Zur Lage der Kultur

Wie ist es um die Kultur in Europa bestellt? Welchen Stellenwert hat sie und welche Herausforderungen stehen an? Der europäische Dachverband der Kunst- und Kulturvertretungen, Culture Action Europe, hat eine schonungslose Bestandsaufnahme zur Lage der Kultur vorgenommen. Sein Fazit: Der Kultursektor muss sein Handeln grundlegend überdenken, wenn die Politik Kultur als eigenständiges Politikfeld und zentralen Faktor für gesellschaftliche Entwicklungen wieder ernst nehmen soll. Eine provokante Lektüre, inklusive Einladung zum Dialog. 

 

Wo war die Diskussion über Kultur und Kulturpolitik im Wahlkampf? Wo war die kulturpolitische Berichterstattung, der Streit um die besten Ideen, Visionen und Zukunftskonzepte für Kunst und Kultur? Es ist stets dasselbe Bild, ganz gleich ob es sich um die regionale, nationale oder europäische Ebene handelt: Kunst und Kultur sind ein Nischenprogramm, bestenfalls noch ein Klientelprogramm, bei dem es gilt eine – ohnehin zersplitterte, höchst heterogene und ob ihrer prekären Lebensrealitäten überwiegend mit sich selbst beschäftigten – Szene zumindest so weit zu befrieden, dass kein allzu großer Wirbel entsteht, zumindest kein medial wirksamer durch öffentlich bekannte und beliebte Persönlichkeiten. Und selbst wenn, verhallen deren Mahnungen im Medienzirkus meist schneller als ein weit entferntes Echo. 
 

Ein Blick in die zentralen politischen Strategiedokumente unserer Zeit bestätigt die Abwesenheit von Kultur: weder auf internationaler Ebene (z.B. UN-Zukunftspaket oder die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen) noch auf EU-Ebene (z.B. EU Green Deal, EU Demokratiestrategie, Rede zur Lage der Europäischen Union von Ursula von der Leyen) findet Kultur Erwähnung. Ist es Ignoranz? Ist es mangelndes Verständnis und Wissen? Ist es mangelndes Vertrauen, dass Investitionen in Kultur sich lohnen? Oder muss sich „der“ Kultursektor auch selbst die Frage stellen, ob er strategisch in den letzten Jahrzehnten irgendwann falsch abgebogen ist? Denn eines prägt fast jedes Gespräch mit politischen Verantwortungsträger:innen: Der permanente Erklärungsbedarf und Rechtfertigungszwang, dass Investitionen in Kunst und Kultur sich nicht nur lohnen, sondern zentral für gesellschaftliche Entwicklungen sind. 
 

Es sollte offensichtlich sein, dass die Art wie wir zusammen leben, handeln und denken sich grundlegend ändern muss – 2023 war das wärmste jemals dokumentierte Jahr, weltweit nehmen kriegerische Konflikte zu, das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, die soziale Polarisierung steigt, Menschen- und Freiheitsrechte stagnieren, Demokratien in Europa beginnen zu bröckeln, …  Die Frage ist: Welche Rolle wird Kultur in diesen Kontexten spielen, wenn sie nirgends berücksichtigt wird? 
 

Vor diesem Hintergrund hat unser europäischer Dachverband, Culture Action Europe – als Zusammenschluss europäischer wie nationaler Verbände der Kunst- und Kultursektoren – eine schonungslose Analyse und Bestandsaufnahme zur Lage der Kultur vorgenommen. Der Referenzrahmen ist die europäische Ebene, doch in weiten Teilen sind die Thesen und Erkenntnisse auch auf die nationale Ebene übertragbar. Sie müssen diskutiert werden, will der Kultursektor seinem Anspruch als gestaltende Kraft gesellschaftlicher Verhältnisse gerecht werden und wieder auf der politischen Agenda präsent sein. Gelegenheit zum Austausch über die Thesen bietet eine Webinarreihe ab November 2024 – siehe Infobox.

Webinartermine State of Culture, Culture Action Europe

Doch zu den Thesen selbst, die im Folgenden nur selektiv darstellt werden können (zum vollständigen Bericht): 
 

 

Kultur als Werkzeug: Die Befeuerung der Hyper-Instrumentalisierung 

Als Ergebnis der multiplen Krisen erfolgen politische Entscheidungen mehr und mehr reaktiv mit kurzfristiger Perspektive. Die Zukunft soll kalkulierbar und messbar sein, anstatt visioniert werden mit potentiell unvorhersagbaren Faktoren. Im Bestreben das politische Vertrauen in Kunst und Kultur zu festigen, hat der Kultursektor bereits vor Längerem begonnen, seine Legitimation immer stärker mit seinen „Spillover-Effekten“ und Beiträgen zur Erreichung von Zielsetzungen in anderen Politikfern zu begründen – sei es der Beitrag von Kultur zu Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit, der Beitrag zu Innovation, zu urbaner und regionaler Entwicklung, zu Wohlergehen und sozialer Kohäsion, zu Tourismus, zu diplomatischen Beziehungen oder jüngst zu ökologischer Nachhaltigkeit und mentaler Gesundheit. 

