Unruhe an den Außengrenzen

Über 400 Aktivist*innen aus zahlreichen Ländern nahmen am NoBorder Camp in Lesvos teil, das von 26. bis 31. August in der Nähe der Insel-Hauptstadt Mytilini stattfand. Nicht nur der Facetten- und Konfliktreichtum der örtlichen Linken, sondern auch der schnelle und unmittelbare Kontakt zu ankommenden Migrant*innen machte die Besonderheit des Camps in der NoBorder-Geschichte aus.

Über 400 Aktivist*innen aus zahlreichen Ländern nahmen am NoBorder Camp in Lesvos teil, das von 26. bis 31. August in der Nähe der Insel-Hauptstadt Mytilini stattfand. Nicht nur der Facetten- und Konfliktreichtum der örtlichen Linken, sondern auch der schnelle und unmittelbare Kontakt zu ankommenden Migrant*innen machte die Besonderheit des Camps in der NoBorder-Geschichte aus.

Generelle Lage

Lesvos gilt zu Recht als Brennpunkt von Migrationsbewegungen in die EU: Das türkische Festland ist von vielen Stellen der Insel aus sichtbar, im Jahr 2008 wagten über 13.000 (1) Menschen die Überfahrt. Der Großteil der Migrant*innen kommt aus Afghanistan, Somalia, Pakistan, Bangladesh und dem Irak. Meist sind es motorisierte Schlauchboote, für eine Überfahrt werden 1500 bis 3000 Euro bezahlt. Und das, wie uns H. aus Eritrea berichtete, die ebenfalls auf diesem Weg gekommen war, oftmals ohne eine kompetente Person, die solch ein Boot lenken könnte: Die Schlepper stellen das Boot zu Verfügung, die Passagier*innen organisieren sich selbst. Bemerkt die Küstenwache oder das in Lesvos operierende FRONTEX-Schiff ein Flüchtlingsboot auf hoher See, so schneiden die Passagier*innen das Boot oftmals in vielen Fällen selbst auf, um zu verhindern, dass sie – ohne jegliche rechtliche Anhörung – sofort zurück an die türkische Küste gebracht werden. Ein enorm gefährliches Unterfangen, sind doch auf den Booten oftmals Kinder und Personen, die nicht schwimmen können. Ist die Überfahrt geschafft, gibt es zwei Varianten: Entweder papierlos auf eine Fähre nach Piräus, Kavalla oder Thessaloniki, also aufs griechische Festland – auf gGrund der rassistischen Ausweiskontrollen beim Einsteigen auf die Fähren ist diese Variante äußerst unsicher – oder sich bei der Polizei registrieren lassen, um mit einem „White Paper“, das zu 30-tägigem Aufenthalt in Griechenland ermächtigt, „legal“ ausreisen zu können. Registrieren bedeutet zweierlei: Sobald Fingerabdrücke abgegeben werden müssen, tritt das EU-Abkommen Dublin II in Kraft, dessen verkürzt wiedergegebener Inhalt ist, dass mensch nur in jenem Land um Asyl ansuchen kann, in dem die Erstankunft innerhalb der EU oder einem „sicheren Drittstaat“ stattfindet. Das bedeutet, dass einmal in Griechenland Registrierte nicht in einem anderen EU-Land um Asyl ansuchen können, ohne nach Griechenland zurückgeschoben zu werden. In Griechenland selbst wiederum tendieren die Chancen auf Asyl gegen Null. Der zweite heimtückische Aspekt der rassistischen Politik Griechenlands und der EU ist das geschlossene Anhaltelager auf Lesvos, in das aufgegriffene Flüchtlinge gebracht werden. Dieser Ort, ein regelrechter Knast, wurde während des NoBorder Camps zum Kristallisationspunkt der Kämpfe der Migrant*innen. Pagani, so der Name des Anhaltelagers, liegt in den Outskirts von Mytilini, zwischen Lagerhallen und Industrie-Abstellplätzen. Weit weg also vom öffentlichen Geschehen der Insel und ihren touristischen Highlights. Zu Beginn des NoBorder Camps waren in Pagani, das für ca. 280 Häftlinge konzipiert ist, beinahe 1000 Menschen inhaftiert, ein Viertel davon Minderjährige. Die meisten Insass*innen kamen aus Afghanistan, Eritrea und Palästina, etliche aus dem Irak oder Ruanda. Die Lebensbedingungen in Pagani spotten jeder Beschreibung: bis zu 120 Menschen in einem Raum, nicht genügend Wasser und Nahrung, keine frische Luft (ein Mal pro Woche durften die „Zellen“ für 20 Minuten verlassen werden; und das zum Zweck, die Anzahl der Inhaftierten zu überprüfen), keine Hygieneartikel, Babynahrung usw. usf. Weiters nur eine Toilette für einen Raum. Unter diesen Bedingungen bleiben in Pagani Menschen bis zu drei Monate eingesperrt. Fluchtversuche (wie wir hörten, etliche davon geglückt) und Hungerstreiks sind nachvollziehbare Kampfmaßnahmen der Migrant*innen, um dieser miserablen Situation zu entkommen.

