Zur Neugründung des Tanzquartier Wien - eine Zwischenbilanz

Eine einfache und dennoch komplexe Tatsache ist, dass die Entwicklung des Neuen sich nicht ohne Spannungen vollzieht. Auch die politisch ambitionierte Neugründung einer Institution wie des Tanzquartier Wien, des ersten Tanz- und Performancehauses Österreichs, kann sich nicht geräuschlos vollziehen, zu stark sind die Identifikationen mit dem Bestehenden und Gewohnten, zu groß die Ängste und Projektionen gegenüber einem entstehenden Gebilde, das als Novum seine Position in einer sich über Jahre kaum verändernden, gleichsam zementierten Subventionslandschaft behauptet.

"Das Neue ist möglich ... Es verlangt einen freien Geist in freier Umgebung. Aber es braucht auch seine Zeit. Es lässt ethische Zweifel entstehen und stellt Fragen an die Sinnhaftigkeit unseres Handelns. Es reibt sich an organisatorischen und kulturellen Grenzen. Das Neue gelangt auf verschlungen geistigen, sozialen, technischen, psychologischen, organisatorischen Pfaden zu uns. Es braucht die helfende Hand eines fast Besessenen, um sich vom Alten zu lösen, und bricht schließlich durch - oder verkümmert."

(Heinrich v. Pierer / Bolko v. Oetinger in Wie kommt das Neue in die Welt?)


Eine einfache und dennoch komplexe Tatsache ist weiterhin, dass die Entwicklung des Neuen sich nicht ohne Spannungen vollzieht. Auch die politisch ambitionierte Neugründung einer Institution wie des Tanzquartier Wien, des ersten Tanz- und Performancehauses Österreichs, kann sich nicht geräuschlos vollziehen, zu stark sind die Identifikationen mit dem Bestehenden und Gewohnten, zu groß die Ängste und Projektionen gegenüber einem entstehenden Gebilde, das als Novum seine Position in einer sich über Jahre kaum verändernden, gleichsam zementierten Subventionslandschaft behauptet.

Auch gegen Ende der ersten Spielzeit ist die Diskussion um das Tanzquartier Wien in vollem Gange: Tanz versus Performance, Kunst- versus Sozialpolitik, Lokalanspruch versus Internationalität, Vielfalt versus Experiment, Künstlerselbstverwaltung versus Intendanzprinzip, u.v.m. Die anhaltende, teilweise polarisierend und polemisch geführte Debatte ist Signal dafür, dass der österreichische Tanz, der über Jahrzehnte ein europäisches Inseldasein führte, in Bewegung geraten ist - das dokumentieren allein drei Artikel in dieser Zeitschrift seit der Eröffnung des Hauses im Oktober letzten Jahres. Eine erste, kursorisch gehaltene Zwischenbilanz seitens des Tanzquartier Wien scheint daher angebracht:

In vielen Bereichen wurden die Erwartungen des Hauses übertroffen: Innerhalb kürzester Zeit hat sich das Tanzquartier Wien zu einem der interessantesten Tanz- und Performancehäuser der Welt entwickelt. Die eingeladenen lokalen und internationalen KünstlerInnen schätzen das Haus mehr und mehr als lebendigen Dialog- und Diskussionsort, der Freiräume und Anregung für die eigene Arbeit bietet. Die Beachtung des österreichischen Tanzes und der Performance im Ausland konnte durch das Tanzquartier Wien deutlich gesteigert werden. Innerstädtische Kooperationen mit unterschiedlichsten Institutionen - vor allem im Bereich der zeitgenössischen Musik - machen deutlich, dass der Tanz und die Performance in Wien für andere Disziplinen attraktiv geworden ist. Das unerwartet große Interesse am hausinternen Informations- und Theoriezentrum, an labororientierten Arbeits- und Veranstaltungsformen sowie der Aufbau fruchtbarer Beziehungen zur Universität zeigen, dass mit der Hausgründung ein existierendes Defizit an theoretischer Reflexion und prozessorientierten künstlerischen Zugangsweisen aufgefangen werden konnte. Auch die Marke "Tanzquartier Wien" ist innerstädtisch platziert.

In einigen Punkten gestaltete sich der Aufbau schwieriger als erwartet: Der lange historische Gründungsprozess des Tanzquartier Wien - und hier vor allem ein politisch nicht durchsetzbarer Selbstverwaltungsgedanke - stellen das Haus vor eine historische Hypothek: viele haben für diese Institution gekämpft und alle wollen nun "ernten", was bei einer programmatischen Ausrichtung des Tanzquartier Wien mit Intendantenprinzip naturgemäß zu Reibungen führt und auch die Vertrauensbildung zwischen Haus und lokaler Künstlerschaft erschwert. Darüberhinaus zeigte sich das Tanzverständnis der Stadt deutlich traditioneller als erwartet, so dass sich bei einer experimentell orientierten Grundausrichtung des Hauses der Publikumsaufbau langsamer als angenommen, dennoch aber kontinuierlich vollzieht. Nach neun Monaten werden am Ende der Saison voraussichtlich mehr als 22.000 BesucherInnen - ein vornehmlich junges Publikum - das Tanzquartier Wien frequentiert haben. Die strukturbedingte Tatsache, dass das Tanzquartier Wien lediglich Untermieter einer nur beschränkt nach zeitgenössischen Bedürfnissen geplanten Bühne mit sehr geringem Einfluss auf die Nutzung der angrenzenden Foyers ist, führte und führt zu unnötigen Problemen, Kräfteverschleiß und Beschränkungen für das Haus und die an ihm arbeitenden KünstlerInnen.

Der Blick in die Zukunft ist optimistisch: Voraussichtlich in zwei Jahren wird die Aufbauphase beendet sein, sich das Haus mit Strahl- und Diskussionskraft vor Ort in gleicher Weise wie im internationalen Kontext etabliert haben. Verständliche wie unverständliche Aufregungen werden geklärt oder abgebaut sein. Dann wird sich gezeigt haben, dass das Tanzquartier Wien es ernst meint: mit der Kunst, mit den KünstlerInnen, mit dem Publikum in dieser Stadt. Voraussetzung dafür ist, dass Wien das Neue zulässt, das - nach einem Slogan der benachbarten KUNSTHALLE Wien - das Unvermeidliche ist.

Sigrid Gareis ist künstlerische Intendantin des Tanzquartier Wien.


Sie dazu auch:

Juliane Alton, Tanz 1070/1030, in: Kulturrisse 0102.

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