Kultur vor Ort. Faktoren für gelingende Kulturentwicklungsprozesse

Das kulturelle Potenzial einer Gemeinde oder Region zu erkennen und zu stärken, kann wesentlich zu einer nachhaltigen Ortsentwicklung beitragen. Mit einer einmaligen Debatte im Gemeinderat ist es jedoch nicht getan. Ein professionell aufgesetzter Prozess, der die Einbindung aller am kulturellen Leben vor Ort beteiligten Menschen ermöglicht und gemeinsam getragene Prozessziele sowie machbare Umsetzungsschritte definiert, ist entscheidend. Wie dies in der Praxis gelingen kann, wissen Helene Schnitzer und Franz Kornberger.

Helene Schnitzer leitet die Tiroler Kulturinitiativen (TKI), die mit „Kultur vor Ort“ Tiroler Gemeinden Unterstützung bei Kulturentwicklungsprozessen bieten. Entwickelt wurde das Projekt in Kooperation mit Franz Kornberger, der den Gemeinden als Prozessbegleiter bei „Kultur vor Ort“ zur Seite stand. Er kennt die unterschiedlichen Positionen und Blickwinkel der Kulturarbeit in ländlichen Räumen wie kaum ein anderer: als Kulturarbeiter in Ebensee der 1970er Jahre, als „es so gut wie nichts gegeben hat“, als Kulturpolitiker und Kulturreferent der Marktgemeinde Ebensee, als Vorsitzender des Fachbeirates für regionale Kulturentwicklung im oberösterreichischen Landeskulturbeirat, als selbstständiger Kommunalberater und Prozessbegleiter, um nur einige Stationen seines Werdegangs zu nennen. Zusammengeführt hat die beiden die Haltung und der Zugang zu regionaler Kulturentwicklung.

 

Eine Frage der Haltung. Eckpfeiler lokaler Kulturpolitik


„Man muss Bewusstsein dafür erzeugen, dass Kulturpolitik Politik ist – aber nicht im Sinne von Parteipolitik, sondern in dem Sinne, dass man sich für die Kultur als Sprecher, als Unterstützer in der Gemeinde aktivieren muss“, umreißt Franz Kornberger die notwendige Haltung als lokale*r Kulturpolitiker*in. Offenheit und Transparenz spielen dabei eine wesentliche Rolle. Mindestanforderung dabei ist, „dass man auf jeden Fall mit allen kulturellen Initiativen sprechen muss und ihnen auf Augenhöhe begegnet“.

Zur Haltung zählt aber auch das Verständnis der eigenen Rolle. „Es ist nicht Aufgabe der Gemeinde, Kultur zu machen. Es ist Aufgabe der Gemeinde, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Kultur gemacht wird,“ so Kornberger. In der Praxis helfen dabei beispielsweise vom Gemeinderat beschlossene Leitsätze, die grob Rahmenbedingungen und Vorgaben der Kulturpolitik abstecken. Ein weiterer zentraler Punkt der Rahmenbedingungen ist die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen für Kulturarbeit vor Ort. Es braucht Strukturen, die sich nicht nur im Ehrenamtsbereich, sondern auch im professionellen Bereich abspielen. Denn selbst das größte ehrenamtliche Engagement bedarf eines Mindestmaßes an professioneller Koordinierung und Struktur. „Irgendwann schnell ein Event, ein Projekt umzusetzen, ist relativ leicht möglich. Aber nur Strukturen garantieren, dass Kulturarbeit auch nachhaltig wirken kann“, bringt es Kornberger auf den Punkt. Denn darum geht es letztlich: Nicht nur punktuell Initiativen zu setzen, sondern nachhaltig das Lebensumfeld zu verändern.
 

Nur Strukturen garantieren, dass Kulturarbeit auch nachhaltig wirken kann.


Ein Mindestmaß an Planbarkeit und Sicherheit ist ein weiterer Punkt, um nachhaltige Prozesse zu ermöglichen: „Strukturfinanzierung darf nicht zu Abhängigkeiten führen“, betont Kornberger. „Es ist wichtig, dass Kulturarbeit autonom geschehen kann und nicht durch irgendwelche finanziellen Zensurmaßnahmen eingeschränkt wird. Da geht es um Fair Pay. Da geht es um Zukunftssicherheiten, dass man durchaus mit einiger Sicherheit wissen soll, dass man nicht nächstes Jahr wieder auf der Straße steht.“

Und noch ein Punkt ist Kornberger wichtig: Kultur ist Querschnittsmaterie, gerade auf Gemeindeebene. „Es geht darum, dass sich Kultur in die Gesellschaft insgesamt einmischt. Das hat mit Architektur, mit Baukultur, mit sozialen Fragen zu tun, ist für die Jugendarbeit wichtig, kann aber durchaus auch für den Tourismus von Bedeutung sein.“ Kultur also als Faktor, der Lebensraum nachhaltig mitgestaltet und verändert.