Strategien und Interventionen des NoBorder Camps

Das NoBorder Camp trat mit einem Ensemble an Forderungen und Zielsetzungen an, die an verschiedenen politische Ebenen einhaken sollten: Zuerstzuerst, programmatisch und als politischer Fluchtpunkt, die Forderung nach Abschaffung aller Grenzen und die Durchsetzung der Bewegungsfreiheit für alle Menschen; auf Ebene der EU die Abschaffung der Grenzschutzagentur FRONTEX, den Stopp der Abschottungspolitik und die Legalisierung aller Papierlosen. In Bezug auf Lesvos und die Situation in Pagani gab es zumindest zwei Ansätze, die parallel verfolgt wurden: Erstens die Schließung von Pagani und die Einrichtung eines offenen Transitcenters für Migrant*innen und zweitens, unmittelbar, die Freilassung der Inhaftierten und deren Überstellung in ein offenes, kurzfristig eingerichtetes Camp in der Nähe des Flughafens der Insel, wo die Migrant*innen ohne schlimmste Not und Repression bleiben können, bis das „White Paper“ ausgefertigt ist, das sie zur Weiterreise berechtigt. Für die noch nicht registrierten Migrant*innen wurde die sofortige Ausstellung des „White Papers“ gefordert. Durch verschiedene Interventionen und direkte Aktionen aus dem Arsenal politischer Antira-Arbeit, sowie durch die Anrufung der politischen Institutionen und des UNHCR sollte möglichst dynamisch und vielseitig Druck aufgebaut werden, um den oben postulierten Zielen Schritt für Schritt näher zu kommen.

Es erübrigt sich zu sagen, dass die Differenzen in Bezug auf die zu wählenden Aktions-Strategien zwischen verschiedenen Aktivist*innen und Gruppen auf dem NoBorder Camp zum Teil beträchtlich waren. Die Tatsache, dass deutschsprachige Aktivist*innen besonders stark am Camp vertreten und sogar gegenüber den Griech*innen in der Überzahl waren, gab der Zusammensetzung des Camps noch einen speziellen Dreh. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt war, dass griechische anarchistische Gruppen – spätestens nach den Dezemberaufständen vom letzten Jahr keine unbekannte Größe – kaum zum NoBorder Camp mobilisiert hatten. Relativ unmissverständlich klar wurde für politisch nicht Ortskundige die Abgrenzung von griechischen anarchistischen Gruppen gegenüber so genannten „Lefties“, der pejorativem pejorativen Sammelbezeichnung für Kommunist*innen mit und ohne Partei, Bewegungslinke, linke nicht-anarchistische Student*innen usw. Aus diesen „Lefties“ rekrutierten sich allerdings im Wesentlichen die Organisator*innen des NoBorder Camps von griechischer Seite. Differenzen über die notwendige Brise Militanz einerseits, die Selbstbezüglichkeit von Hau-drauf-Aktionen andererseits und die beliebte Frage nach Ein- und Ausschluss der Medien waren vorprogrammiert. Um mit diesen Unterschieden umzugehen, ist das Feilen an Kommunikationsstrategien – Plenas, Delegiertensysteme, Moderationen etc. – für die nächsten NoBorder Camps bestimmt von Vorteil.

