Von der Nomenklatura zum neoliberalen Dienstboten

In einem Großteil der osteuropäischen Länder wurde die Nomenklatura nicht gestürzt, sondern sie hat scheinheilig die Macht übergeben. An wen hat sie sie übergeben? An sich selbst, nur unter einem anderen Namen. Und dieser Name, dessen sie sich künftig bediente und nach wie vor bedient, heißt Nationalismus.

Ich unterlasse es, in den folgenden Ausführungen die Menschen in Osteuropa als eine in Kollektivität gefangene, mit Opfermentalität verseuchte und gegenüber der Hilfe westlicher SteuerzahlerInnen undankbare Masse zu beschreiben. Das erledigen bereits die aus dem Osten Europas stammenden linksliberalen VorzeigemigrantInnen, wie neulich etwa Slavenka Drakulic in der Tageszeitung Der Standard. Mich interessiert vielmehr die Transformation der Nomenklatura zur postkommunistischen, verwaltungstechnisch wirkenden Elite. Also die Frage, wie es dazu kam, dass sich die ehemaligen KP-Apparatschiks wie die Phönixe aus der Asche erhoben und in FahnenträgerInnen des neoliberalen Kapitalismus verwandelten.

Welche Elite?

Die Elite begreife ich hier in Anlehnung an Michael Hartmann als diejenigen, „die qua Position gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich beeinflussen können“. Im Unterschied zu Hartmann interessiere ich mich allerdings dafür, wie jemand als Teil des politischen Systems der Neuzeit funktioniert. Mich interessiert es weniger, Informationen über den sozialen Hintergrund zu sammeln. In unserem Fall sind die Eliten diejenigen, die als TrägerInnen der gesellschaftlichen Macht im Dienste ihrer eigenen Interessen stehen. Welche Pedigree bzw. Ahnentafel sie aufweisen, ist dabei ziemlich unwichtig.

Den Anfang der neuen Eliten bildet die Tatsache, dass die realsozialistischen Wirtschaftssysteme kollabiert sind. Dabei spielte die Konkurrenz im weltökonomischen Maßstab genauso eine Rolle, wie die Abhängigkeit von IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank (in den 1970er Jahren) und natürlich der militärische Wettlauf. Auf dem Feld des internationalen Kreditwesens kam es Ende der 1980er Jahre zu der Situation, dass die osteuropäischen Staaten kaum mehr dazu in der Lage waren, ihre Schulden abzuzahlen. Polen, Ungarn, Bulgarien und Jugoslawien erstarrten im Kreislauf eines ständig wachsenden Schuldenberges gegenüber den internationalen KreditgeberInnen und an der Ineffizienz ihrer mehr und mehr am internationalen Wettbewerb orientierten Wirtschaft. Dies trotz der Unterstützung durch die UDSSR vor allem auf dem Gebiet des Energiewesens.

In Rumänien, das seine Schulden, begleitet von drastischen Sparmaßnahmen, zurückzahlen konnte, kam es in den 1980ern zur einer massiven Verschlechterung des Lebensstandards der Bevölkerung. Diese rächte sich unter anderem dadurch, dass Nikolai und Elena Ceausesku erschossen wurden und ihre Söhne im Gefängnis starben. Die Ceauseskus aber waren nur drastische Beispiele, hinter denen sich die anderen Angehörigen der Nomenklatura verstecken konnten, um erfolgreich einen Gesinnungswandel zu vollziehen.

Das wäre auch die These dieses Textes: Das Neue an den Eliten im Osten Europas sind nicht die Menschen, sondern die Worte, die aus ihren Mündern fließen. Mit dem kleinen Unterschied, dass dieser neuartige Redefluss materiell viel lukrativer ist, als derjenige von vor zwanzig Jahren. Natürlich war während der 1990er auch die Entstehung von Eliteschmieden, wie etwa der Soros Foundation, zu beobachten, aber deren Auswirkungen können noch nicht genau eingeschätzt werden. Die tatsächlichen TrägerInnen der Macht waren und sind die alten Hasen, die mit ihren Wörtern auch die Portraits der WürdenträgerInnen in ihren Kabinetts ausgetauscht haben. Sie sind die PraktikerInnen der Macht, die sich jedweder Kontrolle durch die Bevölkerung entzogen haben. Wie kam es zur dieser Entwicklung?

