„I say anarchy and you say sorry“

Am 9. Mai 2012 trafen sich etwa 25 bis 30 Interessierte im sonnigen Hof der Gumpendorferstraße 63b in Wien, um gemeinsam an der Frage herum zu denken, was es heute und hier bedeuten könnte, „politisch Theater zu machen“. Für viele von ihnen hat diese Frage eine existentielle Bedeutung für ihre Arbeit, ihre Produktionen, ihren Anspruch an das Theater und ihre Motivation, überhaupt Theater zu machen.

Politisch Theater machen: Bericht zu einem Offenen Diskussionsformat.

Am 9. Mai 2012 trafen sich etwa 25 bis 30 Interessierte im sonnigen Hof der Gumpendorferstraße 63b in Wien, um gemeinsam an der Frage herum zu denken, was es heute und hier bedeuten könnte, „politisch Theater zu machen“. Für viele von ihnen hat diese Frage eine existentielle Bedeutung für ihre Arbeit, ihre Produktionen, ihren Anspruch an das Theater und ihre Motivation, überhaupt Theater zu machen. Im vergangenen Herbst lud die gift. zeitschrift für freies theater den Regisseur Yosi Wanunu ein, den aktuellen Vierjahreszyklus der toxicdreams in einem Konzeptartikel vorzustellen. Claudia Bosse verfasste für die darauffolgende Nummer eine Antwort bzw. ein Weiterdenken in Form eines eigenwilligen und radikalen Grundsatztextes zur Frage, was es heute bedeuten könnte, politisch Theater zu machen. Jan Deck und Angelika Sieburg haben zentrale Positionen und diskursive Verschiebungen im gleichnamigen Buch zusammengefasst, dessen Einleitung in der folgenden Nummer der gift erschien. Dabei entstand die Idee für ein Podium – doch wichtiger als das öffentliche Format mit Publikum schien von vornherein die öffentliche Selbstverständigung der Theaterschaffenden.

Claudia Bosse und das theatercombinat beschäftigte in ihrem letzten Projekt die performative Rückkoppelung an den realen politischen Prozess des Arabischen Frühlings. Yosi Wanunu hinterfragt im aktuellen Zyklus der toxicdreams das (un-)mögliche Verhältnis von Politik und Entertainment. Gin Müller arbeitet gegenwärtig an der Schnittstelle zwischen performativen und politisch subversiven Praktiken und forscht über mögliche Funktionen des Melodrams – auch sie verfasste im Vorfeld einen Beitrag für die gift. Brigitte Marschall bespricht in ihrem Buch das Theater und die Inszenierung des öffentlichen Raums als Verhandlungsorte politischer und ästhetischer Fragen aus einer theaterhistorischen und genregeleiteten Untersuchungsperspektive. Sie alle diskutierten mit. Spontan nahm der südafrikanische Philosoph Pieter Duvenage als internationaler Gast an der Diskussion teil. Marty Huber moderierte den offenen Nachmittag.

Politisch Theater Machen berührt im Kern die Fragen, was Theater gegenwärtig gesellschaftlich noch oder wieder sein kann; ob und inwiefern im Theater politische Handlungsspielräume auszumachen sind; was Theater als Institution in seiner gesellschaftlichen Verortung überhaupt leisten kann; inwieweit angesichts gesellschaftlicher Dissoziationsprozesse (noch) von einer kritischen Öffentlichkeit ausgegangen werden kann; und in welchem Verhältnis das Theater sich positioniert oder real steht – hinsichtlich realer politischer Prozesse, aber auch im Hinblick auf Adornos erkenntnistheoretische Frage, inwieweit überhaupt Möglichkeiten zu denken sind, dass Theater (wieder) gesellschaftliche Produktivkraft wird.

Unschärfe des Politikbegriffs

Die Runde am 9. Mai landete – ausgehend von der Frage, was politisch Theater Machen bedeutet – gleich zu Beginn zielsicher im Befund der Unschärfe des Politikbegriffs. Der kann bedeuten: Als politisch denkender Mensch Theater zu machen; ästhetische Prozesse in Arbeitsprozessen zu überprüfen; aber auch, dass theatrale wie soziale Praxis, die gleichzeitig faktische Machtfelder eröffnet, nicht ohne Hierarchien zu denken ist. Welche Rolle spielen dabei überhaupt die Zuschauenden in den Augen der Theatermacher_innen?

