen erzählen: Das sind nicht nur Momente der Ängste und der Trauer (wiewohl auch die), sondern auch solche des Kampfes und der Zuversicht.

Von der ganzen Route, vom Anfang bis zum vorläufigen Ende, erzählt auch Maxi Obexers eingangs zitierter Roman: Als deutschsprachige Schriftstellerin kann es gar nicht ihr Auftrag sein, vor der Kritik an den Zielländern und ihren rassistischen Aufnahmekriterien Halt zu machen. Dieser solidarische Aufschrei über die not-welcome-Politik Deutschlands gegenüber ausgelaugten, abgemühten Personen, die ein Glücksversprechen einzulösen haben, verpackt in einen auf den ersten Blick nicht weiter auffälligen Roman, zerstreut die Zweifel, die mensch an Obexers stellvertretender Position haben könnte. Obexer nimmt Bezug auf die Kämpfe der Gruppe women in exile in Deutschland: kein vereinzelter Geniestreich, sondern ein im Umfeld politischer Organisierung gewachsener Roman.

Ganz ohne Stellvertretung kommt die 2011 erschienene Erzählung „Bis an die Grenzen“ von Fabien Didier Yene aus. Yene hat damit eines der ersten belletristischen Werke in deutschsprachiger Übersetzung vorgelegt, das die vielzitierte Reise quer durch Afrika bis an die Grenzen Europas aus Sicht eines beinahe Angekommenen erzählt. Ausgehend von der Route, die er selbst von Kamerun in Richtung Mittelmeer wählen musste, spricht auch Yene von einer strukturellen und funktionalen Brutalität, von Rassismus und rassistischer Ökonomie, die Grenzschließung und -öffnung steuern, aber auch von den Strategien und der Solidarität, die praktiziert werden, um lebend irgendwo anzukommen und sich dort vielleicht einzurichten.

Den Weg, den Yene teilweise mehrmals reisen musste, um schließlich in Marokko vor dem europäischen Grenzsystem zu kapitulieren – sich dort aber ein eigenständiges Leben aufzubauen und Europa schließlich per Literatur zu bereisen –, hat auch der italienische Journalist Fabrizio Gatti für seine 2010 in deutscher Übersetzung erschienene Reportagensammlung „Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“ genommen –gemeinsam mit ein paar Dutzend anderen Leuten auf Lastwägen, in Kleinbussen und zu Fuß von Westafrika an die Mittelmeerküste des Nordens. Gatti, bekannt durch seine Reportagen für die italienische Zeitung L’Espresso, wird noch am ehesten zu Recht als „Walraff Italiens“ gehandelt, immerhin beruht die Reportage, die seinen Ruhm begründet hat, auf einem Sprung ins Mittelmeer, um sich sodann als „kurdischer Flüchtling“ im Erstaufnahmelager Lampedusa festhalten zu lassen (Gatti 2005). Anders auf der Reise am Festland Afrikas – hier ist er undercover jenen gegenüber, vor denen es sich Angst zu haben empfiehlt, aber ohne Alter Ego gegenüber den Mitfahrenden und ohne sein Leben und seine Zwänge den ihren gleichzustellen. Was Gattis Textform sympathisch macht, ist seine gewollte, aber nicht anmaßende Subjektivität, die seine eigenen Ängste und Schmerzen denen der Protagonist_innen seiner Beobachtungen in angemessener Relation gegenüberstellt.

Ähnlich wie Gatti arbeitet Gabriele del Grande, ein junger italienischer Journalist, der den antirassistischen Webblog fortresseurope betreibt. In seinen zwei Buchpublikationen „Mamadous Fahrt in den Tod“ (2008) und „Das Meer zwischen uns“ (2011) widmet er sich vor allem einer gründlichen Recherche europäischer Grenzpolitiken und ihrer militärischen Implikationen. Eingebettet in die Lebensgeschichten derer, die del Grande unterwegs trifft, klagt er mit beachtlicher journalistischer Präzision jene europäischen und nationalen Institutionen an, die ständig mit neuen Mitteln bemüht sind, tausende Menschen am Erreichen europäischer Territorien zu hindern und dafür offensichtlich ganz ohne Skrupel deren Tod in Kauf nehmen.