Der Weg der Elite

Die Nomenklatura witterte schon mit den Reformvorstellungen von Michael Gorbatschow den neuen Wind. Hellhörig, wie sie schon innerhalb des alten Systems gegenüber den verschiedenen Abweichungsströmungen innerhalb des Parteiapparates war, hat sie die Zeichen der Zeit früh erkannt. So kam es, dass sie die Wegbereiterin der Transition war und dies sogar eine Zeit lang mit der vollmundigen Behauptung, eine revolutionäre Politik zu verfolgen. In einem Großteil der osteuropäischen Länder wurde die Nomenklatura nicht gestürzt, sondern sie hat scheinheilig die Macht übergeben. An wen hat sie sie übergeben? An sich selbst, nur unter einem anderen Namen. Und dieser Name, dessen sie sich künftig bediente und nach wie vor bedient, heißt Nationalismus.

Genau das, der Nationalismus, ist der Hebel, mittels dem die neue, bedingungslose Kontrolle über die Bevölkerung erreicht wird. Und diese Kontrollmöglichkeit schuf noch dazu eine bis dahin ungeahnte Perspektive: Die Umverteilung des Kollektiveigentums in Richtung Privatbesitz. Privateigentum ist das Schlüsselwort, wenn es um die neuen Elitezirkel im Osten geht. Eben das Privateigentum und nicht der Individualisierungsprozess steht im Vordergrund der Kollaboration (!) der postkommunistischen Eliten im Osten mit den neoliberalen RaubritterInnen.

Die Nomenklatura teilte sich am Anfang dieses Prozesses auf, sodass ein Teil von ihr zusammen mit den jahrzehntenlang vom Westen unterstützten „DissidentInnen“ die Opposition zu spielen begann. Trotzdem operierten alle uneingeschränkt und ununterbrochen mit dem Begriff der eigenen Nation. Sie baten die Nation als utopische Lösung einer Bevölkerung an, die sich in einem Meer aus Unsicherheiten, Frustration, drastisch anwachsender Ungleichheit und Repression befand. Insofern ist es fraglich, was am Anfang steht: die Flucht in den Nationalismus oder der strategische Einsatz der nationalen Frage. Diese Frage wird wohl auch unbeantwortet bleiben müssen. Faktum ist nur, dass die Nation überall im Osten am Anfang des Transformationsprozesses ganz groß geschrieben wurde und dass der nationale Gedanke bis heute in verschiedensten Ausprägungen eine nicht unwesentliche Rolle spielt[1].

Damals aber, Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, ging es darum, den Kuchen zu verteilen, und die Nomenklatura beanspruchte aufgrund ihrer Kenntnis des „Heimatterrains“ einen Teil für sich. Natürlich ist dabei ein beträchtlich größerer Teil den westlichen Firmen zugefallen. Uns interessieren hier aber mehr die bürokratischen Eichhörnchen, die sich in einen Geier verwandelten. Denn genau diese KollaborateurInnen sind diejenigen, die die Funktion der WegbereiterInnen und der WegbegleiterInnen des Transformationsprozesses übernahmen. Sie sind die DienstbotInnen, die ihren Herren auf den vom Volk überfüllten Straßen den Weg frei machten.

Wie kam es zur Bereicherung?

Die Ideologie des Nationalismus ist auch deswegen eine mächtige, weil sie bei vielen Menschen versteckte Hoffnungen darauf weckte, selbst an der Aufteilung des Kuchens teilnehmen zu können. So wurden zwei Arten von „Gier“ kompatibel: Einerseits jene der internationalen, oder besser gesagt der transnationalen Unternehmen auf der Jagd nach Profitmaximierung und andererseits die der Nomenklatura, ihre Macht zu erhalten durch die strategische Neuausrichtung auf das Privateigentum.

Diese konnten den Wunsch der Bevölkerung nach westlichen Waren, nach materieller Prosperität und nach wirtschaftlicher Entwicklung für ihre eigenen Zwecke einsetzen, indem sie sich der Ideologie des Nationalismus bedienten. Diese Ausprägung von Nationalismus passte optimal mit dem neoliberalen Washington Consensus zusammen. Von außen kam der Neoliberalismus und von innen der Nationalismus mit dem Zweck einer neoliberalen Restauration des Kapitalismus. Das Gelingen dieser Vorhaben scheint mit der Eingliederung des Großteils dieser Staaten in die Europäische Union auch gelungen zu sein.

Der Washington Consensus beinhaltete u.a. eine Liberalisierung der Finanzmärkte und die „Modernisierung“ der Industrie. Trotz der vollmundig behaupteten Verdrängung des Staates war dabei eher an seine Umfunktionierung gedacht. Was die Modernisierung der Industrie betrifft, sollte diese allein durch die Privatisierung erfolgen. Privatisierung ist dabei das zweite Schlüsselwort in dem Umwälzungsprozess im Osten und dieses wurde fast synonym mit dem Begriff „Demokratisierung“ verwendet. Wenn zusätzlich zur Demokratie noch die Menschenrechte, der Schutz von Minderheiten usw. eingefordert wurden, dann dienten und dienen diese Schlagwörter immer dazu, die Privatisierung zu fördern und zu fordern. Dort, wo heute diese Prozesse abgeschlossen sind, gibt es scheinbar auch solche Probleme nicht mehr.

