Klassenfotos

In der Sowjetunion beschränkte sich die Fotografie zur Zeit der Industrialisierung auf eine „agitatorisch-propagandistische und erzieherisch-organisatorische Funktion“ (Sartorti 1979: 183). Die Reportagefotografie diente mehr der Propagierung eines Ideals als der kritischen Darstellung der Realität und ließ für Widersprüche des sozialen Wandels keinen Platz.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine sozial engagierte Fotografie, die heute als „klassische“ sozialdokumentarische Fotografie gilt. Von den Anfängen über ihre „Hoch-Zeit“ in den Reportagen und Bildserien der 1930er Jahre bis zum Beginn des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs ist es eine Fotografie, die die Abbildung der Lebensbedingungen der unteren Klassen verfolgte. Mit Ausnahme der deutschen ArbeiterInnen-Fotografie war sie meist von Angehörigen der Mittelklassen initiiert, ideologisch und finanziell an größere Institutionen gebunden, hatte die Überwindung der abgebildeten Bedingungen zum Ziel und diente somit dem Zweck des sozialen Kampfes.

Blicke auf gefährliche Klassen

Mit Bourdieu davon ausgehend, dass eine Klasse sich sowohl durch ihre Wahrnehmung als auch durch das Wahrgenommen-Werden definiert, beginnt die „fotografische Existenz“ der verarmten ArbeiterInnenklasse in Europa und den USA Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Auftreten einer sozial engagierten Fotografie. Mit Jacob August Riis in New York und Hermann Drawe in Wien lassen sich diese Anfänge, die das (Sub-)Proletariat ins Zentrum des fotografischen Interesses stellten, verbinden. Dabei hatten Riis und Drawe keine besonders gute Beziehung zu ihren fotografischen „Objekten“, glichen ihre meist bewaffneten und unter Polizeischutz stehenden „Streifzüge“ durch Slums, Notunterkünfte, überfüllte Obdachlosenheime und Massenquartiere doch mehr einem Überfall als journalistischer Recherche. Ihre Fotografien dienten – unterstützt durch Vorträge – als Belege für die sozialen Missstände sowie als Appell, der „ganz auf die Selbstregulierungskraft des Systems und die Beseitigung der Probleme durch eine verantwortungsbewußte und vor allem informierte Bürgerschaft“ setzte (Jung 1984: 48). Dieser Aufruf stützte sich vor allem auf die Warnung vor Gefahren, die von den „gefährlichen Klassen“ ausgingen, falls sich das BesitzbürgerInnentum der Pflicht entziehen sollte, notwendige Reformen zu unterstützen.

Den Begriff der „klassischen“ sozialdokumentarischen Fotografie prägte besonders der US-amerikanische Soziologe, Lehrer und Fotograf Lewis Wickes Hine. Um soziales Unrecht anzuklagen, begann er zunächst in seinem Schulalltag zu fotografieren und fertigte später unter anderem eine Dokumentation über die Immigration auf Ellis Island an, jene Insel vor New York, auf der die Einwanderungsbehörde untergebracht war. Hines Werk gilt als eines der ersten großangelegten fotografischen Projekte der Geschichte, in denen sozial Benachteiligte visuell und öffentlich, da medial präsent, wahrgenommen werden. Gleichzeitig ist es aber wieder der Blick einer gesellschaftlichen Klasse auf eine andere. Migration war auch Thema der Fotografie von Alice Austen, die als eine der ersten realistic documentary photographers gehandhabt wird. Zu Beginn der 1890er Jahre fotografierte sie im Auftrag der Gesundheitsbehörden MigrantInnen, die – bevor sie überhaupt nach Ellis Island kamen – durch die Quarantänestationen im Süden von Staten Island und auf die eigens dafür erweiterten Inseln Hoffman und Swimburn Island mussten. Später widmete sich Austen den EinwandererInnenvierteln von Lower Manhattan. Ihr Frühwerk allerdings ist ein Blick auf die eigene Klasse. Picknicke im Grünen, der Komfort bürgerlicher Wohnsituationen und safety biking als neuer Unterhaltungssport waren die Motive ihrer ersten Serien.