Streitschriften für ein antirassistisches Europa

Grande ist, und das macht seine Reportagen so sympathisch, gleichzeitig Journalist und Aktivist. Seine Recherchen scheinen nicht in erster Linie Zweckdienlichkeiten für journalistische Publikationen zu sein, sondern Grundlagenforschung für Klagen, Behördengänge und antirassistische Strategien. Die personalisierten Geschichten, anhand derer del Grande von der versuchten Abschottung Europas erzählt, dienen nicht nur der Illustration, sondern sind Basis für Freund_innenschaften und politische Kontakte, die dazu beitragen, ein transnationales Netzwerk gegen Fortress Europe zu spinnen. Anders als im Mainstreamjournalismus bleibt nicht das schale Gefühl, dass die Geschichten, die das Leben von Menschen ausmachen – oder dessen Ende bedeuten –, für die Wochenendausgabe einer mitteleuropäischen Zeitung herhalten müssen und dann wieder vergessen werden.

Del Grandes selbst gemachter Auftrag geht so weit, dass er im Kreis derer, die aufbrechen wollen, beinahe zu missionieren beginnt – gegen ein Italien der rassistischen Ausschreitungen, gegen ein Europa als Projektionsfläche junger Träume von Selbstverwirklichung, gegen das Risiko, im „Friedhof mit dem Namen Mittelmeer“, begraben zu werden. Aber seine missionarische Macht ist – und das ist gut so – relativ beschränkt: „Meine Erzählungen und Fotos hatten die Aufmerksamkeit von Dutzenden Neugierigen rund um den Kiosk von Niagho unter dem Baobab Baum hervorgerufen. Doch niemand schien auch nur im Entferntesten schockiert, kein Zeichen von Überraschung. Im Gegenteil. Je dorniger der Weg sich gestaltete, desto mehr wollten sie beweisen, was sie wert waren.“ Und er macht auch nicht den Fehler, zu übersehen, dass die Migration gelingen kann und dass sie dann, wenn sie gelingt, vielleicht zu Recht ein Traum vom besseren Leben war.

„Geht und rüttelt an den Drahtzäunen von Melilla.“ Spätestens dieser Satz macht Yenes Erzähldebut zu einem Aufruf an alle Seiten: Gebt nicht auf; reißt die Grenzen nieder. So pathetisch diese Übersetzung sein mag, so ernsthaft ist ihr Begehren, und so gut vermittelt sie den Sinn und Zweck der Zeug_innenschaft – nicht nur Bericht abzulegen, sondern auch weiter zu kämpfen. Und während die deutsche Übersetzung von del Grandes neuem Buch – in dessen viertem Kapitel noch die Rede davon ist, dass die tunesischen Fischer Abdelbasset Zenzeri und Abdelkarim Bayoudh, die 2007 schiffbrüchigen Flüchtlingen zu überleben halfen und deshalb in Italien für Schlepperei angeklagt wurden – druckfrisch ausgeliefert wird, kommt die lang ersehnte Pressemeldung vom 21. September 2011: Freispruch durch das Berufungsgericht Palermo.

Lisa Bolyos ist antirassistische Aktivistin unter anderem bei w2eu.info und beim 1.März/Transnationaler Migrant_innenstreik.

 

Besprochene Bücher

Gatti, Fabrizio (2010): Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. München.

Goldstein, Leona (2008): displaced – Flüchtlinge an Europas Grenzen. Bildband und zwei Dokumentarfilme (frz./engl./dt.). Karlsruhe.

Grande, Gabriele del (2011): Das Meer zwischen uns. Flucht und Migration in Zeiten der Abschottung. Karlsruhe.

Ders. (2008): Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer. Karlsruhe.

Obexer, Maxi (2011): Wenn gefährliche Hunde lachen. Wien/Bozen.

Yene, Fabien Didier (2011): Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration. Celovec.

 

Andere Quellen

fortresseurope.blogspot.com

Gatti, Fabrizio (2005): Io Clandestino di Lampedusa. L’Espresso, 7.10.2005.

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