 

Oberflächlich betrachtet hat dieses „Mainstreaming“ – also das Mitdenken und Berücksichtigen von Kultur in anderen Politikfeldern – dem Kultursektor durchwegs mehr Sichtbarkeit gebracht und neue Finanzierungsquellen erschlossen. Gleichzeitig hat es dazu geführt, dass Kultur ihren „Wert“ in evidenzbasierter Politikgestaltung immer mehr „beweisen“ muss, d.h. ihre positiven Effekte für andere politische Zielsetzungen nachweisen muss. Auf der Praxisebene drückt sich dies vielfach in steigenden Anforderungen aus. Um öffentliche Fördermittel zu erhalten, müssen kontinuierlich neue Nachweise erbracht werden – Kulturarbeit muss ökologisch nachhaltig sein, sozial inklusiv, fair, innovativ, etc. Die Bedeutung dieser Zielsetzungen steht außer Frage. Werden sie jedoch nicht von ausreichend zusätzlicher Finanzierung und Programmen zum Kapazitätsaufbau begleitet, drohen sie die eigentlichen Ziele von Kulturprojekten in den Hintergrund zu drängen. Projekte müssen sich in vordefinierte Vorgaben einpassen und ihren Beitrag zur Lösung aktueller Probleme priorisieren, anstatt über die unmittelbare Krise hinaus Zukunft neu zu denken und zu gestalten. 
 

Kultur als Lösung für alles: Die Rechnung zahlt der Sektor 

Wie fällt also die Bilanz nach Jahren des Mainstreamings der Kultur, des Einforderns der Berücksichtigung und des systematischen Mitdenkens von Kultur in sämtlichen politischen Feldern, aus? Hat es die Situation in den Kunst- und Kultursektoren selbst verbessert? Oder hat es dazu geführt, dass im Bestreben zu allem einen Beitrag zu leisten, der Kultursektor sich selbst aus den Augen verloren hat? Der Bericht zur Lage der Kultur zieht eine vernichtende Bilanz: 

  • die soziale und ökonomische Lage der in Kunst und Kultur Tätigen ist weiterhin desaströs, 
  • global betrachtet sinken die Investitionen in Kultur, auch in der EU verringern sich die Ausgaben für Kultur zunehmend (aktuell in neun EU-Mitgliedstaaten, weitere Kürzungen werden erwartet); 
  • in zentralen Zukunftsfragen wie dem Umgang mit Künstlicher Intelligenz spielen die Auswirkungen auf den Kultursektor eine Nebenrolle (Welche Rolle soll menschliche Kreativität zukünftig spielen?); 
  • die Autonomie und künstlerische Freiheit geht zurück, nicht zuletzt durch politische Kräfte, die Kultur zunehmend entweder zur Konstruktion und Abgrenzung nationaler Identitätsvorstellungen verstehen und eine entsprechende Umverteilung der Finanzmittel fordern oder Kultur auf einen Wirtschaftszweig reduzieren wollen, der sich über den Markt steuern soll; 
  • Kultur wird für ihre vergangenen Leistungen gefeiert und nicht als Katalysator der Zukunft wahrgenommen; 
  • Kultur kann die demokratische Entwicklung befördern, jedoch nur wenn sie selbst demokratisch ist. Sie ist keineswegs neutral oder immun gegen die zunehmenden Polarisierung, Individualisierung und Ideologisierung der Gesellschaft. Viel zu oft agiert sie in ihren eigenen Echokammern und Silos;
  • die „Kultur und Klima“-Debatte konzentriert sich fast ausschließlich darauf, wie Kultureinrichtungen ihre Umweltauswirkungen reduzieren können und das kulturelle Erbe vor Umwelteinflüssen geschützt werden kann; Sie ist kein gleichberechtigter Partner in der Debatte, der seine eigenen Werte und Indikatoren zur Bewältigung der Klimakatastrophe einbringt;
  • die EU übernimmt keine klare Verantwortung in kulturpolitischen Fragen. Rein rechtlich betrachtet ist Kulturpolitik nationale Kompetenz, jedoch stehen nationalistische Entwicklungen in einigen EU-Mitgliedstaaten den Grundwerten der EU diametral entgegen; Ferner entscheidet die EU in zentralen Fragen über kulturpolitische Rahmenbedingungen, etwa im Bereich Urheber:innenrecht und Künstliche Intelligenz; und formt wesentlich politischen Diskurs und Prioritätensetzung. 


Kultur als gleichberechtigter Partner: Eine andere Kulturpolitik ist möglich

Der Bericht zu Lage der Kultur kumuliert letztlich in der Frage, wie Kultur und Kulturpolitik wieder zu einer gleichberechtigten Partnerin gegenüber anderen Feldern werden kann, die sich nicht über ihren Beitrag zur Erreichung von Zielen in anderer Politikfeldern legitimieren muss. Der Bericht bietet keine abschließenden Antworten, sondern drei zentrale Anregungen, verbunden mit der Einladung zur Diskussion:  

  1. Es braucht mehr Selbstbewusstsein innerhalb des Sektors, dass Kultur einen Wert an sich darstellt, der sich nicht über Umwegrentabilitäten und Spillover-Effekte legitimieren muss; 
  2. Es braucht ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Sprache über den genuinen Wert und Beitrag von Kultur zur gesellschaftlichen Entwicklung.
  3. Und letztlich braucht es ein solidarisches Handeln als Ökosystem Kultur, welches über spartenspezifische Anliegen, Eigeninteressen und Differenzen zwischen etablierten, großen Einrichtungen und prekären kleinen Initiativen und Einzelpersonen hinweg wieder gemeinsam agiert. 

Wie dies gelingen kann und welche Schlussfolgerungen daraus noch zu ziehen sind, steht im Mittelpunkt einer online Diskussionsreihe ab November 2024, zu der Culture Action Europe einlädt (siehe Infobox). 


Downloads: 
Culture Action Europe, State of Culture Report 2024 – Full Report (Englisch) 
Culture Action Europe, State of Culture Report 2024 – Executive Summary (Englisch) 

 


Coverbild: Ausschnitt, Culture Action Europe 2024_ State of Culture Report 

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