Fotografierte Propaganda

In der „Hoch-Zeit“ der sozialdokumentarischen Fotografie entstand ein groß angelegtes und staatlich organisiertes Fotoprojekt, das im Rahmen des New Deal die Lebensumstände benachteiligter sozialer Gruppen in den USA bildlich erfassen sollte. Eine ganze Reihe von FotografInnen dokumentierte im Auftrag der Bundesbehörden die Lebensbedingungen von LandpächterInnen, WanderarbeiterInnen und der ländlichen Bevölkerung. Vor allem unter der Farm Security Administration (FSA) entstanden Bilder über die Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression nach 1929. Die Hauptaufgabe bestand zunächst in der Produktion und Distribution von fotografischen Bildern, die die Notwendigkeit und Wirksamkeit der Maßnahmen der FSA visuell unterstützen sollten. Dazu bekamen die FotografInnen konkrete Anweisungen, welche Motive sie abliefern sollten, und hatten nach Abgabe der Filme meist keine Kontrolle über die Verwendung der Bilder. Der Dokumentationsauftrag begrenzte sich auf die Interessen der New-Deal-Politik. Radikal ausgedrückt bedeutete dies, die wenigen organisierten Gegenbewegungen zu ignorieren und keine Ursachenforschung zu betreiben. Dabei bestand das Zielpublikum der New Deal-Fotografie nicht aus dem dargestellten Subproletariat, sondern aus den Angehörigen jener politischen Klasse, der gegenüber die Reformmaßnahmen gerechtfertigt und propagiert wurden. Die Kritik aus den Reihen sozialistischer und kommunistischer Strömungen, der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen an einer derartigen Wirtschaftspolitik wurde von der New Deal-Fotografie nicht aufgenommen.

In der Sowjetunion beschränkte sich die Fotografie zur Zeit der Industrialisierung auf eine „agitatorisch-propagandistische und erzieherisch-organisatorische Funktion“ (Sartorti 1979: 183). Die Reportagefotografie diente mehr der Propagierung eines Ideals als der kritischen Darstellung der Realität und ließ für Widersprüche des sozialen Wandels keinen Platz. Wird bereits der sozialen Reportage der 1920er Jahre zugeschrieben, sie sei „anders als zu dieser Zeit in der übrigen Welt. Sie klagt nicht an, kritisiert nicht; aber begierig und vielleicht auch mit entzückender Überraschung registriert sie, was da alles ringsherum geschieht“ (Mrázková/Remes 1981: 37), so beschränkte sich das Registrieren in der Zeit des Stalinismus auf die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus und der ArbeiterIn als neuer HeldIn dieser Entwicklung. Mit der Auflösung aller künstlerischen (Selbst-)Organisationen und der Ausrichtung auf den sozialistischen Realismus in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zeigt die Fotografie einmal mehr nicht die real existierende ArbeiterInnenklasse, sondern die Idee einer allseits gebildeten und politisch aktiven ArbeiterInnenklasse der Zukunft.

Who’s holding the camera?

Anders als bei den eindeutig auf eine Person zurückführbaren Projekten, wie jene von Lewis W. Hine oder den FSA-Projekten (zum Beispiel Walker Evans, Dorothea Lange) in den USA, war die ArbeiterInnen-Fotografie der Weimarer Zeit ein kollektives Projekt, an dem eine große Zahl an FotografInnen und Ortsgruppen beteiligt waren. Die Fotografien in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) erschienen ohne AutorInnenvermerke, um die Anonymität der FotografInnen zu wahren und sie vor Repressalien durch Behörden, Polizei, ArbeitgeberInnen oder durch politische GegnerInnen zu schützen.

Die AIZ und die ArbeiterfotografInnen zeichneten in einem bis dahin einzigartigen Projekt das Bild ihrer eigenen Klasse. „Nach 100 Jahren Fotografie trat damit zum ersten Male die Arbeiterklasse als direkter Auftraggeber für das Lichtbild und seine Anwendung in Aktion“ (Beiler 1977: 84). In seiner Aufgabenbestimmung für eine Reportage skizzierte der Arbeiterfotograf Erich Rinka die bestimmenden Elemente dieser sozialdokumentarischen Fotografie, deren Anliegen es war, „nicht nur ein bestimmtes soziales Milieu wahrheitsgetreu, ohne alle Beschönigungen zu schildern, sondern zugleich den Kampf gegen solche Missstände organisieren zu helfen und damit etwas Handgreifliches beizutragen zur Veränderung des Dargestellten“ (Rinka 1981: 146).