Wie ging die Transformation vor sich?

Es begann alles mit dem Schock des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, was unter anderem eine Reduktion der Löhne, eine Verschärfung der sozialen Ungleichheiten sowie eine Vergrößerung von Armut und Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Aber das ist, wie gesagt, der Schock, der zum Zweck der Implementierung von „Demokratie“ von denjenigen, die diese Maßnahmen setzten, in Kauf genommen wurde. Die „Demokratie“ ist dabei ein schönes Wort, aber in unserem Fall war das nichts anderes, als der Hintergrund, auf dem die neoliberale Umstrukturierung groß geschrieben wurde. In diesem Prozess waren die „Mittelsmänner“, eben die heute gut situierte Elite in Osteuropa, notwendig.

Dieser Prozess begann im Jahr 1989 noch bevor die Gesetze zur Privatisierung zustande gebracht wurden. Schon damals schafften es einige, sich billigst die Fabriken anzueignen. Die Privatisierungsgesetze wurden im Großteil der osteuropäischen Länder im Jahr 1990 beschlossen. Dabei ist zu sagen, dass der Organisator dieses Prozesses der Privatisierung – intern für die eigene Mannschaft und nach außen für deren Bosse – der Staat war. Der Staat ist überhaupt der zentrale Mechanismus gewesen, der bis zuletzt konsequent auf sein eigenes Ins-Jenseits-Drängen hingearbeitet hat.

Diesen Prozess der Enteignung des Staates vollendeten die internationalen Banken, indem sie die osteuropäischen Staaten drängten, die bis zum Zeitpunkt der Übernahme seitens der heimischen Bankinstitute erteilten Kredite als Staatschulden zu übernehmen. Das bedeutete unter anderem in Tschechien, dass der Staat in den 1990ern von heute auf morgen mit einem Schuldenberg von 15 Milliarden Euro, was einem Viertel des gesamten tschechischen Bruttoinlandsproduktes entspricht, konfrontiert wurde. Diese Schulden garantieren praktisch unbegrenzt die Sicherung der vom IWF vorgeschriebenen Untertanenrolle des Staates. Günstiger hätte es für die Herrschenden nicht kommen können. Demokratisierung heißt in dieser Hinsicht nichts anderes als Degradierung der osteuropäischen Länder zu „Latifundien“ der meist westeuropäischen „GroßgrundbesitzerInnen“.

Die Mittelsmänner in diesem Prozess waren diejenigen, die ihr politisches Kapital als Teil der alten Elite mittels Missbrauch der ihnen zur Verfügung gestellten Macht in ökonomisches Kapital umwandelten. So wurden aus den Mitgliedern des ehemaligen Parteikaders erfolgreiche UnternehmerInnen. Diese sichern sich zur Zeit ab, indem sie sich eng mit den neu entstandenen Parteien verbandeln, sodass wir heute im gesamten osteuropäischen Raum von einem waschechten Klientelismus sprechen können; ein Klientelismus, der das Erbe der früheren Parteizugehörigkeit antreten könnte.

Die einzige Möglichkeit, aus der Falle der Armut zu entkommen, ist heutzutage in Osteuropa entweder die Pflege guter persönlicher Verbindungen zur Regierungs- und Wirtschaftselite oder das, was Millionen andere machen, nämlich ein Aufbruch in Richtung europäischer Westen. In solch einer Situation von Zivilgesellschaft zu reden, wie es die westlichen NGOs andauernd fordern, oder gar von einer antrainierten Ablehnung des Individualismus, wie etwa Drakulic im eingangs erwähnten Standard-Artikel das tut, ist eigentlich mehr als Hohn gegenüber dem tragischen Schicksal der Menschen in diesem Raum.

1 Gayatri Spivak spricht im Zusammenhang mit der sowjetischen Herrschaft im Osten, konkret in Bulgarien, von „Postkolonialität in Form von Postkommunismus“ – ein Gedanke, an dem weiter zu arbeiten meines Erachtens lohnenswert wäre. Dabei wäre es auch interessant, sich zu fragen, in welcher Form der Nationalismus im postkolonialen Zeitalter weltweit strategisch eingesetzt wurde.

Ljubomir Bratić ist Philosoph und Publizist, lebt in Wien.

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