Der europäische Tsunami

Panik herrscht in Europa. PolitikerInnen sind ratlos. Die Zukunft ist ungewiss. Die Stimmung erinnert an die nach einer Naturkatastrophe, ein Tsunami ist über das europäische Einigungswerk hereingebrochen. Diese schwere Erschütterung wurde durch die Entscheidung der europäischen oder, präziser: einiger europäischer BürgerInnen gegen ein Dokument hervorgerufen, das europäische PolitikerInnen als wesentlichen Schritt der Demokratisierung der EU verstehen, nämlich den europäischen Verfassungsvertrag.

Panik herrscht in Europa. PolitikerInnen sind ratlos. Die Zukunft ist ungewiss. Die Stimmung erinnert an die nach einer Naturkatastrophe, ein Tsunami ist über das europäische Einigungswerk hereingebrochen. Diese schwere Erschütterung wurde durch die Entscheidung der europäischen oder, präziser: einiger europäischer BürgerInnen gegen ein Dokument hervorgerufen, das europäische PolitikerInnen als wesentlichen Schritt der Demokratisierung der EU verstehen, nämlich den europäischen Verfassungsvertrag.

Vermutlich wird sich der erste Schock über diese Entwicklung in nächster Zeit legen - noch liegt die Europäische Union nicht in Trümmern, und dies ist auch nicht wirklich zu erwarten. Doch höchst bedenklich und unerfreulich sind die Folgen der Verfassungsablehnung für die EU allemal. Ein eleganter Ausweg steht nicht zur Verfügung. Die Lösungen, die bei früheren Ablehnungen von Integrationsschritten durch die Bevölkerungen von Mitgliedstaaten gefunden wurden, greifen in diesem Fall nicht. Ein Opt-out eines Mitgliedstaats (wie etwa im Fall Dänemark beim Euro und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) ist bei institutionellen Änderungen nicht möglich, die einen Großteil der Unterschiede des Verfassungsvertrags zum geltenden EU-Recht ausmachen. Auch eine Änderung der Verfassung gefolgt von einer neuen nationalen Abstimmung (wie gleichfalls in Dänemark nach dem Vertrag von Maastricht und in Irland nach dem Vertrag von Nizza erfolgt) stößt auf mehrere Probleme. Rein kosmetische Änderungen dürften an der sehr entschiedenen Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden nichts ändern, sondern würden eher berechtigten Ärger auslösen.

Es stellt sich auch die Frage, in welche Richtung diese Revisionen gehen sollten, da doch die Gründe der Ablehnung im rechten und linken Lager ganz unterschiedlich waren. Größere Verfassungsänderungen würden dazu führen, dass das auf der Regierungskonferenz im Juni 2004 mühsam geschnürte Paket wieder aufgedröselt werden muss, was zu einem neuerlichen Spiel nationaler Begehrlichkeiten mit höchst ungewissem Ausgang führen würde. Zusätzlich kämen durch eine solche Vorgangsweise diejenigen Mitgliedstaaten in Schwierigkeiten, die die Verfassung bereits ratifiziert haben. Das nun vom österreichischen Bundeskanzler Schüssel ins Spiel gebrachte europaweite Referendum wäre eine gute, vermutlich die beste Lösung der gesamten Ratifizierungsfrage am Beginn dieses Prozesses gewesen, zum derzeitigen Zeitpunkt aber würde diese Variante wohl genauso wie die Wiederholung eines nationalen Referendums (und zu Recht) als manipulativer Akt angesehen werden. Und in der nun herrschenden Ratlosigkeit scheint auch der Vorschlag "Zurück an den Start", also die Einberufung eines neuen Verfassungskonvents, wenig erfolgversprechend - der Verfassungsinitiative ist ziemlich deutlich der Wind aus den Segeln genommen und derartige Flauten eignen sich schlecht für große politische Würfe.

Vermutlich also wird es zu einer - in der Geschichte der europäischen Integration nicht seltenen - Halblösung des "Weiterwurschtelns" kommen. Einige der neuen institutionellen Bestimmungen im Verfassungsvertrag können über das Selbstorganisationsrecht der Organe der EU oder durch interinstitutionelle Abkommen umgesetzt werden. Diese Vorgangsweise wird die Intransparenz der EU weiter erhöhen. Manche politische Integrationsschritte, wie insbesondere die Vertiefung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, werden wohl von den Staaten, die dazu bereit sind, im Alleingang gesetzt werden. Die Entwicklung dieser Politikfelder wird damit für die diesbezüglich skeptischen Mitgliedstaaten unbeeinflussbar. Und die wirklichen Fortschritte der Verfassung, wie insbesondere die Grundrechtecharta, die größeren Rechte für das europäische Parlament und das Instrument der europäischen Bürgerinitiative können ohne Verfassung nicht implementiert werden.