 

Kulturentwicklung in der Praxis: Das Projekt „Kultur vor Ort“


Auf dieser Haltung fußt das TKI-Projekt „Kultur vor Ort“, das Tiroler Gemeinden bei Kulturentwicklungsprozessen unterstützt. Konkret werden mittels Vorerhebung, Workshop und Nachbereitung über einen Zeitraum von ca. drei Monaten die Stärken und Potenziale von Gemeinden erarbeitet und Schritte für die Umsetzung identifiziert.

Den Anstoß für das Projekt lieferte 2008 Wörgl. „Damals war ein Konflikt um das städtische Veranstaltungszentrum Komma die Ausgangssituation. Die freien Kulturinitiativen haben sich in Bezug auf Komma benachteiligt gefühlt“, erinnert sich Helene Schnitzer an den ersten Kulturentwicklungsprozess, den sie begleitet haben. Besonders in Erinnerung geblieben davon ist, „wie schnell der Konflikt mit Komma vom Tisch war“ und grundsätzliche Stadtentwicklungsfragen diskutiert wurden. Ein Kulturleitbild wurde entwickelt, Kulturförderkriterien erarbeitet, ein Teilnehmer wechselte gar in die kommunale Kulturpolitik.

Der Prozessverlauf von „Kultur vor Ort“ ist seit damals im Wesentlichen gleich geblieben: Am Anfang steht die Bewusstseinsbildung vor Ort, in der sich der Gemeinderat dazu bekennt: Ja, wir wollen diesen Kulturentwicklungsprozess. Gibt es das Bekenntnis zum Prozess, nimmt der*die Prozessbegleiter*in Kontakt mit der von der Gemeinde definierten Ansprechperson auf – meist ist dies der*die Kulturreferent*in. Gemeinsam erstellen sie eine Liste der Schlüsselpersonen – Künstler*innen und Kulturarbeitende im Ort, Mitarbeitende der Verwaltung, Vertreter*innen aus den Bereichen Jugend, Bildung, Tourismus etc.

 

Im ersten Schritt finden Einzelgespräche mit den Schlüsselpersonen statt. Formell geht es um die Ist-Situation, die bestehenden Strukturen und aktuelle Fragestellungen. Ergebnis ist eine Art „verdichtetes Innenbild des Kulturlebens in der Gemeinde“, das als Grundlage für den folgenden Workshop dient. Die Erfahrung zeigt, dass durch die gezielten Fragestellungen bereits eine gewisse Bewusstseinsbildung in Gang gesetzt wird. Der folgende eintägige Workshop ist das Kernstück von „Kultur vor Ort“. Er ist ein Mix aus Inputs zu Möglichkeiten der Kulturpolitikgestaltung, Good Practices und Erfahrungen anderer Gemeinden, der Präsentation der erstellten Bestandsaufnahme, aber vor allem Diskussionen und kreativem Austausch in Kleingruppen zu den zwei bis drei wichtigsten Themen, die sich aus der Vorerhebung ergeben haben. Es geht darum, „aus dem kreativen Potential der Gruppe, die sehr inhomogen und vielfältig zusammengesetzt ist, zu schöpfen.“

Am Ende steht die Aufarbeitung der Ergebnisse in einem Projektbericht, in dem die gemeinsam erarbeiteten Ziele und nächsten Schritte zusammengefasst sind. Ziel ist, zwei bis vier konkrete nächste Schritte festzumachen, an denen weitergearbeitet wird. In der Praxis sind die Ergebnisse so individuell wie die Ausgangslagen und Interessenslagen der Gemeinden.

„In Inzing ist es um einen denkmalgeschützten Leerstand im Dorfkern gegangen, der kulturell genutzt werden wollte“, führt Schnitzer aus. „In Kematen, ein kleines Dorf bei Innsbruck, hat sich der Kulturverein aufgelöst und es entstand ein Vakuum. Der Bürgermeister wollte, dass über die kulturelle Weiterentwicklung diskutiert wird. Und in St. Johann in Tirol, einer großen Tourismusgemeinde, ging es um das Verhältnis von Kultur und Tourismus.“ Aktuell stehen mit Imst und Axams zwei weitere Gemeinden in den Startlöchern für einen „Kultur vor Ort“-Prozess.

