Oft komm’ ich ins Sinnieren

Da steht noch immer die Finanzkrise als drohendes Monstrum. Und vor allem die absurde Reaktion der europäischen Politik darauf: Noch mehr von dem, was uns in die Krise geführt hat.

Wir Kleingärtnerinnen und Kleingärtner fahren jetzt den Rest unserer Ernte ein. Die letzten roten Tomaten werden gepflückt und gleich verspeist. Die grünen kommen ins Haus, um am sonnigen Fensterbrett noch nachzureifen. Was an Äpfeln und Birnen noch an den Bäumen hängt, wird vorsichtig gepflückt und im Keller verstaut. Jetzt ist auch die rechte Zeit, um Bäume und Sträucher zu setzen und die Gemüsebeete für das Frühjahr vorzubereiten. Das schweißtreibende Umgraben habe ich aber aufgehört. Es ist eine leider noch immer weit verbreitete Unart, das Bodenleben auf den Kopf zu stellen. Besser ist es, mit der Grabgabel zu arbeiten. Diese wird nur in den Boden gesteckt und hin- und herbewegt. So wird der Boden ebenfalls tief gelockert, jedoch nicht gewendet. Eine schöne Arbeit, bei der man auch Zeit hat zu sinnieren. Wie ja überhaupt das Sinnieren eines der wichtigsten „Abfallprodukte“ der Gartenarbeit ist. Es ist nämlich nicht so zielgerichtet wie das Nachdenken, eher ein Flanieren im eigenen Hirnkastl. Eine Nachschauhaltung, was sich da so angesammelt hat.

Da steht noch immer die Finanzkrise als drohendes Monstrum. Und vor allem die absurde Reaktion der europäischen Politik darauf: Noch mehr von dem, was uns in die Krise geführt hat. Die Politik war so überrascht über den plötzlichen Handlungsspielraum, all die Sachen, die man plötzlich völlig neu denken konnte, dass sie sich auf die Formel eingeschworen hat, dass es keine Alternativen gibt. Eine spaßige Geschichte, wenn da nicht auch die fürchterlichen Bilder der medizinisch Unter- bis Unversorgten wären, die sich in Spanien, Griechenland und Portugal bei den wenigen Einrichtungen anstellen, die noch bereit sind, ihnen zu helfen. Und schon fast inflationär klingen mir die zahlreichen KommentatorInnen in den Ohren, die diese Bilder mit Dritte-Welt-Szenarien vergleichen. Und wie ich da so umgrabe und sinniere, fügt sich alles ganz wunderbar und erschreckend zusammen: Wir machen uns in Europa (wieder) einen Billiglohnsektor! Mit den selben (IWF-)Programmen, mit denen schon die Ökonomie sogenannter Dritte-Welt-Länder nachhaltig beschädigt und in die Abhängigkeit von Industriestaaten gezwungen wurde, werden nun die Länder der europäischen Peripherie demoliert. Die EU schafft sich ihren Dritte-Welt-Sektor auf eigenem Terrain. Nicht um auch hier großflächig land grapping zu betreiben oder die Textilindustrie in diese Länder zu verlagern. Nein, sondern nur so ein bisserl Dritte-Welt, um ein Reservoir an billigen Arbeitskräften zu haben und Länder, denen man nach Belieben niedrige Sozial- und Umweltstandards diktieren kann. Für Zwischendurch, sozusagen. Für kleinere Probleme, wo sich das Weiter-weg-Fahren nicht auszahlt. Wie auch in Österreich und Deutschland immer wieder versucht wird, einen Billiglohnsektor zu etablieren. Hartz IV für ins Straucheln geratene Nationalökonomien, sozusagen. Ein guter gesellschaftlicher Mix, in dem sich die ökonomischen Kräfte endlich ungehindert entwickeln können!

So, jetzt lasse ich das Umgraben aber sein. Wenn das so weiter geht, dann werde ich entweder zu einem Verschwörungstheoretiker oder ich bekomme den Nobelpreis für meine neue ökonomische Theorie und werde auch noch in die „Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft e. V.“ aufgenommen. Und beides kann ich brauchen wie einen Kropf. Da gehe ich lieber in den Keller, Marmeladegläser zählen und Gurken abstauben. Ist ja nicht zu fassen!

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