Solidarisierung braucht Inhalte

„Reiche Eltern für alle“ nannten die bundesdeutschen Nachwuchssozialdemokraten (Jusos) ihre Info-Tour, einen Juso-Beitrag zum Bundestagswahlkampf. Es gelte, „Antworten“ auf die hochschulpolitischen „Herausforderungen“ der Gegenwart zu finden.

„Reiche Eltern für alle“ nannten die bundesdeutschen Nachwuchssozialdemokraten (Jusos) ihre Info-Tour, einen Juso-Beitrag zum Bundestagswahlkampf. Es gelte, „Antworten“ auf die hochschulpolitischen „Herausforderungen“ der Gegenwart zu finden. Die Tour begann in Berlin und führte drei Wochen lang quer durchs Land über Marktplätze und Universitäten. Wenige Monate zuvor waren es Vernetzungen von SchülerInnen und Studierenden in ganz Deutschland gewesen, die im Rahmen des einwöchigen Bildungsstreiks mit Blockaden, strategischen Besetzungen und symbolischen Banküberfällen gegen die Zurichtung der Lehre auf die Erfordernisse des neoliberalen Marktes protestiert hatten. Gleichzeitig verstanden die Protestierenden ihre Handlungen aber auch im Kontext internationaler Bewegungen und betonten deren gesamtgesellschaftlichen Fokus.

Die Fäden des letzten Kulturrisse-Schwerpunkts weiterspinnend sprachen die Kulturrisse kurz vor den deutschen Bundestagswahlen mit einem Studierenden, der an Organisation und Praxis des Bildungsstreiks beteiligt war, und in der Folge gemeinsam mit anderen die Bildungsstreik-Woche im Juni gerade im Bezug auf gesamtgesellschaftliche und globale Ansprüche und eine Thematisierung struktureller Probleme dieser und anderer Aktionen (Wer verhandelt mit wem? Worüber? Mit welchem Ziel) zu reflektieren sucht.

Im Sinne einer kollektiven und nicht auf einzelne SprecherInnen rekurrierenden Handlungspraxis wollte unser Gesprächspartner namentlich nicht genannt werden. Vor der Beantwortung der Fragen unseres E-Mail-Interviews, das sich um die Organisationsformen des zurückliegenden Bildungsstreiks, um mögliche Weiterführungen, fehlende Überschneidungen zu anderen sozialkritischen Bündnissen, Vereinnahmungsversuche von Protesten und um Bildungspolitik als Stiefkind der Linken dreht, fand ein Austausch mit anderen in diesem Kontext engagierten Studierenden wie SchülerInnen statt.

Wie kam es zum Bildungsstreik 2009, aus welchen „Zellen des Protests“ hat er sich entwickelt, und was waren letztlich die politischen Auslöser?
Genau genommen gab es in den letzten Jahren mehr oder weniger schon die ganze Zeit Auseinandersetzungen im Bereich der Bildungspolitik. Dass es jetzt eine bundesweite Bildungs- und Protestwoche gab, die vielleicht auch noch verlängert wird, ist das Ergebnis einer monatelangen Vernetzung, die zum Teil auch auf andere Bündnisse aus den Jahren zuvor zurückgreifen konnte. In Europa zum Beispiel gibt es sehr wahrscheinlich jeden Tag irgendwo einen Schüler_innen-Streik, eine Institutsbesetzung oder Kindergärtner_innen und Eltern, die demonstrieren. Dasselbe ist auch in Deutschland der Fall: An Schulen und Hochschulen gab es in den letzten Jahren viele Auseinandersetzungen, wie z. B. gegen Studiengebühren in Hessen, Hamburg und Berlin oder die jüngsten Streiks der Kita-Beschäftigten und Eltern. Einige waren so groß, dass die großen Medienunternehmen darüber berichteten, andere hingegen wurden nicht mal erwähnt. Von den kontinuierlichen Auseinandersetzungen, die tagtäglich stattfinden, berichten die Medien fast gar nicht. Die Medien sind zumeist nur oberflächlich an den Auseinandersetzungen interessiert. Zusammenhänge werden erst gar nicht betrachtet. Aktuelle Streiks und Proteste werden als neue Erscheinung gesehen. Das sind sie aber nicht! Seit den europäischen Gesprächen zum Bologna-Prozess und seit der Umsetzung der globalen Liberalisierung und Kommerzialisierung sämtlicher Öffentlicher Güter – auch des Bildungsbereichs – durch die GATS Vereinbarungen gab es Proteste gegen diese Reformen und Umstrukturierungen.

