Normalarbeit am Netz? Regulierung von Arbeit und Potenziale der Organisierung in den Creative Industries am Beispiel deutscher Internetfirmen

Die Internet-Branche wurde als Hort neuer Arbeitsformen gehandelt, bevor Krise und Konsolidierung ab 2000 zur Renaissance von Arbeitsteilung und hierarchischer Kontrolle beitrugen.

Das Normalarbeitsverhältnis als stabiler Kern der Arbeitswelt

Als Mückenberger 1985 eine „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“ konstatierte, bezeichnete er eine bestimmte Variante von politisch regulierter Lohnarbeit als „normal“ – weil sie (noch) die Statistiken dominierte, aber auch, weil sie als Norm für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen allgemein akzeptiert war. Ein Normalarbeitsverhältnis (NAV) beinhaltete damals unbestritten abhängige Vollzeitbeschäftigung außerhalb des eigenen Haushaltes für ein einziges Unternehmen. Es war unbefristet und dauerhaft, umfasste eine werktägliche „Normalarbeitszeit“, und eine „Normalbelegschaft“ war groß genug, um Anspruch auf kollektive Vertretung und gesetzlichen Kündigungsschutz zu begründen. Zudem galt das NAV als Garant für gesetzlichen Schutz und Teilhaberechte, Tarif und betriebliche Leistungen sowie für den vollen Schutz der Sozialversicherung.

Bedenkt man nun, dass sich dieser Kriterienkatalog vor allem auf männliche Arbeitsverhältnisse in der Stammbelegschaft von Großunternehmen bezog und das NAV ein ausgesprochen junges Phänomen war, das beispielsweise den bundesdeutschen Arbeitsmarkt erst seit etwa 20 Jahren prägte (Mayer-Ahuja 2003), so relativiert sich die Normalität von Normalarbeit doch beträchtlich. Trotzdem stand und steht das NAV als Orientierungspunkt für die Gesetzgebung, aber auch als Inbegriff gesellschaftlicher Normalitäts-Vorstellungen im Fokus zeitgenössischer Auseinandersetzung über die Regulierung abhängiger Beschäftigung. Es gilt zwar seit seiner „Entdeckung“ als fragil – aber dabei geht es um quantitative Reduzierung, während Veränderungen in der Qualität von Arbeitsverhältnissen meist am Beispiel von Nicht-Normal-Arbeit (etwa von Alleinselbständigen in den Creative Industries) diskutiert werden (Henninger/Gottschall 2005). Die Diagnose: Das NAV ist in sich stabil – allenfalls sein Anteil geht zurück. Daraus ist gefolgert worden, „trotz Massenerwerbslosigkeit, neuer Erwerbsformen und betrieblicher Flexibilisierungsstrategien“ arbeite die Mehrheit der (westdeutschen) Erwerbsbevölkerung „in einer Zone relativ stabiler Beschäftigung […], in der Flexibilisierung vor allem als unternehmensinterne Veränderung vor dem Hintergrund einer allgemein unsicheren Arbeitsmarktsituation erfahren“ werde (SOFI u.a. 2005, 14). Kein Wunder, könnte man meinen, dass die Organisierung von Beschäftigten im „zeitlosen Reich des NAV“ sich als schwierig erweist.

Das Hauptproblem dieser Argumentation liegt allerdings darin, dass sie das NAV mit unbefristeter Vollzeitarbeit gleichsetzt, also nur noch drei Kriterien gelten lässt, nämlich abhängige Beschäftigung, Vollzeitarbeit und unbefristeter Arbeitsvertrag. Ausgeblendet wird hingegen das Auseinanderklaffen von unbefristeter Vollzeitarbeit einerseits, langfristigen Erwerbsperspektiven, stabiler betrieblicher Einbindung, verlässlicher Arbeits(zeit)gestaltung, sozialer Absicherung und kollektiver Interessenvertretung andererseits. Dieser „Umbruch der Normalarbeit“ (Kratzer 2003) ist durch bloßes Zählen unbefristeter Vollzeitstellen nicht zu fassen, und er verweist auf beträchtlichen politischen Sprengstoff, wie ein Blick auf die Internet- und Multimediabranche in Deutschland zeigt.

Normalarbeit am Netz?

