Bolkesteinrichtlinie: Eine kulturpolitische Stellungnahme

Die so genannte "Bolkesteinrichtlinie", benannt nach dem ehemaligen, für die Bereiche Binnenmarkt, Steuern und Zollunion zuständigen EU-Kommissar Frits Bolkestein, kann als "Zwilling" des internationalen Dienstleistungsabkommens GATS auf europäischer Ebene begriffen werden.

Worum handelt es sich bei der Dienstleistungsrichtlinie und was soll sie bewirken?

Die so genannte "Bolkesteinrichtlinie", benannt nach dem ehemaligen, für die Bereiche Binnenmarkt, Steuern und Zollunion zuständigen EU-Kommissar Frits Bolkestein, kann als "Zwilling" des internationalen Dienstleistungsabkommens GATS auf europäischer Ebene begriffen werden.

Besagte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt, so ihr eigentlicher Name, versucht hier nämlich endgültig das zu realisieren, was auf globaler Ebene mittels GATS anvisiert wird. Nämlich die umfassende Beseitigung sämtlicher "Hindernisse", welche den Ansichten der Kommission zufolge bislang den freien und unverfälschten Wettbewerb am Binnenmarkt für Dienstleistungen verhinderten.

Von der Europäischen Kommission im Februar dieses Jahres vorgelegt, finden derzeit die Beratungen in Parlament und Rat statt, bevor die Direktive dann - gemäß der offiziellen Pläne - Anfang 2005 beschlossen und bis 2010 schrittweise umgesetzt werden soll. Noch freilich ist nichts entschieden, denn sowohl auf parlamentarischer, als auch auf außerparlamentarischer Ebene wächst der Widerstand gegen den vorliegenden Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie, der von Kennern der europäischen Binnenmarktpolitik als "bisher radikalster und umfassendster Angriff auf die Sozialsysteme der EU-Staaten" (T. Fritz) interpretiert wird.


Mit welchen Mitteln sollen die festgeschriebenen Ziele realisiert werden?

Als die zwei zentralen, in der Richtlinie festgeschriebenen Deregulierungsinstrumente können dabei zum einen der sukzessive Abbau staatlicher Auflagen und zum anderen das so genannte "Herkunftslandprinzip" betrachtet werden. Ersteres Instrument umfasst beispielsweise das Verbot mengenmäßiger oder territorialer Beschränkungen, sowie jenes von (einzel-)staatlichen Vorschriften hinsichtlich der Rechtsform oder der Mindestkapitalausstattung von Dienstleistungsunternehmen (Art. 14 & 15). Dadurch geraten jedoch auch durchaus sinnvolle Regulierungen, wie etwa das wettbewerbsrechtliche Verbot von Dumpingpreisen, ins Visier der Liberalisierungsbefürworter.

Die gesellschaftlichen Folgekosten solcher "Deregulierungsinitiativen" sind unabsehbar. Neben der hierdurch erwirkten Beseitigung von Auflagen kommt es insofern auch zur systematischen Erschwerung des Erlasses neuer Rechts- und Verwaltungsvorschriften, als diese zukünftig bereits im Entwurfsstadium entsprechend den Vorgaben der Richtlinie einer Art "Verträglichkeitsprüfung" unterzogen werden müssen (Art. 15/6).

Das "Herkunftslandprinzip" hingegen besagt, dass Dienstleistungsunternehmen nur mehr den Rechtsvorschriften ihrer Herkunfts- und also nicht mehr jenen der Zielländer unterliegen (Art. 16 - 19). Dies bedeutet, dass ein transnational agierender Konzern seinen Hauptsitz - und sei es in Form einer sog. "Briefkastenfirma" - einfach in jenes EU-Mitgliedsland verlegen muss, in dem die "unternehmensfreundlichsten Bedingungen" geboten werden. Diese kann er alsdann in allen anderen Staaten der Europäischen Union für sich geltend machen. Zu befürchten steht folglich ein gezielt inszenierter "Standortwettbewerb", in dem sich die Mitgliedsstaaten wechselseitig mit noch idealeren Verwertungsbedingungen für das Kapital zu über-, und mit noch verheerenderen Arbeitsbedingungen für die Lohnarbeitenden zu unterbieten versuchen würden. Ein umfassendes Wettrennen nach Unten hinsichtlich der Standards im Arbeitsrecht und in den sozialen Sicherungssystemen, sowie eine steuerrechtlich beförderte, fortschreitende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach Oben wäre die Folge.

Darüber hinaus betrifft das "Herkunftslandprinzip" sozusagen auch die Frage der Kontrolle von Unternehmen, welche nicht mehr länger dem Ziel-, sondern künftig ebenfalls dem Herkunftsland des jeweiligen Dienstleisters obliegen soll (Art. 34 - 38). Dies gilt selbst für die Überwachung und Sicherstellung der Einhaltung vorgeschriebener Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen (Art. 24 & 25), die gemäß dem Vorhaben der Dienstleistungsrichtlinie gleichfalls vom Entsendestaat der ArbeitnehmerInnen zu garantieren wäre. Dass es diesem jedoch sowohl an Interesse als auch an den dafür nötigen Mitteln fehlt, um eine solche Kontrolle effektiv durchführen zu können, wird von den verantwortlichen EU-Stellen bewusst unterschlagen.


Inwiefern sollen kulturelle und andere "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" von der Richtlinie betroffen sein?

