„Generation Sexkoffer“

Über die Stationierung deutscher Mittelstreckenraketen sprach man mit Nena, der „Rennbahn Express“ verhandelte Hainburg und Martina Navratilova spielte gegen die Norm weiblicher Sexualität. Dem dualen Weltbild (FS1 und FS2) entkam man jedoch gerade nur in der extremsten Peripherie der Bundesländer, im Grenzgebiet zu Deutschland. Den Sprung von Gottes Hand zum Selber-Hand-Anlegen, den schien eine Segnung namens Radiokassettenrecorder zu versprechen. Das Mixtape als meine Welt.

TINA und Trash – die 1980er Jahre werden heute vor allem als Sammelsurium kuriosen Übels verkauft, als Geburtsstunde von Margaret Thatchers „There Is No Alternative“ und von popkultureller Zeitgeistigkeit zum Tode. Sie funktionieren dabei sehr gut als wirtschaftspolitisches Feindbild oder ironisches Warenlager, wirklich greifbar scheint die Dekade, die historisch als „Scharnierzeit“ gilt, aber nicht. Die von Martin Wassermair und Sigrid Rosenberger herausgegebene Textsammlung „Generation Sexkoffer. Jugend in den 80er Jahren zwischen politischem Klimawandel, Freizeitindustrie und Popkultur“ will nun jenseits des Retrohypes und Stigmas gelebte Konflikte in Erinnerung rufen. Zwölf AutorInnen, geboren in Österreich zwischen 1965 und 1975, haben ihre Tagebücher und alten Radiotapes durchstöbert, um in einer Verknüpfung aus Alltag und Analyse das Jahrzehnt näher zu bringen. Die jugendliche Lebenswelt dient dabei als Scharnier, die privat-politischen Zusammenhänge jener Jahre zwischen Backlash und Umbruch zu verstehen.

Gemeinsam lungern, einsam lieben

Aktivismus, das hieß, sich gegen die Mythen- und Anekdotenproduktion der 60er- und 70er-Eltern zu wehren; lieber notorischen Individualismus zu pflegen, als die „Peinlichkeit der Vorgängergeneration“ zu wiederholen. Engagement wurde ins Hobby eingeschrieben, in die Freizeit, auch ins Anspruchslose, aber „nicht allein, sondern mit anderen“, wie Robert Misik zur „Burggarten-Bewegung“ und öffentlichem Herumlungern im Wiener Zentrum feststellt. Im Jugendzimmer hängt „No Future“. Die Einbettung in politische Jugendorganisationen, ein Selbstverständnis als „Avantgarde“ bleibt die Ausnahme. Systematische Verweigerung, aus der heraus der rückblickende Tenor, man habe den Systemwechsel, die Wende in der „großen weiten Welt“ verschlafen, nicht überrascht. Grenzüberschreitung geschieht jenseits des Brenners, zum Beispiel bei Cosmic-Parties.

Wesentlich häufiger erzählt „Generation Sexkoffer“ aber nicht vom Grenzübertritt, sondern von der Schranke: im Elternhaus, in der Gaststube, im Zwang zu „demütiger Unauffälligkeit“ (Martin Wassermair). In den 80ern in Österreich sitzt das klerikalfaschistische Scharnier feste, Haider feiert seinen Aufstieg und die Erziehung liegt noch in Gottes Hand. Die Individualisierung, die gefeiert wird – Jogging, Aerobic und mit der „Willensmaschine Muster“ (Georg Spitaler/Lukas Wieselberg) auch das Tennis – bedeutet mehr Verfleißigung und für die, die nicht entsprechen, oft Isolation. Davon zeugt auch jene titelgebende Episode Zeitgeschichte, als eine anti-aufklärerische Welle Infomaterial für 13-15-Jährige als „Sexkoffer“ verpönt, um kirchlich-sexuelle Vorstellungen von Adam und Eva zu propagieren. Eine Teenagerwelt, wo es keinen Raum und keine Sprache gibt für Nicht-Konformes – die eigene Identität, der eigene Körper „immer so fern“ oder „so fern gehalten“. Es wäre aber falsch, diese Distanz, die Marty Huber und andere da beschreiben, auf die Tatsache zu reduzieren, dass „Generation Sexkoffer“ großteils von Pubertierenden am Land erzählt.