Es sind nun auch jüngere Generationen von Studierenden und Schüler_innen, die das thematisieren, kritisieren und dagegen protestieren, da sie von den realen Veränderungen hart getroffen werden. Die steigende Selektion durch eine politisch gewollte Elitenbildung verstärkt die Sorge von vielen Schüler_innen und deren Eltern darüber, ob sie überhaupt einen Studienplatz bekommen und wenn ja, wo und zu welchem Preis. Hinzu kommen die enorm prekären Lebenssituationen: „Wie finanziere ich mich neben dem Studium, um leben zu können?“ und „Wenn zum Arbeiten keine Zeit mehr bleibt, wie bezahle ich die Studiengebühren bzw. -konten?“ In der Tat gibt es schon jetzt eine steigende Verschuldung unter den Studierenden und das obwohl den meisten klar ist, dass sich das Zurückzahlen von Krediten gar nicht so einfach gestaltet.

An der Aktionswoche haben sich politisch aktive aber auch bis dato nicht-politisierte Einrichtungen, respektive die Menschen, die dort lernen, beteiligt. Wie funktionierte die Zusammenarbeit zwischen diesen unterschiedlichen AkteurInnen?
Die oben dargestellten Entwicklungen werden von einer immer größeren Anzahl von Menschen und Institutionen, Vereinen etc. gesehen. Die sich daraus ergebende Kritik gestaltet sich jedoch sehr unterschiedlich. Schon bei der Verabschiedung des Bologna-Prozesses gab es studentische Vertreter_innen aus dem europäischen Netzwerk der Studierenden (ESIB), die den Prozess „positiv“ mitgestalten wollten. Auch im Bündnis, das die Protestwochen organisiert hat, gab es eine starke Auseinandersetzung zwischen den sich als Vertreter_innen der Studierendenschaft begreifenden Akteur_innen, welche mit Politiker_innen reden und verhandeln wollten, und einem sich mehr als unabhängig und autonom begreifenden Netzwerk, das sich nicht als repräsentativ begreift. In diesem Netzwerk organisieren sich hauptsächlich die nicht in Parteien organisierten Schüler_innen und Studierenden. Hier treffen sich politisch organisierte und sich neu bzw. re-politisierende Schüler_innen sowie Studierende. Die aus Parteien bekannten Organisationsformen werden hier abgelehnt, keine Mehrheit überstimmt eine Minderheit, es gibt keine gewählten Vorstände und Repräsentant_innen.

Die politischen und inhaltlichen Widersprüche innerhalb des Bündnisses zeigen sich des Öfteren. Einerseits werden einige Menschen von den Auseinandersetzungen abgeschreckt, anderseits verweisen diese auch auf eine Reflexion unter den Protestierenden. Die inhaltlichen Kontroversen haben durchaus ein kritisches Hinterfragen der Strukturen und Entscheidungsprozesse bewirkt: Wer will hier für wen sprechen, mit wem und mit welchen Zielen und Hintergründen? So gab es viel Kritik am SDS, der Studierendenorganisation der Partei Die Linke. Diese hat sich zwar radikaler Phrasen bedient, aber wenig fundierte inhaltlich Kritik geübt und ihre eigene Beteiligung auf politischer Ebene kaum thematisiert. In Berlin ist dies ziemlich offensichtlich, da hier die Linke mit der Sozialdemokratischen Partei regiert und maßgeblich für die großen Sparpakte und neoliberalen Umbaumaßnahmen im Bildungs- und Sozialbereich mitverantwortlich ist. Gleichzeitig versucht der SDS jedoch, die Bildungsproteste für sich zu vereinnahmen und sich als Sprecher einer Studierenden- und Schüler_innen-Bewegung zu positionieren – nach außen wie auch nach innen.

