Werner Portmann, Siegbert Wolf: „Ja, ich kämpfte“

Ein Großteil der ostjüdischen Traditionen und Alltagspraxen, wie etwa die jiddische Sprache, ist vor Ort beinahe verschwunden. Es kann also nur noch erahnt werden, wie ostjüdisches kulturelles Leben dort aussah. Aufgrund dieser erschreckenden Tatsache will das Buch „Ja, ich kämpfte“. Von ,Luftmenschen‘, Kindern des Schtetls und der Revolution den fast vernichteten und vergessenen Traditionen wieder Raum und Stimme geben.

Mit der Shoah, dem nationalsozialistischen Genozid, wurde die jüdische Kultur des „Mittel“- und Osteuropa der 1920er und 30er Jahre fast vollkommen zerstört. Die TäterInnen und MitläuferInnen des NS vertrieben und ermordeten Millionen von Juden und Jüdinnen in Deutschland und Österreich und ab 1939 auch in den besetzten Ländern. Damit verursachten sie nicht nur unbeschreibliches Leid, das bis heute andauert und im Leben der Nachkommen weiter wirkt, sondern auch den Untergang einer lebendigen und vielschichtigen kulturellen Praxis. Diese kann heute nur noch über die Schriften der bekanntesten jüdischen DenkerInnen rezipiert werden. Ein Großteil der ostjüdischen Traditionen und Alltagspraxen, wie etwa die jiddische Sprache, ist vor Ort beinahe verschwunden. Es kann also nur noch erahnt werden, wie ostjüdisches kulturelles Leben dort aussah.

Aufgrund dieser erschreckenden Tatsache will das Buch „Ja, ich kämpfte“. Von ,Luftmenschen‘, Kindern des Schtetls und der Revolution den fast vernichteten und vergessenen Traditionen wieder Raum und Stimme geben. Es versteht sich als ein Anfang, jüdische Geschichte, Kultur und ihr Wirken in Deutschland, Österreich und der Schweiz sichtbarer zu machen. Dabei fokussieren die Autoren auf einen ganz bestimmten Aspekt: Welche Verbindungen lassen sich zwischen Anarchismus und Judentum herstellen? Anhand ausgewählter Biografien radikaler Juden und Jüdinnen soll untersucht werden, welchen Anteil jüdische AnarchistInnen an der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung hatten. Bis heute gibt es keine Gesamtstudie des Verhältnisses von Judentum und Anarchismus, so die Autoren. Jüdisches und anarchistisches Denken im deutschsprachigen Raum soll im Buch gemeinsam behandelt, nach Übereinstimmungen soll gefragt werden. Eine solche sehen die Autoren z.B. in der engen Verbindung von jüdischem Messianismus und revolutionärer Restrukturierung der Gesellschaft.

Das Buch versammelt 5 Porträts jüdischer AnarchistInnen, unter ihnen zwei Feministinnen: Isak Aufseher, Jack Bilbo, Robert Bodanzky, Carl Einstein, Cilla Itschner-Stamm und Milly Witkop-Rocker. Cilla Stamm (*1887) verlässt ihre Familie mit 14 Jahren, um einer sozialistisch-zionistischen Gruppe beizutreten. Sie publiziert in Zeitschriften und bewegt sich „in einem Kreis von emanzipierten Frauen, die für Frauenrechte und Freie Liebe“ eintreten, deren Kämpfe die Autoren jedoch nicht näher ausführen. Milly Witkop (*1877) engagiert sich ebenfalls „für eine Welt ohne Herrschaft, Hierarchien, Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus“. Sie publiziert u.a. in der jiddisch-anarchistischen Zeitung Der Arbeyter Fraynd, organisiert Frauen für Streiks und fordert Männer schon 1921 dazu auf, sich gleichberechtigt an der Hausarbeit und Kindererziehung zu beteiligen.

Leider wird eingangs mehr versprochen, als das Buch leistet. Denn die Darstellung einer Verknüpfung von Anarchismus und Judentum bleibt in den einzelnen Biografien nur vage angedeutet. Zu sehr steht die detailreiche historische Dokumentation der Lebensläufe und ZeitgenossInnen der zweifellos interessanten Persönlichkeiten im Vordergrund, als dass eine Untersuchung der Synthese von anarchistischen und jüdischen Aspekten in ihrem Denken und Handeln erfolgen könnte. Dennoch ist das vorliegende Buch ein lesenswertes, zu dessen Fort- und Weiterführung durch das Herstellen von Luftmaschen zwischen Anarchismus und Judentum schlussendlich die LeserInnen aufgefordert sind.

Unrast-Verlag

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