Demokratie oder BürgerInnennähe

So weit, so unerfreulich. Trotzdem ist es erstaunlich, dass die europäische Politik von der Ablehnung der Verfassung dermaßen schockiert ist. Nicht nur war der Ausgang des französischen Referendums schon einige Wochen vor dem Ereignis durchaus absehbar, sondern ganz grundsätzlich wäre von demokratischer Politik die Möglichkeit einzukalkulieren, dass sich die BürgerInnen - wenn sie schon mal gefragt werden - anders entscheiden, als von denjenigen erhofft, die sie befragen. Und im Rahmen der seit mehr als zehn Jahren geführten Debatte um das europäische Demokratiedefizit hätten die möglichen Folgen einer Demokratisierung doch schon einmal thematisiert werden können.

Doch offensichtlich ist dies nicht der Fall. Das Demokratiedefizit sollte nicht dadurch gelöst werden, dass sich PolitikerInnen in ihrem Handeln am Willen der BürgerInnen orientieren, sondern dadurch, dass die BürgerInnen mehr Begeisterung für das Handeln der PolitikerInnen entwickeln.

Zur Erreichung dieses Ziels sind Referenda allerdings ein wenig taugliches Mittel, hingegen empfehlen sich politische Werbekampagnen, die gerne als Informationsoffensiven bezeichnet werden. In PolitikerInnenreden wird Demokratie gerne als BürgerInnennähe übersetzt; dies ist allerdings im besten Fall ein Missverständnis und im schlechtesten eine bewusste Irreführung: BürgerInnennähe ist Anbiederung der Politik an das Wahlvolk, Demokratie hingegen beruht auf Volksentscheidung.

Eine solche Volksentscheidung sollte nun in einigen Mitgliedstaaten herbeigeführt werden. Die Gründe für die Durchführung von Referenda waren vielfältig und reichten von verfassungsmäßiger Verpflichtung über politische Tradition zu innenpolitischem Kalkül. Aber auch die Absicht, einen konstitutionellen Moment für Europa zu schaffen, mag eine Rolle gespielt haben. Wenn auch nicht eine so große Rolle, dass innenpolitische Strategien hintangestellt worden wären. Denn in diesem Fall wäre ein europaweites Referendum die richtige Entscheidung gewesen, das die Chance auf transnationale Debatten über europäische Angelegenheiten und damit auf Beförderung einer europäischen Öffentlichkeit wie auch einer politischen Identität der EU geboten hätte.

Selbstverständlich hätte auch ein gesamteuropäisches Referendum einige Probleme nach sich gezogen: Erstens ist dieses Instrument im Primärrecht der EU nicht vorgesehen und zweitens lassen einige nationale Verfassungen von Mitgliedstaaten kein Referendum zu. Drittens hätte sich die Frage nach dem Abstimmungsmodus gestellt. Wann wäre das Referendum als positives Votum gewertet worden? Wenn eine Mehrheit der BürgerInnen für die Verfassung gestimmt hätte oder eine Mehrheit der Mitgliedstaaten oder bei Erreichen einer doppelten Mehrheit von BürgerInnen und Staaten oder nur bei einem "Ja" in allen Mitgliedstaaten? Falls nicht die letzte Variante gewählt worden wäre, hätte sich die Frage gestellt, wie mit einem europaweit positivem Votum umzugehen ist, wenn gleichzeitig die Bevölkerung eines Mitgliedstaats gegen die Verfassung stimmt, in dem ein bindendes Referendum in der nationalen Verfassung vorgeschrieben ist.

Rechtliche Rahmenbedingungen sind allerdings veränderbar, und wenn Rechtsordnungen mit Naturgesetzen gleichgesetzt und rechtliche Schwierigkeiten daher als unüberwindlich dargestellt werden, so steckt meist ein politisches Kalkül dahinter - im konkreten Fall der Unwillen einiger Staats- und RegierungschefInnen, sich in dieser Frage einer Volksentscheidung zu unterwerfen. Vermutlich wünscht sich Jacques Chirac dieser Tage, sich dieser Gruppe angeschlossen zu haben, hat er sich doch ganz eindeutig in seinem innenpolitischen Kalkül schwer verrechnet und damit nicht nur seine Regierung, sondern auch die EU in eine schwere Krise gestürzt.

Schuld sind die BürgerInnen

Doch in den PolitikerInnenreden wurden die Schuldigen an diesem Debakel bereits gefunden, und zwar nicht in den eigenen Reihen: Das Volk hat falsch entschieden, denn es hat die gestellte Frage nicht beantwortet. Das ist eine durchaus übliche Reaktion der hohen Politik, wenn das Volk ihre Erwartungen nicht erfüllt. "Politikverdrossenheit" etwa wird es genannt, wenn sich die BürgerInnen nicht für das politische Geschehen interessieren, womit die Ursache für dieses Phänomen in einer problematischen psychischen Struktur der BürgerInnen statt in Fehlleistungen des politischen Systems gesucht wird.

