Aufmüpfig, aufsässig und autonom. EuroMayday 2005
Am 1. Mai 2005 war es so weit: die erste EuroMayday Parade hat sich ereignet. Im Nachklang und Weiterdenken dieser wieder angeeigneten Form des Protests gegen die inzwischen massive Abwertung der Welt und des öffentlichen Auftretens für soziale Rechte für alle – wie auch immer sie orientiert oder desorientiert sein mögen.
Am 1. Mai 2005 war es so weit: die erste EuroMayday Parade hat sich ereignet (vgl. auch die letzte Ausgabe der Kulturrisse 02/05: mächtig prekär). Im Nachklang und Weiterdenken dieser wieder angeeigneten Form des Protests gegen die inzwischen massive Abwertung der Welt und des öffentlichen Auftretens für soziale Rechte für alle – wie auch immer sie orientiert oder desorientiert sein mögen – entstand dieser Text, der Erfahrungen rund um den Prozess des EuroMayday wiederspiegelt und zu verstehen ist als eine Stimme innerhalb des "kollektiven Schreis des Entsetzens und der Hoffnung" (John Holloway).
"Fit, fähig, flexibel und fantastisch" – Hartz IV hinkt hinterher
Mithilfe so genannter Reformen, wie etwa den seit Anfang des Jahres in Deutschland geltenden Hartz- Gesetzen – benannt nach einem ihrer "Schöpfer" Peter Hartz, Vorstandsmitglied bei Europas größtem Automobilhersteller VW –, "Reformen", durch deren Wirksamkeit Sozialleistungen eingespart werden sollen, wird ein Menschenbild entworfen, in dessen Zentrum die "Beschäftigungsfähigkeit" steht. Ein erschreckendes Moment an dieser Ideenkonzeption ist das zum Verschwinden Bringen der ideologischerweise eigentlich überflüssigen Menschen. Nach diesem Plan gibt es – zumindest begrifflich – keine Arbeitslosen mehr. Die bösen, faulen, schmarotzenden, mehr oder weniger glücklichen, mehr oder weniger wirklich arbeitlosen Arbeitslosen lösen sich schlicht und einfach in "Beschäftigungsfähige" auf.
Ich selbst möchte mich in meinem Weltaneignungsversuch als derzeit in einer so genannten Maßnahme Stehende und als Zeitreiche an das "Arbeitsmannequin" von Gerburg Treusch-Dieter anlehnen, welches sie in ihrer lustigen Analyse zum Thema Arbeit mit gleichlautendem Titel vorführt. Lasse ich mich von ihrem Link leiten, stoße ich auf die Diagnose von Oskar Negt: "Eine gefährliche politische Scharlatanerie ist hier am Werk ... in dieser gegenwärtigen Krisenbewältigungsfantasie." Zeitgleich mit der Umwälzung des Problems Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen (selbst Schuld! Es mangelt eben am Leitbild = Eigenaktivität!) und der permanenten Verheimlichung der Ursachen werden absurde Rufe nach Arbeitszeitverlängerung laut. "Das letzte Stadium dieser Umdefinition des Menschen würde darin bestehen, dass er als freudiger Trabant um die Sonne des Kapitals kreist; dass er durch Mechanismen der Selbstausbeutung zum willigen Anhängsel des Marktes geworden ist – und zum politischen Mitläufer. Dazu darf es nicht kommen!"
Genau! Es ist aber doch etwas dagegen los, damit nicht alle zu Trabbis oder sonstigen Auto-Mobiles mutieren: "Ich denke, dass die Gewerkschaften weit davon entfernt sind zu verstehen, was ein prekärer way of life ist", sag ich mit einer heiteren Aktivistin von Assalti-a-Salti aus Turin (graswurzel.net). Sie berichtet, ihre Kritik an versagenden herrschaftlichen Institutionen ausdehnend, von den im südlichen Europa wunderbar erscheinenden ungläubigen Heiligen, die auf den päpstlichen Kanon pfeifen. San Precario/a?! Diese Figur möge mit dem grammatikalischen Geschlecht angerufen werden, welches dem eigenen Begehren entspricht – oder die nicht minder anbetungswürdige Nostra Signora delle Intermittenti. "Wie Du wahrscheinlich weißt", führt ihre Freundin weiter aus, "war Turin eine der bedeutendsten Industriestädte Italiens. Fiat war "die" Fabrik in Italien, und nachdem Fiat geschlossen wurde, fand sich die Stadt ohne Identität und Zukunft wieder. Die Stimmung ist deprimiert, und die Stadtverwaltung arbeitet nur an den Olympischen Spielen. Turin hat ganz andere Probleme, und die Olympischen Spiele (die nächsten Winterspiele werden dort ausgetragen) dienen als Maske ... Wir versuchen Menschen mit prekären Beschäftigungen zusammenzubringen, ein internationales Netzwerk aufzubauen. Ein Netzwerk, das für ein Leben in Würde kämpft."