Die Internet-Branche wurde als Hort neuer Arbeitsformen gehandelt, bevor Krise und Konsolidierung ab 2000 zur Renaissance von Arbeitsteilung und hierarchischer Kontrolle beitrugen (Mayer-Ahuja/Wolf 2005b). Auch die dortigen Arbeitsverhältnisse standen nicht im Verdacht, NAV-Standards zu entsprechen: Als prägend galten Freelancer/innen, die Arbeitsleben und -zeiten bewusst flexibel gestalteten und deren generations- wie szenebedingte Zur-Schau-Stellung von Jugendlichkeit jeden Gedanken an Senioritätsaufstieg und Rentenversicherung verbot (Meschnig/Stuht 2001). Allerdings deutet inzwischen trotz statistischer Erfassungsprobleme (Michel 2002; Schnorr-Bäcker 2001) viel darauf hin, dass unbefristete abhängige Vollzeitarbeit in Internetfirmen mindestens genauso weit (und teilweise weiter) verbreitet ist wie im deutschen Branchendurchschnitt. So entsprach der Freelancer/innen-Anteil 2002 mit ca. 11% etwa dem Selbständigenanteil in der Gesamtwirtschaft und dürfte seitdem eher gesunken sein (Läpple 2004). Die Hamburger Agentur für Arbeit registrierte 2002 unter Werbe- und DV-Fachleuten einen sehr geringen Teilzeit-Anteil (von 4,6% bzw. 6,8%), während dieser branchenübergreifend bei 21% lag (Henninger/Mayer-Ahuja 2005), und auch befristete Arbeitsverträge scheinen seltener zu sein als in der Gesamtwirtschaft (Brasse 2003). Setzt man das NAV also mit unbefristeter abhängiger Vollzeitarbeit gleich, so gehört die Internet- und Multimediabranche durchaus zum angeblich stabilen Kern der Arbeitswelt (zum Folgenden: Mayer-Ahuja/Wolf 2004, 2005a, 2005b).

Trotzdem sind die dortigen Arbeitsverhältnisse von grundlegend anderer Substanz als ein typisches NAV der 1980er Jahre, denn manche Kriterien haben nur noch formal Gültigkeit oder zeitigen andere Auswirkungen auf Beschäftigte. So kommen die Inhaber/innen des „neuen NAV“ in Internetfirmen zwar in den Genuss betrieblicher Leistungen, doch dabei handelt es sich nicht mehr um kollektivvertraglich vereinbarte Betriebsrenten, Sozialpläne oder Qualifizierungsmaßnahmen. Vielmehr wurden die in den Expansionsjahren „freiwillig“ angebotenen Gewinnbeteiligungen oder Sachleistungen (wie Dienstwagen) in der Branchenkrise oft ersatzlos gestrichen, selbst in größeren Firmen flankierte kein Sozialplan die Massenentlassungen, und Weiterqualifizierung gilt trotz aller Bekenntnisse zu „Wissensarbeit“ als Privatsache. Zudem hat gesetzlicher Kündigungsschutz in den zahlreichen Kleinbetrieben der Branche keine Gültigkeit, und die Arbeitszeitgestaltung, die wegen der Anpassung an Kunden-Geschäftszeiten durchaus an NAV-Standards erinnert, wird zwar nicht mehr technisch (durch Stechuhren), aber direkt und persönlich durch Vorgesetzte und Kolleg/innen kontrolliert. Sie ist halbwegs regelmäßig, aber kaum planbar, und Beschäftigte haben weniger Einfluss auf Dauer, Lage und Verteilung ihrer Arbeitszeiten, weil diese nicht mehr kollektiv vereinbart, sondern „von außen“ vorgegeben werden – zumindest können sich Vorgesetzte zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen auf „den Kunden“ berufen.

Teilweise ist trotz der Dominanz unbefristeter Vollzeitarbeit sogar ein Bruch mit NAV-Standards in Internetfirmen festzustellen, etwa was Stabilität und Dauerhaftigkeit betrieblicher Einbindung betrifft. Anders als in Zeiten von Expansion und Arbeitskräfteknappheit wird nicht mehr so schnell und häufig zwischen Unternehmen bzw. zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung gewechselt, weil Beschäftigte heute eher an ihrem Arbeitsplatz festhalten – aber gleichzeitig nehmen nun viele Firmen Entlassungen vor oder melden Konkurs an. Derlei Unsicherheit ist in NAV-Konzepten der 1980er Jahre nicht vorgesehen, und sie beeinflusst die Qualität von Arbeitsverhältnissen maßgeblich. Immerhin schützt gesetzlicher Kündigungsschutz nicht vor der Firmenpleite, und voller Sozialversicherungsschutz entsteht nur bei dauerhafter und ununterbrochener Beitragszahlung. Ein weiteres Kriterium, das ein NAV in den 1980er Jahren erfüllen musste, das aber in Internetfirmen keine Rolle spielt, ist der Anspruch auf kollektive Interessenvertretung. Es wird derzeit spekuliert, ob sich unter Internetbeschäftigten Interesse daran regt (Abel/Pries 2005), doch faktisch existieren bislang kaum Betriebsräte, und es gibt keinen Tarifvertrag für diese Branche.

Hoffnung auf Organisierbarkeit?