Im konkreten Fall dürfte die Einschätzung allerdings korrekt sein. Die Frage, um die es ging, lautete eigentlich: Wollen Sie die neue Verfassung oder den Vertrag von Nizza? Und das ist nun tatsächlich eine Frage, zu deren Beantwortung ein Fachwissen nötig ist, über das wenige BürgerInnen (und übrigens vermutlich auch nicht alle nationalen ParlamentarierInnen) verfügen. Außerdem ist es eine Frage, die zwar einige institutionelle Konsequenzen hat, aber nicht wirklich emphatisch genug erscheint, um einen konstitutionellen Moment der EU zu schaffen.

Wozu also haben die BürgerInnen "Nein" gesagt? Zur neoliberalen Ausrichtung der EU, die durch die Verfassung eher eingeschränkt als gefördert wird, zur fehlenden Sozialpolitik, für deren Entwicklung die Verfassung erstmals eine mögliche Grundlage darstellen würde, zu den geplanten Erweiterungen, die mit der Verfassung in keinem direkten Zusammenhang stehen. (Ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen der Volksentscheidung und den Verfassungsinhalten findet sich allerdings bei den Stimmen, die sich gegen eine europäische Verteidigungspolitik und die Aufrüstung der EU wandten, da die Verfassung in diesem Politikfeld tatsächlich zu Vertiefungen führt.)

Haben die BürgerInnen also etwas falsch gemacht? Nun ja, jedenfalls haben sie etwas anders gemacht, als es von ihnen erwartet wurde. Sie haben nicht die konkrete Frage beantwortet, sondern das europäische Projekt grundsätzlich in Frage gestellt. Insbesondere haben sie sich entschlossen, die Funktionsweise des europäischen Integrationsprozesses zu ignorieren, die bekanntlich auf mühsam ausgehandelten Kompromissen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten und einer Politik der kleinen Schritte beruht. Wie bereits dargestellt, ist aufgrund der historischen Entwicklung und des institutionellen Aufbaus der Union eine Alternative zu dieser Form der Politik kaum vorstellbar. Doch muss es den BürgerInnen schon freistehen, sich in ihren Entscheidungen genau dieser Logik nicht zu beugen - zumal sie ja nicht so sehr häufig die Möglichkeit zur Mitgestaltung des Integrationsprozesses erhalten.

Das Dilemma der europäischen Öffentlichkeit

Wenn also schon keine Naturkatastrophe, so doch ein Dilemma: Ein Demokratisierungsschritt, der aus der Perspektive der bisherigen institutionellen Entwicklung der EU als durchaus weit reichend angesehen werden kann, scheitert im demokratischen Verfahren. War also das Verfahren falsch gewählt? Eignet sich die komplexe und zugleich inkrementelle Veränderung des europäischen Primärrechts, um die es hier geht, nicht für Plebiszite?

Diese Deutung ist sicherlich plausibel. Doch lässt mensch sich auf sie ein, so wird es wohl nie einen richtigen Zeitpunkt für eine Demokratisierung der EU geben. Die Komplexität der politischen Prozesse in diesem Mehrebenensystem sind unvermeidlich, und der Einfluss europäischer Politik auf das Leben des/der Einzelnen ist in den seltensten Fällen selbsterklärend. Zur Vermittlung zwischen der Politik und den BürgerInnen bedarf es einer politischen Öffentlichkeit, in der wichtige Fragen aufgeworfen und diskutiert werden. Doch eine solche Öffentlichkeit bildet sich nicht spontan, sondern aufgrund politischer Partizipationsmöglichkeiten. Dieser Zusammenhang wird im Vergleich der Ratifikationsprozesse in verschiedenen Mitgliedstaaten deutlich: In Frankreich fand vor dem Referendum eine zunehmend vertiefte und analytische Debatte der Verfassung statt, in der sich auch die VerfassungsbefürworterInnen gezwungen sahen, ihre Argumente darzulegen statt arrogant auf ihren ExpertInnenstatus zu pochen. In Österreich hingegen verlief die parlamentarische Ratifikation weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Politische Partizipation bedarf der politischen Öffentlichkeit zur Meinungs- und Willensbildung. Politische Öffentlichkeit entzündet sich an der Möglichkeit zu politischer Partizipation. Aus diesem Zusammenhang heraus ist die EU in eine schwere institutionelle Krise geschlittert, während sich andererseits der Beginn einer kritischen politischen Öffentlichkeit abzeichnet. Für diejenigen, die die Zukunft der EU nicht ausschließlich in Integrationsvertiefung und Erweiterung, sondern auch und zentral in Demokratisierung sehen, sind die Referendumsergebnisse in Frankreich und den Niederlanden zwar kurzfristig problematisch, geben aber mittel- und langfristig durchaus Grund zu Optimismus. Denn eine Demokratisierung ohne kritische Beteiligung der BürgerInnen ist keine Demokratisierung, sondern populistische Rechtfertigung längst gefällter politischer Entscheidungen.


Monika Mokre ist Vorsitzende von FOKUS, der Forschungsgesellschaft für kulturökonomische und kulturpolitische Studien, stellvertretende Direktorin des EIF, Institut für europäische Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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