 

Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass in Agenda-, Orts- oder Stadtentwicklungsprozessen ein begleitendes, am besten aber integratives Kulturentwicklungskonzept mit bearbeitet werden muss.

 

Die Rolle der Länder. Zukunftsperspektiven


Gemeinden arbeiten jedoch nicht isoliert. Welche Rolle nehmen die Länder für lokale Kulturentwicklungsprozesse ein bzw. sollten sie einnehmen? Bei „Kultur vor Ort“ konnte das Land Tirol von Anfang an als Unterstützer gewonnen werden. In der Praxis bedeutet das, dass Gemeinden, die sich für einen „Kultur vor Ort“-Prozess entscheiden, die Hälfte der Kosten von der Kulturabteilung des Landes refundiert bekommen.

Im größeren Kontext muss das Ziel sein, dass in geförderten Prozessen – seien es Agendaprozesse, Orts- oder Stadtentwicklungsprozesse – Kulturentwicklung ein integraler Bestandteil wird. „Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass zumindest ein begleitendes, am besten aber integratives Kulturentwicklungskonzept mit bearbeitet werden muss“, so Kornberger mit Blick auf die Verantwortung der Landespolitik. Auch im Bildungsbereich gibt es viel Luft nach oben. Es braucht mehr Schulungs- und Vernetzungsangebote der Länder für jene, die sich mit Kultur beschäftigen.


Nur mit einem gut funktionierenden Mix aus Professionalität und Ehrenamt kann wirklich Entscheidendes vor Ort entstehen!


Das größte Herzensanliegen mit Blick auf die Rolle der Länder ist Kornberger jedoch ein anderes. „Wir wissen, dass viele Gemeinden immer stärker in einen Kostendruck kommen. In Oberösterreich rechnen wir damit, dass in den nächsten zwei bis drei Jahren ein Drittel der Gemeinden sogenannte Härteausgleichsgemeinden sind. Diese Gemeinden können ihre Ausgaben nicht mehr aus dem eigenen Aufkommen decken. Die Länder machen Vorgaben, wie unter solchen Rahmenbedingungen vorzugehen ist, wenn das Land abfedern soll. Und da gibt es ganz wesentliche Einschränkungen bei den sogenannten freiwilligen Leistungen, die massiv in Fördermaßnahmen für Kultur, aber auch für Sport und manche soziale Dienste eingreifen. Was ich mir sehr stark wünsche – gerade weil strukturschwächere Gemeinden sich umso stärker um Kulturentwicklung kümmern sollten – ist, dass die Länder bei ihren Vorgaben akzeptieren, dass ein bestimmter Prozentsatz für Kultur verwendet werden kann; dass es Aufgabe der Gemeinden ist, Mittel für Kulturförderungen einzusetzen. Denn das sind dramatische Einschränkungen, die die Bedingungen aller Initiativen massiv gefährden. Ehrenamt in der Kultur ist nach wie vor sehr wichtig. Aber nur mit einem gut funktionierenden Mix zwischen Professionalität und Ehrenamt kann wirklich Entscheidendes vor Ort entstehen!“

Letztlich braucht es damit Kulturentwicklungsprozesse nicht nur auf Gemeindeebene, sondern auf allen Ebenen. Nur wenn klar ist, welche Ziele gemeinsam verfolgt werden und wie die schrittweise Umsetzung erfolgen soll, kann Kultur ihr Potential als Motor für gesellschaftliche Entwicklungen entfalten – ohne stets Gefahr zu laufen, als freiwillige Sonderleistung dem Rotstift zum Opfer zu fallen. Erfahrungswissen aus der Praxis für gelingende Kulturentwicklungsprozesse gäbe es genug!

 

Das Gespräch fasste Yvonne Gimpel zusammen.

Mehr zum Projekt: www.tki.at/projekt/kultur-vor-ort/


Helene Schnitzer ist Geschäftsführerin der TKI – Tiroler Kulturinitiativen.

Franz Kornberger ist Kommunalberater, Prozess- begleiter, Kulturpolitiker und Kulturarbeiter im Ruhestand. Er war u.a. im Kino Ebensee und beim Freien Radio Salzkammergut aktiv, zudem von 1996 bis 2001 Vorsitzender des Fachbeirates
für regionale Kulturentwicklung im oberöster- reichischen Landeskulturbeirat.

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Cover des IG Kultur Magazins, Ausgabe 2023



Dieser Artikel ist erstmals in der Ausgabe 1.23 „LAND KULTUR ARBEIT“ des Magazins der IG Kultur Österreich – Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.

Das Magazin kann unter @email (5 €) bestellt werden. 

 

Coverbild: Feldhotel N°2 in Lustenau © Nikolaus Skorpik

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