Dauerhafte Beschäftigungsperspektiven und kollektive Interessenvertretung waren in früheren NAV-Konzepten nur zwei Kriterien unter vielen. Durch ihr Fehlen reicht jedoch selbst unbefristete Vollzeitarbeit in Internetfirmen nicht entfernt an das Sicherungsniveau heran, das vor 20 Jahren dem NAV attestiert wurde. Was dies für die Organisierbarkeit von Beschäftigten heißt, ist unklar: Einerseits sprechen unbefristete Vollzeitverträge und relativ hohe Löhne dagegen, dass sich hier ein „Prekariat“ herausbildet. Andererseits ist die materielle Unsicherheit durchaus Merkmal einer sich branchenweit verallgemeinernden „objektiven“ Arbeits- und Lebenssituation, und sie äußert sich in einer sehr widersprüchlichen Selbstwahrnehmung dieser Beschäftigtengruppen: Die Einschätzung, zu einer nach ganz neuen Regeln arbeitenden Avantgarde zu gehören, steht unvermittelt neben der Erfahrung zunehmender Arbeitsteilung und hierarchischer Kontrolle. Und der „formale Anschein von Normalarbeit“ kollidiert nicht nur mit dem oft positiv besetzten Image des selbstbestimmten Vermarkters der eigenen Arbeitskraft, sondern auch mit dem eingeschränkten Schutzniveau von Internetarbeit. Kurz gesagt: Man arbeitet wie ein/e Spießer/in und bekommt dafür doch kaum Sicherheit.

Diese Mischung ist ebenso explosiv wie unberechenbar: Mal erleichtert sie es, in Krisensituationen Beschäftigte punktuell gewerkschaftlich zu organisieren – mal werden im leichtesten Aufschwung die Einzelkämpferinstinkte wiederbelebt. Wohin die Reise gehen wird, ist nicht entschieden, doch vielleicht lässt sich die Diagnose „eingeschränkter Normalarbeit“ in Internetfirmen politisch nutzen: Weil sie voraussetzt, die eigene Existenz als abhängig Beschäftigte/r zu akzeptieren; weil es bei NAV-Konstrukten immer (auch) um den Streit für kollektive Regulierung von Lohnarbeit geht; und weil das schiere Ausmaß von Unsicherheit im angeblich stabilen Kern der Arbeitswelt Reibung verursacht, aus der Bewegung entstehen könnte.

Literatur

Abel, J. / Pries, L. (2005): „Von der Stellvertretung zur Selbstvertretung? Interessenvertretung bei hochqualifizierter Wissensarbeit in Neue-Medien-Unternehmen“. In: Mayer-Ahuja/Wolf 2005a, S. 109-152

Brasse, C. (2003): Junge Branche, alte Muster. Vom Arbeiten und Leben in den Neuen Medien. Hannover

Henninger, A. / Gottschall, K. (2005): „Freelancer in den Kultur und Medienberufen: Freiberuflich, aber nicht frei schwebend“. In: Mayer-Ahuja/Wolf (2005a), S. 153-183

Henninger, A. / Mayer-Ahuja, N. (2005): Arbeit und Beschäftigung in den Hamburger „Creative Industries“, Unveröffentlichte Expertise für FORBA

Kratzer, N. (2003): Arbeitskraft in Entgrenzung. Grenzenlose Anforderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressourcen. Berlin

Läpple, D. (2004): „Branche und Arbeitsmarkt der Neuen Medien im Umbruch – Hamburg im Vergleich“. In: Ders. u.a. (Hg.) (2004): Neue Medien – neue Arbeit? Hamburg im Vergleich mit internationalen Metropolen. Hamburg, S. 1-21

Mayer-Ahuja, N. (2003): Wieder dienen lernen? Vom westdeutschen „Normalarbeitsverhältnis“ zu prekärer Beschäftigung seit 1973. Berlin

Mayer-Ahuja, N. / Wolf, H. (2004): „Jenseits des Hype: Arbeit bei Internetdienstleistern“. In: SOFI-Mitteilungen Nr. 32, S. 79-96

Mayer-Ahuja, N. / Wolf, H. (Hg.) (2005a): Entfesselte Arbeit – neue Bindungen. Grenzen der Entgrenzung in der Medien- und Kulturindustrie. Berlin

Mayer-Ahuja, N. / Wolf, H. (2005b): „Arbeit am Netz. Formen der Selbst- und Fremdbindung bei Internetdienstleistern“. In: dies. (2005a), S. 61-108

Mayer-Ahuja, N. (2006): „Normalarbeitsverhältnis in Internetfirmen? Zur schleichenden Entwertung eines Konzeptes“. In: WSI-Mitteilungen 6, S. 335-340

Meschnig, A. / Stuht, M. (2001): www.revolution.de". Die Kultur der New Economy. Hamburg

Michel, L.P. (2002): „Arbeitsmarkt für flexible Spezialisten. Berufsbilder und Qualifikationsanforderungen in der Konvergenzbranche Multimedia“. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 1, S. 28-44

Mückenberger, U. (1985): „Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?“. In: Zeitschrift für Sozialreform 7, S. 415-434/ 457-475

Schnorr-Bäcker, S. (2001): „Neue Ökonomie und amtliche Statistik“. In: Statistisches Bundesamt (Hg.): Wirtschaft und Statistik 3, S. 165-175

SOFI, IAB, ISF, INIFES (Hg.) (2005): Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht. Wiesbaden

Nicole Mayer-Ahuja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen und forscht über Arbeit, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik.

Dieser Text beruht auf: Mayer-Ahuja 2006.

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