Weitere exemplarische Knoten des lebendigen Netzwerks (ich zähle 22 große Städte auf unzähligen Webseiten) seien herausgepickt: Maribor etwa, wo der Versuch, ein sonntäglich geöffnetes Einkaufszentrum zu schließen, nicht ungestraft über die öffentliche Bühne ging. Da sich die Protestierenden weigerten, brav auf dem Bürgersteig zu paradieren, wohin sie von den Polizisten gedrängt wurden, sondern die Straße einforderten, kam es zu Übergriffen, ein Aktivist wurde verhaftet. Einen ebenso repressiven Polizeieinsatz mit mehreren Festnahmen gab es etwas weiter nördlich, in London, wo friedliche Pink-Silver-AktivistInnen mit Samba-Band den direkten Weg in einen Supermarkt wählten, um dort Flugblätter, die über die Missstände der Firma informierten, zu verteilen und überhaupt, vor Ort "London For Free" praktisch zu fordern. Ein Stück weiter westlich, in Oxford, wurde Samba Mayday Madness gefeiert. Die Protestierenden banden den letzten April-Tag, den letzten Samstag des Monats, der dort zum regelmäßigen Demotag gegen das Detention Camp Campsfield geworden ist, verständlicherweise in die traurige Feier mit ein.
Vielleicht ist es auch angebracht, in diesen Zusammenhängen auf die Gegend hinzuweisen, in der Anfang Juli der nächste G8 Gipfel zelebriert wird: In Glasgow warf das Treffen der Mächtigen bereits seine Schatten voraus. Die relativ kleine kritische Menge an Personen wurde von drei Kamerateams der Polizei und zum ersten Mal von acht berittenen Polizisten begleitet. Von "stricter and more nervous policing" spricht eine Beobachterin. Auch dort kam es zu drei unnötigen Verhaftungen. "Make Poverty History" und "Cre8 not G8" war auf ihren Schildern zu lesen. Eine Aktion vom 7. Mai sei noch erwähnt, bevor ich über einen geschichtlichen Vor-Sprung nachdenkend dann in Wien landen möchte, weil sie auch gut hierher passen würde: im schottischen Aberdeen marschierten einige Aktivistinnen mit Staubsaugern, Flugblättern und fair gehandeltem Kaffee bewaffnet in eines dieser neuen Ketten-Cafes, um etwas klar zu machen: das "cleaning up after capitalism" hatten sie sich auch auf ihre Arbeitsschutzwesten geschrieben.
"Beruhigt euch, meine Herren, wir brauchen keinen Rechtsgrund, um Eure Ämter zu übernehmen, wenn es uns passt! Eure Privilegien? Was Ihr nicht sagt! Wir mögen keinen alten Plunder; macht damit, was ihr wollt; es ist uns zu sehr geflickt und zu eng für uns. Was wir wollen, ist Wissen und Freiheit", schrieb Louise Michel, anarcho-feministische Kämpferin der Commune. Beim Lesen dieser Sätze in "Kunst und Revolution" (Gerald Raunig) reizt es mich, diesen Barrikaden-Faden mit Judith Butlers schlüssiger Analyse aus "Körper von Gewicht" weiterzuspinnen: "Paradoxerweise ist das, was von dem beschworen wird, der das Recht spricht oder einschreibt, die Fiktion eines Sprechers, der die Autorität innehat, seine Worte bindend zu machen, die Inkarnation der göttlichen Äußerung im Gesetz. Gleichwohl ist der Richter, wenn er das Gesetz zitiert, nicht selbst die Autorität, die das Gesetz mit seiner bindenden Kraft ausstattet. Er greift vielmehr zurück auf eine autoritative gesetzliche Konvention, die ihm vorhergeht. Sein Diskurs wird zu einem Ort der Rekonstitution und Resignifikation des Gesetzes. Woher bezieht allerdings das bereits bestehende Gesetz, das er zitiert, seine Autorität? Gibt es eine ursprüngliche Autorität, eine Primärquelle, oder liegt es vielmehr in der eigentlichen Praxis des Zitierens, die in ihrer Rückläufigkeit potentiell unendlich ist, dass der Grund der Autorität als ein dauerndes Aufschieben konstituiert wird? Anders gesagt, durch genau das unendliche Aufschieben der Autorität auf eine uneinholbare Vergangenheit wird Autorität selbst konstituiert. Dieses Aufschieben ist der wiederholte Akt, durch den Legitimation zustande kommt. Das Hinweisen auf einen Grund, der niemals eingeholt wird, wird zum grundlosen Grund der Autorität."