Wie haben sich eher unpolitische Aktionsformen wie Flashmob und klar politische wie Besetzungen und die symbolischen Banküberfälle (und die jeweiligen ProtagonistInnen) vertragen?
Sehr gut! Die Bereitschaft, etwas zu machen, ist groß. Besetzungen und anderer ziviler Ungehorsam als eine mögliche Strategie und Form des Protests werden von den meisten nicht kritisiert. Bei den Blockaden, Besetzungen und Banküberfällen ist eines jedoch gleich aufgefallen: Die Antwort der politischen Verantwortlichen lautete zumeist Repression. Nachdem der Schulterschluss zwischen den Präsidien und dem Bildungssenator nicht funktionierte, übten diese ihr Hausrecht aus und riefen die Polizei zur Unterstützung. Mehrere Studierende und Schüler_innen wurden kriminalisiert und einige von ihnen vom Verfassungsschutz und Zivilbeamt_innen observiert.

Auch Gewerkschaften und andere gesellschaftspolitischen Gruppierungen waren aufgerufen, sich am Bündnis zu beteiligen. Ist es aus eurer Sicht gelungen, den Protest der SchülerInnen und Studierenden mit sozialen Bewegungen in anderen Bereichen in Beziehung zu setzen? Die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und anderen Organisationen, Vereinen etc. lief noch nicht sehr gut. Die Gewerkschaften solidarisierten sich zwar mit den Protesten, die Mobilisierung für und Teilnahme an den Demonstrationen war jedoch kaum vorhanden. Auch die Verknüpfung und Zusammenarbeit mit anderen „sozialen Bewegungen“ funktionierte nicht sehr gut. Einerseits liegt dies daran, dass die Kontakte nicht sehr gut sind, wie z. B. jene zu den streikenden Beschäftigten im Kinder- und Jugendbereich. Anderseits fehlt es auch an inhaltlichen Verknüpfungen zu anderen sozialen Bewegungen. Konkret stellt sich etwa die Frage, was Solidarität mit dem akademischen Mittelbau und den Professor_innen bedeutet, also was damit gemeint ist.

Eine Solidarisierung mit anderen Statusgruppen und Akteur_innen kann und soll es geben. Diese muss jedoch mit Positionen gefüllt werden. Eine Solidarisierung braucht Inhalte und Ziele und keine hohlen Phrasen. Das was die Menschen gerade bewegt, ist mehr als nur „eine Forderung nach mehr Geld“. Es geht z. B. auch um die Herkunft und Verwendung des Geldes im globalen Maßstab; um die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lernens und Lebens. Was „Wissen“ ist, wofür und für was es verwendet wird, wer daran teilhaben darf, welche Zwecke Wissens- und Forschungseinrichtungen verfolgen, dies muss (neu) verhandelt werden. Die Strukturen und Funktionen müssen neu formuliert werden. Erst dann sind umfassende Veränderungen und die Überwindung des Bestehenden möglich.

What`s next – auch in Hinblick auf die Bundestagswahlen im Herbst 2009?
Im aktuellen Wahlkampf spielt das Thema Bildung keine besonders große Rolle. Und dennoch ist es ganz witzig, sich die Plakate zu den bildungsrelevanten Themen anzusehen. Die SPD entdeckt wie in fast jedem Wahlkampf ihr soziales „Ich“ oder „Wir“ wieder und titelt auf ihren Plakaten „Reiche Eltern für alle“. Die Grünen und die Linke stehen dem in nichts nach. Wie zu jedem Wahlkampf werden hier Versprechen hinaus posaunt, die eh keineR glauben kann. In Berlin war es die SPD und die PDS, die nach ihrer gewonnenen Wahl Studiengebühren bzw. Studienkonten einführen wollten, obwohl im Koalitionsvertrag anderes versprochen wurde. Nur die Proteste von Studierenden und anderen Sympathisant_innen konnten dies verhindern.