Eskapismus mit Absichten

Es geht um die „Provinz als Zustand“ (Gerhard Stöger), aus der in jungen Jahren vor allem Musik und Medien einen Fluchtweg bahnen. Aus dem Mainstream – der zu diesem Zeitpunkt noch Rundfunk hieß, und im Vergleich zur heutigen medialen Ausrüstung von Jugendlichen keine Alternativen bot – saugte man sich seine Nischen, aus dem Pop die Politik. Über die Stationierung deutscher Mittelstreckenraketen sprach man mit Nena, der „Rennbahn Express“ verhandelte Hainburg und Martina Navratilova spielte gegen die Norm weiblicher Sexualität. Dem dualen Weltbild (FS1 und FS2) entkam man jedoch gerade nur in der extremsten Peripherie der Bundesländer, im Grenzgebiet zu Deutschland. Den Sprung von Gottes Hand zum Selber-Hand-Anlegen, den schien eine Segnung namens Radiokassettenrecorder zu versprechen. Das Mixtape als meine Welt. Doch insgesamt ließ auch die neue Heimtechnik, resümiert Robert Stachel seine Jugend als „Computerfreak“, in der „Zeit des digitalen Mangels“ noch mehr an Wünschen übrig als sie schon tatsächliches Rüstzeug bot.

Raus aus dem Kinderzimmer

Insgesamt präsentieren sich die angerufenen Jahrgänge in bewusster Beschränkung: zwischen „zu spät dran für existenzielle Erfahrungen“ und „in unserem Jahrzehnt zu jung. Wir probten.“ Die rückblickende Ironie der „Generation Sexkoffer“ liegt vielleicht darin, dass sie die Aufregung um etwas spürte, die Konsequenzen fühlte, was sie – wie eben auch die Materialiensammlung zur Sexualerziehung – selbst nie in die Hand bekam. Auseinandersetzung rundherum fand statt, häufig aber schon im kanalisierten „Jugendsegment“. Wenn die „Generation Sexkoffer“ also, wie die HerausgeberInnen schreiben, nun darauf abzielt, ein Stück weit die „Reputation“ dieser Jahre wiederherzustellen, dann kann das nicht heißen, popkulturelle Aneignung oder Taschengeld-Taten zu verklären.

Vehement schreiben schließlich die BeiträgerInnen selbst – am deutlichsten Georg Spitaler und Lukas Wieselberg – gegen Nostalgie und revitalisierten Kommerz einer Dekade an. Gegen die eigene, retrogehypte Infantilisierung; für die Erinnerung daran, dass es – wenn auch in schräger Verkleidung – um ernstere Konflikte ging, die sich in Österreich bis heute fortschreiben. Die wesentliche Botschaft der „Generation Sexkoffer“ bzw. zumindest die der versammelten Autorinnen und Aktivisten scheint eine Politisierung am aufgeriebenen Scharnier: Das war keine Teenage-Rebellion, ihr folgte aber eine vielleicht immer noch von einer solchen Sehnsucht genährte Dekonstruktions- und Aufbauarbeit. Das Wort „Alt-Achtziger“ muss also nicht erfunden werden.

Literatur

Sigrid Rosenberger, Martin Wassermair (Hg.): Generation Sexkoffer. Jugend in den 80er Jahren zwischen politischem Klimawandel, Freizeitindustrie und Popkultur. Wien

Katharina Ludwig ist Politologin und freie Journalistin, hat die 80er nur acht Jahre aktiv mitbekommen, hätte aber schwören können, dass sie in Wirklichkeit länger gedauert haben.

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