Auch wenn die Kommission in ihrer Erläuterung zur Dienstleistungsrichtlinie beteuert, diese "erstrecke sich nicht auf nichtmarktbestimmte Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" (S.17), darf wohl bezweifelt werden, dass die damit angesprochenen, vom "Staat in Erfüllung seiner sozialen, kulturellen, bildungspolitischen und rechtlichen Verpflichtungen" (S.23) ausgeübten Tätigkeiten tatsächlich von ihr unbehelligt bleiben werden.

Dies zum einen deshalb, weil besagter Bereich in der Dienstleistungsrichtlinie selbst keineswegs explizit ausgenommen wird. Ausnahmeregelungen finden sich hier nämlich nur für Finanzdienstleistungen, Dienstleistungen und Netze der elektronischen Kommunikation und weitere Bereiche, die bereits von anderen sektoralen Liberalisierungsvorschriften erfasst wurden (Art. 2). Zum anderen wählt die Richtlinie bei der Definition des Geltungsbereichs einen horizontalen Ansatz und fasst "Dienstleistung" als jede "selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit, bei der einer Leistung eine wirtschaftliche Gegenleistung gegenübersteht" (Art. 4). Auf der Basis dieser Bestimmung würden quasi sämtliche Dienstleistungen von der Richtlinie betroffen sein, was auch für Leistungen der Daseinsvorsorge gilt. Aufgrund des Entgeltkriteriums sind diese schließlich insofern nicht aus ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen, als beispielsweise auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, für Theater, Museen und Bibliotheken, sowie für den Großteil der Bildungseinrichtungen Entgelte und Gebühren zu entrichten sind.


Resümee und Forderungen

Die zentrale Frage, ob die so genannten "Bolkesteinrichtlinie" auf "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" anzuwenden ist oder nicht, bleibt deshalb auf der Basis des vorliegenden Entwurfs letztlich unentscheidbar. Beantwortung finden wird sie so u.U. erst im Zuge des in der Richtlinie vorgesehenen Evaluierungsprozesses, im Rahmen dessen die Kommission bzw. einzelne Mitgliedsstaaten - ähnlich wie im Rahmen der GATS-Verhandlungen - quasi die Öffnung bestimmter Sektoren in anderen Ländern für eine Liberalisierung fordern können (Art. 41). Kulturelle und andere öffentliche Dienstleistungen würden so zur potentiellen Verhandlungsmasse im Spiel zwischen den konkurrierenden Interessen der Mitgliedstaaten im europäischen Binnenmarktgeschehen.

Die IG Kultur Österreich richtet deshalb folgende Forderungen an die Adresse der zuständigen Stellen und Personen auf nationaler und EU-Ebene:
 

  • Der vorliegende Entwurf der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt muss zurückgezogen und das Konzept grundlegend überarbeitet werden!

  • Die Verankerung einer Ausnahmeregelung für "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" in zukünftigen Entwürfen für eine solche Richtlinie muss garantiert werden, um den freien und allgemeinen Zugang zu sämtlichen Leistungen der Daseinsvorsorge auch weiterhin gewährleisten zu können! Dies gilt auch für den Bereich kultureller Dienstleistungen wie beispielsweise für Rundfunk, Theater, Bibliotheken und Museen.

  • Die Ausarbeitung einer eigenen Richtlinie für "Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" ist anzustreben, welche ergänzend zur Dienstleistungsrichtlinie für den privatwirtschaftlichen Bereich ein Rahmengesetz für den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge bereitstellen soll!

Anmerkung

Die Nummerierung der Artikel sowie die Seitenangaben beziehen sich auf die Mitteilung der Kommission "KOM(2004)" vom 25.2.2004, welche sowohl die Richtlinie selbst als auch die von der Europäischen Kommission erstellten Erläuterungen zu dieser enthält.


Online-Petition Stop Bolkestein! (Die Webseite ist leider nicht mehr abrufbar.)


Das vorliegende Positionspapier wurde von Markus Griesser im Auftrag der IG Kultur Österreich im Dezember 2004 erarbeitet.

Downloads
Position_Bolkestein.pdf177.28 KB

Ähnliche Artikel

Hände, die gemeinsam an einem Strang ziehen zur Illustration des Themas Kultur, Kollektivvertrag, kollektive Bemühungen um Mindeststandards Gute Bezahlung, gute Arbeitsbedingungen – und das verbindlich für alle in der freien Kulturarbeit? Die Antwort scheint einfach: Ein Kultur-Kollektivvertrag! Über mögliche Wege zu einem Kultur-Kollektivvertrag und dessen Auswirkungen auf die Finanzierungspraxis.
Telearbeit Ab dem 1. Januar 2025 tritt in Österreich ein neues Telearbeitsgesetz in Kraft, das die bestehenden Homeoffice-Regelungen erweitert. Es ermöglicht Arbeitnehmer*innen, ihre Arbeitsleistungen nicht nur von zu Hause, sondern auch von anderen Orten wie Parks, Cafés oder Co-Working-Spaces zu erbringen – so eine entsprechende Vereinbarung geschlossen wurde. Was zu tun ist, wenn ihr diese Möglichkeit nutzen wollt, kurz zusammengefasst.
rote leere Sessel im Theater Ob auf der Bühne oder hinter den Kulissen: Wer am Theater arbeitet, kommt um das Theaterarbeitsgesetz (TAG) und seine zwingenden Sonderbestimmungen nicht herum. Zuerst muss aber die geeignete Beschäftigungsform her: Ensemblevertrag, Gastvertrag oder doch Werkvertrag? Ein Balanceakt mit Auswirkungen. Ab Herbst 2025 soll eine Gesetzesnovelle die Abgrenzung erleichtern. Für uns ein Anlass, das TAG und die Neuerungen näher zu beleuchten.