Vom Konstatieren des Grundbefunds („We are failing miserably“) bis zur Frage einer nachhaltigen Widerständigkeit – und dem Anspruch: „Wir müssen zu den Leuten, auf andere Art raus aus der eigenen Community“ –, ist es widersprüchlich, welcher Praxisbegriff für das politische Theater gilt. Ebenso wie umgekehrt die Bestimmung der Frage widersprüchlich bleibt, was als Erfolg bewertet werden kann. Ohne Zweifel liegen verdeckt oder offen Rekurse auf Avantgardetheorien vor. Positiv geht es dabei um Dinge, die nicht mehrheitsfähig sind. Aber kann im Anspruch des Erreichens von (unterrepräsentierten) Gesellschaftsschichten der eigene Avantgardeanspruch auf eine Form der Repräsentation überhaupt ein legitimes Ziel sein; im Versuch, Theater als Laboratorium zu begreifen? Wenn ja, wer ist dann der Agent der Veränderung? Gibt es ein Volkstheater, und können wir überhaupt noch von einem konsistenten Begriff von Öffentlichkeit und damit auch kritischer Öffentlichkeit ausgehen? Das bedeutet in praktischer Konsequenz: Kann es der Institution Theater – so radikal, wie sie sein mag – überhaupt gelingen, aus ihrer gesellschaftlich repräsentativen Funktion zu entkommen?

Konstatiert wurde bei dieser Frage, dass ein merkwürdiges „Sendungsbewusstsein“ und zum Teil ein diffuser Pädagogikbegriff in den Köpfen der Theatermacher_innen herumspukt, und es blieb eine offene Frage, inwieweit das noch verstärkt oder anders im Bereich „Theater für junges Publikum“ geschieht.

Publikum

Überhaupt das Publikum: Wo wird es abgeholt? „Auf der Straße, aber es ist mühsam.“ Worin besteht der theatrale Pakt? „Es könnte auch anders sein.“ Was ist ein emanzipierter Zuschauer? „Eine andere Zukunft ist möglich.“ (Wann) Gibt es ein Gleichgewicht zwischen (Über-)Fordern, Bedienen und Verstehen? Es ist ein Aushandlungsprozess zwischen Einvernehmen, Verunsicherung und Gefährdung. Dabei darf es für manche kategorial nicht, für andere wiederum muss es existentiell darum gehen, berührt zu werden, um in der Imagination erreicht zu werden. Angst ist dafür in jedem Fall ein schlechter Ratgeber. Nur sehr selten greifen die Zuschauer_innen ungebeten in die theatrale Handlung bzw. den theatralen Akt ein. Dennoch gilt in einer kulturell saturierten Stadt wie Wien der Befund: „Es brennt nix“.

Wenn man/frau aus einer Kultur kommt, wo es als Delikt angesehen wurde und unter Strafe stand, abends heimlich ins Theater zu gehen, bekommt das Ganze eine völlig andere Existenzbedeutung und notwendigerweise einen anderen Wert. Und es gibt dabei die notwendige Forderung: „Die Unterdrückten machen ihr Theater aber selbst.“ Wobei die Ausgangssituation faktisch umgekehrt ist: ein temporär geschlossenes System weiterzuentwickeln.

Handeln und Ökonomien …

Um welche Art von Handlung handelt es sich beim Theater überhaupt? Und inwieweit wird der Arbeitsbegriff dabei insgesamt aus einer unmittelbaren Erfahrung gewonnen? Im besten Sinne ist es (auch), für einen gemeinsamen Prozess Lebenszeit miteinander zu verbringen. Das kann mit oder ganz ohne einer dahinter liegenden Vorstellung von kollektiven Arbeitsprozessen oder Kollegial-Strukturen geschehen – aber zumeist gibt es im Arbeitsprozess Arbeitsteilung und auch (anerkannt offene oder verdeckt wirkende) Hierarchien.

Hier stößt die Vision der Produktionsbedingungen an die hard facts der ökonomischen Realitäten und an die Aushandlung der Grenzen zwischen ganzheitlichen Arbeitsprozessen und der Trennung von Privatem und Arbeit. Wobei in der freien Theaterarbeit immer das symbolische „Mehr“ mitgedacht und gefordert wird, auch wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen grundsätzlich prekär sind. Im subjektiven Bewusstsein der Theatermacher_innen wie der Zuschauer_innen erschöpft sich der Arbeitsbegriff nicht in der Warenform, doch bleiben die pragmatischen, lebensorganisierenden Fragen: Wie viel bin ich bereit zu investieren? Inwieweit rechtfertigt ein Projekt unbezahlte Arbeit? Welche Rolle spielt die Anerkennung als symbolische Entgeltung? Wie wird Zeit bewertet? Der ökonomische Diskurs steht dabei im Widerspruch zur realen Wirkungsmacht der Imagination.

innere Bilder

„Inwieweit machen wir das, was uns wirklich bewegt – und wenn ja, tun wir es aus einer realen oder aus der Kraft der Imagination?“ Von Kant her kommend ist das Geschmacksurteil subjektiv (aber ein intersubjektives Einvernehmen darüber, was schön sein kann, wird ausgehandelt). Und es ist nicht nur für die Theatermacher_innen, sondern auch für die Zuschauenden ein situatives Wissen um die theatrale Situation, aber auch um symbolische Machträume und Exklusion. Und zentral daran ist die Imagination, die Eröffnung imaginärer Räume im Ereignis.