Polizeigewalt

Wer leider abseits aller lokalen Differenzen aus Athen angereist kam, waren um die fünf Busse voll mit testosterongeladenen Riotcops. (Auch in Polizeireihen gab es offensichtlich interregionale Unstimmigkeiten, die etwa dazu führten, dass der Lesvoser Einsatzleiter auf sein Kommando, still zu stehen, mit unsanften Worten auf die Seite geschoben wurde und die Athener Einsatztruppen ganz autonom auf Demonstrant*innen und Umstehende eindroschen). Die Strategien der recht empfindlichen Mischung aus Riotcops, „normalen“ Einsatzbullen, Verkehrspolizei, Verwaltung und Bewachung des Anhaltelagers Pagani und zu guter letzt Letzt auch der örtlichen Polizeistation waren selten vorauszusehen und ebenso wenig nachvollziehbar. So wurden am Tag der letzten großen Demonstration Beteiligte und Nichtbeteiligte durch belebte Straßen gejagt und konnten sowohl der unübersichtlichen und völlig ausufernden Polizeigewalt, als auch der teils brutalen aktivbürgerlichen Einmischung nur durch den aktiven Schutz von Cafébetreibern und Ladenbesitzerinnen entkommen. Die Erfahrung einer geifernden, unkontrollierten Masse an Polizist*innen war für viele Campteilnehmer*innen und Migrant*innen erstmalig und entsprechend nervenaufreibend. Einmal trafen wir spätabends auf einen Bus voller Riotcops, die sich vor gestohlenen Transparenten mit politischen Slogans fotografierten und beim Abfahren nach einigen Bedrohungen und Pöbeleien „no border, no nation“ aus den vergitterten Busfenstern skandierten: eher grotesk als gefährlich. Eine andere Begegnung hatten Campteilnehmer*innen bei ihrer Abfahrt mit der Fähre nach Pyräus, bei der sie während der Ausweiskontrolle durch Polizisten mit Drohungen wie „Wir brechen dir alle Knochen“ oder „Diese Fährfahrt wirst du nie vergessen“ eingeschüchtert wurden. Wenig aufmunternd, dass mit derselben Fähre nebst etwa 400 Leuten, die gerade aus Pagani entlassen worden waren, drei Busse voller Riotcops – diesmal in Zivil – nach Athen zurückreisten. Nach einigen prolligen Patrouillen mit entsprechenden verbalen Übergriffen war zwar einigermaßen Ruhe für den Rest der Nacht, aber die Drohungen und die Wut über die relative Ohnmacht saßen doch den meisten in den Knochen.

Aktionen und Nachbereitung

Trotz allem wurden von den Camper*innen mit mehr oder minder viel Konsens in einem recht imposanten Tempo Aktionen geplant und mal mit, mal ohne Erfolg durchgeführt: eine misslungene Präfekturbesetzung, mehrere Demos und Delegationen in die Nähe des und schließlich auch in das Anhaltelager(s) Pagani, eine Schlauchbootblockade des Stadthafens, die Besetzung des Daches von Pagani, eine Infotour durch einige Dörfer der Insel, Farewellparaden für jene, die mit oder ohne Papiere die Fähre zum Festland bestiegen und durchgehende Flüchtlingsberatung und -betreuung. Zu letzterer kamen die Aktivist*innen eher wie die katholisch-sprichwörtliche Maria zu ihrem Kind: Ein Infozelt wurde in der Stadt aufgebaut, nicht zuletzt um die Stadtbewohner*innen am Camp teilhaben zu lassen. Doch innerhalb kürzester Zeit wurde das Zirkuszelt zum Anlaufpunkt für ankommende Migrant*innen, die ob der Erfahrung der Aktivist*innen mit brauchbaren juristischen Informationen und Schlafplätzen versorgt werden konnten. Denn genau hier war es nun möglich, ohne Registrierung „White papers“ und Fährkarten einzufordern und zumindest einer begrenzten Anzahl von Leuten die Schikanen von Pagani zu ersparen. Solche Unterstützungsarbeit war und ist sichtlich notwendig. Gleichzeitig bestand die Schwierigkeit an diesem Punkt im Besonderen darin, ein Ende zu finden – die kurze Dauer eines NoBorder Camps erwies sich hier als besonders problematisch und wirft eine Menge praktischer und strategischer Fragen auf.

Nicht unerwähnt bleiben soll, was großartig funktionierte am Camp: die Vokü von den Freiburger Maulwürfen; die Aufrechterhaltung der Hygiene (trotz allgemeinem Campdurchfall); die Arbeit der antisexistischen und antirassistischen Awareness-Group; die schnelle Bildung eines aktiven Legal Teams und einer Medical Group; die Workshops, die aufgrund der unerwarteten und dynamischen Situation vor Ort etwas untergingen; die vielen Plena und Kleingruppendiskussionen und die Vorbereitung für eine Fortsetzung der Arbeit, als der Großteil der Camper*innen schon am Abreisen war.

Für eben diese Fortsetzung der konkreten Bemühungen, Pagani zu schließen, und der Forderung nach freedom of movement! ein Stück weit gerecht zu werden, wird es in den nächsten Wochen auf internationaler Ebene Aktionstage rund um die griechischen Botschaften geben.

1) Ein UNHCR-Bericht vom 19.1.09 nennt die Zahl von 13.252 Flüchtlingen und Migrant*innen, die in Lesbos 2008 nach der Überquerung der Meerenge festgenommen wurden.

Antira Info
Noborder

Dieter A. Behr und Lisa Bolyos sind antirassistische Aktivist*innen.

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