Über diesen Anspruch hinaus wollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das südafrikanische Magazin Drum auch Projektionsfläche und bildpolitische Vorbildsammlung für eine Bewegung sein und war so beispielgebend für eine Menge fotografischer Projekte des antikolonialen Kampfes in Afrika. 1951 als African Drum gegründet, wollte das Magazin sowohl schwarzen urbanen Lifestyle propagieren, als auch ein politisches Gegenmedium zur Apartheid stellen. Die Fotoredaktion bestand unter anderem aus Ernest Cole, Bob Gosani, Peter Magubane und Mabel Cetu, die als eine der wenigen Fotografinnen in die offizielle Drum-Geschichte eingegangen ist. Die Drum-Fotografie gehört zum wichtigsten Archiv sozialdokumentarischer Fotografie in Südafrika, auch wenn Drum selbst mittlerweile zu einer Celebrity-Revue geworden ist.

In Europa lebte nach den StudentInnenprotesten der 1968er Jahre noch einmal die Anbindung einer engagierten Fotografie an eine soziale Bewegung und an politische Organisationen auf. Jedoch hatte sich inhaltlich eine Veränderung gegenüber der „klassischen“ sozialdokumentarischen Fotografie vollzogen. Es ging nicht mehr nur um Veränderung und Überwindung des Dargestellten, sondern auch um Erhalt und Verteidigung. Aber auch der Kampf mit der Kamera ging weiter: Das Hackney Flasher Collective, 1974 auf dem Fundament sozialistischer und feministischer Prinzipien gegründet, bestand aus zehn Frauen, die im Ost-Londoner ArbeiterInnenstadtteil Hackney wohnten und arbeiteten. Richtungsweisende Projekte jener Zeit waren unter anderem die Ausstellung Woman and Work, die die ungleichen Arbeitsverhältnisse von Männer und Frauen thematisierte, und Who’s holding the baby, die sich mit der Ideologie des Mutter-Seins beschäftigte (Heron 1979). In Fotografien und Collagen wurden hier Kämpfe um Emanzipation bebildert und gleichzeitig dokumentiert.

In Südafrika wurde 1982 das Fotokollektiv Afrapix etabliert, das sich in sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen situierte. Die Fotografinnen von Afrapix, darunter Zubeida Vallie und Deseni Moodliar, Lesley Lawson und Gille de Vlieg, die den Machismo im Kollektiv ankreideten, wurden großteils in feministischen Bewegungen aktiv (Stemberger 2010). Ein Projekt, das sowohl den Blick schärfen lehrt und immer wieder fragt, wohin er zu richten ist, als auch Zugang zu Technik und Verbreitung bietet, ist der von David Goldblatt gegründete Market Photo Workshop in Johannesburg, der eine ganz neue Schule von (schwarzen) SozialdokumentaristInnen entlässt: darunter Zanele Muholi, die, vielfach ausgezeichnet, heute unter anderem für das LGBT-Onlinemagazin Behind the Mask fotografiert. Neben den großen Kunstinstitutionen, die sich dem Werk früher und aktueller fotografischer Sozialreportage mit weißen Wänden und finanziellen Mitteln zuwenden und sie damit zwar populär machen, aber gleichzeitig ein Stück weit befrieden, lässt auch solche Arbeit einen Blick darauf zu, was in den nächsten Jahrzehnten von sozialdokumentarischer Fotografie zu erwarten ist.

Michael Bigus ist freischaffend als Fotograf und Grafiker in Wien tätig und aktiv im Kollektiv Annegang.

 

Literatur

Annegang (2008): Texte zum Besseren der Fotografie. Wien.

Beiler, Berthold (1977): Weltanschauung der Fotografie. München.

Heron, Liz (1979): Hackney Flashers Collective: Who’s Still Holding the Camera? Photography/Politics: One, Photography Workshop. London.

Jung, Bernhard (1984): Jacob A. Riis: Sozialreformer und Fotograf. In: Fotogeschichte 14/1984.

Mrázková, Daniela/Remes, Vladimir (1981): Die Sowjetunion zwischen den Kriegen. 175 Photographien aus den Jahren 1917–1941. Oldenburg.

Newbury, Darren (2009): Defiant Images: Photography and Apartheid South Africa. Pretoria.

Rinka, Erich (1981): Fotografie im Klassenkampf. Ein Arbeiterfotograf erinnert sich. Leipzig.

Sartorti, Rosalinde (1979): Bemerkungen zur sowjetischen Abteilung der Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ 1929. In: Eskildsen, U./Horak, J.-C. (Hg.): Film und Foto der zwanziger Jahre. Stuttgart.

Stemberger, Claudia Marion (2010): Spot on South Africa: Women Photographers. Interview mit Pam Warne, in: EIKON 70/2010. Wien.

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