Kann darin ein produktives Moment von Utopie bestimmt werden? „I never get to the point running as we really want it.“ Die permanente Überforderung ist allgegenwärtig. Für wen geschieht sie überhaupt angesichts des Überangebots an Kultur? In diesem Zusammenhang kam ein pragmatischer Vorschlag auf: Sollte sich die Freie Szene nicht vielleicht selbst eine Art selbstbestimmte Diät verordnen und nur das produzieren, was als absolut notwendig erkannt wird bzw. nur in Arbeitsprozesse gehen, die notwendig sind? Dabei ist die Szene zu heterogen, um einen Aushandlungsprozess darüber zu beginnen oder gar ein Einvernehmen herzustellen. Wie sind neue Aushandlungsformen überhaupt denkbar (… und wer investiert in sie)? Auf einem Theatertreffen des International Network for Contemporary Performing Arts (ietm) in Ljubljana wurde die Frage diskutiert, inwieweit es möglich ist, sich den kapitalistischen Verwertungszusammenhängen zu entziehen. Wäre es überhaupt wünschenswert? Andererseits wurde die Situation des Sektors dort mit den mittelalterlichen Strukturen kleiner Herrschaftsgebiete verglichen: Jede Theatergruppe (Prinzipal_in, Regisseur_in …) hat ihr eigenes Unteruniversum und versucht, in der Konkurrenz um knapper werdende Mittel dafür Aufmerksamkeiten bzw. eine Nische zu finden. Das Feld und die anderen werden nur marginal wahrgenommen – sie sind außerhalb des eigenen „Universums“ respektive imaginären Zauns.

Es bleibt eine Reihe von Zweifeln

Das Künstlerbild stimmt nicht mehr – Politik hingegen wird auratisch aufgeladen. Was ist in diesem Kontext dann als radikal zu bestimmen? Eventuell gerade das Leise, Unaufdringliche? Wenn Realpolitik kein Ort von Utopien ist, wird Theater dann zu einer gesellschaftlichen „Sinnaufladungsmaschine“? Erreicht das Theater trotz Anstrengungen nicht ohnehin nur die, die eh kommen?

Und zu guter Letzt die Kritik der Ökonomie: Freie Theaterschaffende stellen eine Avantgarde des Prekariats dar. Werden dabei nicht jene (ökonomischen) Verhältnisse fortgeschrieben und damit befestigt, „die wir kritisieren“? Bzw. andersherum gewendet: Kann es dabei auch einen produktiven Begriff von Kollaboration geben? Hat das politische Theater je funktioniert? To be continued …

Sabine Kock ist Geschäftsführerin der IG Freie Theaterarbeit, Vorsitzende des Kulturrat Österreich, Kulturarbeiterin und Philosophin.

Grundlage des Gesprächs waren folgende Texte

Bosse, Claudia (2011): „wenn wir was tun wollen müssen wir wissen wie – wenn wir was tun wollen müssen wir wissen wozu – was also tun?“ In: IG Freie Theaterarbeit (Hg.): gift – zeitschrift für freies theater, 04/2011, S. 10-13.

Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.) (2011): Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld.

Gekürzte Einleitung zu diesem Sammelband in IG Freie Theaterarbeit (Hg.): gift – zeitschrift für freies theater, 01/2012, S. 33-41.

Marschall, Brigitte (2010): Politisches Theater nach 1950. Wien/Köln/Weimar.

Müller, Gini (2008): Possen des Performativen. Theater, Aktivismus und queere Politiken. Wien.

Müller, Gin (2012): „Theater als politischer Verhandlungsort und politische Praxis im öffentlichen Konfliktraum“. In: IG Freie Theaterarbeit (Hg.): gift – zeitschrift für freies theater, 02/2012, S. 36-38.

Wanunu, Yosi (2011): „9 Notes on the Making of a Political Cycle“. In: IG Freie Theaterarbeit (Hg.): gift – zeitschrift für freies theater, 03/2011, S. 47–51.

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