Das Interview führte Patricia Köstring

Aufschaukeln
Die als Reformen getarnten neoliberalen Transformationen des Bildungswesens sind ubiquitär. Ihre lokalen Versionen scheinen sich bei aller Widersprüchlichkeit gegenseitig zu verstärken. In Europa schielte man lange nach den USA, so lange und so intensiv, dass sich die Blickrichtung nun in der letzten Zeit umkehrt. Der Prozess, der der Stadt Bologna ungerechter Weise einen schlechten Ruf bescherte, wurde und wird in vielen europäischen Ländern dermassen brav und streberhaft ausgeführt, dass die Neo-cons in den USA nun schon neidisch gen Osten sehen. Auf diese Weise schaukelt sich die neoliberale Reaktion immer höher: Die Verschulung der Bachelors paart sich mit ihrer Verschuldung, die Elitarisierung weniger Auserwählter korreliert mit der Prekarisierung der Masse der WissensarbeiterInnen, das Messen und Rastern der Wissensproduktion wird zur wichtigsten Betätigung sowohl von Lehrenden als auch von Studierenden; und von den Fetischen der Mobilität und der Exzellenz bleibt – das erfährt inzwischen auch schon jedeR Erstsemestrige – nur mehr der zynische Hinweis, dass es sich ohnehin nie um die Mobilität der Studierenden oder die Exzellenz der Ausbildung gedreht haben soll.

Doch die Globalisierung dieser neoliberalen Bildungsspirale nach unten schreitet wacker voran, auch über die Schaukel des „Westens“ hinaus; europäische und US-amerikanische Universitäten initiieren Franchise-Unternehmen in ost- und südostasiatischen Ländern, vor allem in China und Indien sprießen neue Unis zu Hunderten und Tausenden; und es lässt sich wohl erwarten, dass diese neokoloniale Bewegung einen neuen Typus von Bildungsinstitution hervorbringen wird, der irgendwann auch wiederum gar nicht so angenehme Effekte in den europäischen Zentren des Kolonialismus hervorbringen dürfte.

Genug des schwarz malenden Weltverschwörungsgeraunes – neben den „Reformen“ sprießt auch der Widerstand an den Unis. Die Widerstandsformen sind ebenso ubiquitär wie ihr Widerpart, doch fehlt ihnen wohl eine ähnliche Form des Aufschaukelns, wie es oben für die neoliberalen Entwicklungen beschrieben ist. Es stimmt schon, dass wahrscheinlich jeden Tag in irgendeiner Bildungseinrichtung rund um die Welt revoltiert wird, aber diese Kämpfe sind meist zu stark auf die lokale Perspektive beschränkt. So auch im Fall des deutschen Bildungsstreiks. Während der heißen Protestwoche im Juni erfreute man sich zwar hoher TeilnehmerInnenzahlen auf der Straße, bei Demonstrationen und Aktionen, doch das Bewusstsein für eine internationale diskursive und aktivistische Verkettung und den Zusammenhang der Kämpfe – im vergangenen Jahr in Italien, Kalifornien, Kroatien, Südkorea, Spanien, New York oder Griechenland – fehlte fast völlig. Als etwa im Rahmen des Bildungsstreiks an der TU Berlin eine Veranstaltung der edu-factory stattfand, jenes transnationalen Kollektivs, das sich gerade um die Sichtbarmachung dieser Verkettungen bemüht, kam nur ein Häuflein sympathischer, aber ziemlich erschöpfter AktivistInnen zur Diskussion, die nach ihren lokalen Aktionen kaum mehr die Kraft hatten, mögliche internationale Strategien zu besprechen. Der Erfolg zukünftiger Kämpfe wird jedoch nicht zuletzt davon abhängen, ob es gelingt, diese internationale Dimension zurückzugewinnen, dem neoliberalen Aufschaukeln eine transversale Verstärkung der lokalen Kämpfe entgegen- oder besser vorzusetzen.

Gerald Raunig

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