Diese Zeilen feministischer Theorie können man/ Frau und alle Weiteren sich erst einmal genüsslich auf der Netzhautzunge zergehen lassen. Für manche besonders Aktionswütige in der hiesigen Szene gibt es ja bereits Theorie genug. Doch feministische Theorie? Mein Bedarf ist auf jeden Fall so groß, dass ich die, die mir unterkommt, verschlinge. Der Aktionsmangel, an dem offensichtlich einige Klagemänner leiden, zeigt jedoch, dass in dieser österreichischen Stadt die narzisstische Suderei hoch kultiviert ist. Was tue ich aber als feministisch und kunstpolitisch Gesinnte, wenn ich in meiner Einsamkeit und Weltangst und Verlorenheit nicht weiter weiß? Eine Möglichkeit zu Handeln möchte ich hier mit dem Ausruf einer Freundin kulturrissig betonen: "Basis-demokratische Zirkel sind echte Wunder". Und weil ich diese basis-demokratische Praxis seit einigen Jahren schon in verschiedenen Kreisen lebe und lerne und aufführe (z.B. Fritzpunkt/VTK/EKH/Verein J&A;) und weil die Organisationsarbeit zur EuroMayday Parade von einer solchen offenen Gemeinschaft an Unermüdlichen geleistet wurde, wage ich hier diese Zeilen, als Reflexion für mich selbst, als Enthüllungsprotokoll für die LeserInnenschaft.
Es geht um Sichtbarmachung: Auf einen ängstlichen Einwand gegen die gewählte Paradenroute – es würde uns ja niemand sehen – kam prompt eine schöne Antwort: "Wir sollten uns doch gegenseitig wahrnehmen." Ich nenne sie schön, weil es die "Spindel der Notwendigkeit" (Platon, Politeia ) sausen lässt. Wahrnehmen ist für mich verquickt mit Geduld üben, die Hoffnung nicht verlieren – nicht mit Zerfleischung oder überschüttet werden mit Blitzanalysen – Phänomene, die in dieser dualistischen Eurowelt so ätzen. Sich aktiv einbringen im "kollektiven Miteinander, das darauf bedacht ist, die Neigungen zum personenhaften Zueinander in Schranken zu halten" (Martin Buber, Das dialogische Prinzip), heißt gleichzeitig sich zurücknehmen, ist auch eine Kunst.
Ich konnte mich nicht zurückhalten, sondern hab gelacht, als mir bei einer "Infoveranstaltung für Qualifizierungsmaßnahmen" beim Team4 ein ICH-AG Kurs angeboten wurde. Die Reaktion war: "Das ist kein Witz!", woraufhin sich mein Lachen eine Weile in die Länge zog. Laut Hannah Arendt – und nicht nur sie kennt und propagiert die Macht dieses unerschöpflichen Ausdrucks – wird Autorität am sichersten durch Lachen unterminiert – oder durch Verachtung. "In der Öffentlichkeit wird nicht gelacht!", ist eines der vielen Verbote, die – meist unausgesprochen – eine Körper/Geist-Beschneidung bewirken. Der Paradenraum wurde jedoch, wie ich hörte, auch als Lachraum genutzt.
Laut Duden bedeutet Paradieren neben "anlässlich einer Parade vorbeimarschieren, feierlich vorüberziehen" und in Anlehnung an franz. "herrichten, ausschmücken, elegant aufmachen, arrangieren" auch: "sich mit etwas brüsten, mit etwas prunken". Das T-Shirt, das ich zur Feier des Tages getragen habe, entspricht der Dudendefinition exakt. Es ist ein enganliegendes kurzärmliges Oberteil aus Maschenware ohne Kragen. Vielleicht hat ja dann das Brüsten – im enganliegenden Hemd vollzogen – buchstäblich gut funktioniert. Das Trikot ist laut Etikett "HBA Heereseigentum 1992". Frau könnte es auch eine Normalisierungsarbeiter-Unterwäsche nennen, die in ein Prunkshirt transformiert wurde. Es ist eines, das für eine prekäre Praxis hoch drei steht, welche a-hierarchisch kollektiv, babylonisch und experimentell gestimmt funktioniert (oder auch nicht), weil in der Bauchnabelgegend eine Auto/Buskarawane blau aufgemalt ist. Ob mein Nervenkostüm beim nächsten Catwalk noch tauglich sein wird? Die Nahkämpfe im kafkaesken Alltag zehren.
"... ist abgesichert leben nicht ein soziales Grundrecht, wo der Unterschied Mann/Frau sowieso egal sein sollte ?" fragten 1989 schreibende Künstlerinnen in Wien.
"La Precariedad es violencia!" So manifestieren es FeministInnen heute.
Her mit dem Grundeinkommen!
Lisl Steger ist real artist und lebt in Wien.