Vom Kreativproletariat zu kulturellen Arbeiter*innen
Von Künstler*innen und Kulturschaffenden wird erwartet, dass sie etwas Besonderes sind. Ihr künstlerisches Kapital liegt mindestens ebenso in ihrer Individualität begründet wie in den technischen Fähigkeiten, die sie auf dem Wege ihrer Ausbildung erworben und perfektioniert haben. Künstlerische Arbeit wird damit als exaktes Gegenstück zur rationellen kapitalistischen Produktionsweise entworfen, in der jeder Handgriff standardisiert ist und die ein Subjekt hervorgebracht hat, das sich – um ein spätfordistisches Klischee vom Proletariat zu bemühen – in Reihenhaussiedlungen, Pauschalurlauben und mit Hilfe von Massenkonsumgütern reproduziert.
Kunst soll dagegen das Spielfeld der einzigartigen Einzelnen sein, die aus sich selbst herausschöpfen und in ihrem Werk ihre unverkennbare Eigenheit zum Ausdruck bringen. Wir stellen sie uns als einsame Wölfe, als asoziale Wesen, als Sonderlinge oder skurrile Eigenbrötler*innen vor, die sich kompromisslos selbst in ihrem Schaffen verwirklichen. Die Freiheit, die sie sich dabei nehmen, gibt es allerdings nicht umsonst: Sie leiden für ihre Kunst, die ihnen wichtiger ist als materielle Sicherheit, das bequeme Leben und ein voller Magen. Diese Vorstellung begründet das stereotype Narrativ von den (hunger-)leidenden Kulturschaffenden, die bereitwillig Entbehrungen in Kauf nehmen, solange sie sich nicht verbiegen müssen. Seine Beliebtheit rührt auch daher, dass es uns mit der Unfreiheit unseres eigenen, dafür aber weitgehend abgesicherten Lebens versöhnt.
Es gehört zum Geschäft der Kulturproduzent*innen, derlei Erwartungen zu bedienen. Ihrem Künstler*innentum müssen sie auch jenseits der Leinwand – in Habitus und Auftreten – Ausdruck verleihen. Vor allem anderen müssen sie glaubwürdige Individualist*innen sein.
Dies hat mit dem Funktionswandel der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft zu tun. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hingen Künstler*innen noch von konkreten Auftraggeber*innen ab, denen sie schmeicheln, deren Größe sie darstellen und deren gestalterische Vorstellungen sie bedienen mussten. Der kreative Spielraum, der ihnen dabei eingeräumt wurde, fiel vergleichsweise gering aus.
In der modernen Gesellschaft arbeitet die Kunst hingegen für die abstrakten Auftraggeber*innen des freien Marktes. Sie repräsentieren nicht mehr die konkrete Ideologie einer Person oder Institution, die Künstler*innen in ihren Dienst nimmt. An ihre Stelle ist eine abstrakte Vorstellung getreten: die künstlerische Freiheit, die im Werk Gestalt annehmen soll und diejenigen, die Kunst kaufen oder bezahlen, überzeugen muss.
Diese Vorstellung ist wiederum ideologisch, weil sie jene abstrakte Freiheit exemplarisch versinnbildlicht, die die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verspricht, die ihre Subjekte in den ökonomischen und politischen Sachzwängen des Alltags aber niemals ganz verwirklichen können. Die folgenlose, weil bloß symbolische Freiheit der Kunst kompensiert diesen Mangel und überdeckt damit jenen fundamentalen Widerspruch, der die bürgerliche Gesellschaft durchzieht.
Künstler*innen wissen, was sie zu tun haben: Sie stehen über den Verstrickungen des kapitalistischen Alltags. Für schnöden Mammon und jenen Geschäftssinn, der zur zweiten Natur der Bürger*innen wurde, haben sie nur jene Verachtung übrig, der sie in Werken Ausdruck verliehen, die sich radikal der spießigen bürgerlichen Welt des Schacherns und gegenseitigen Übervorteilens verweigern. Das ist ihr ökonomisches Kapital. Einem ausgesprochen komplexen Vertragswerk folgend werden sie dafür bezahlt, dass sie nicht mitspielen. Es wird von ihnen erwartet, Erwartungshaltungen zu enttäuschen. Und anders zu sein als alle anderen.
Mit der Unabhängigkeit, die ihnen zusteht bzw. von der bürgerlichen Kunstideologie zugemutet wird, geht allerdings eine ökonomische Unsicherheit einher. Jene Individualität, die wir an ihnen bewundern, ist nämlich eigentlich die Schwachstelle der Kunstschaffenden, weil sie sie schutzlos den Launen und Unwägbarkeiten von Publikum und Markt ausliefert.
Gerade weil sie unabhängig bleiben wollen (und müssen), um sich glaubhaft als Künstler*innen darstellen zu können, begeben sie sich in die Abhängigkeit von Agenturen oder Galerien – und natürlich von Markt und Publikum, denen sie – auf wenngleich verdrehte Weise – genauso zuarbeiten wie die Freskenmaler*innen der Renaissance ihren Auftraggeber*innen.
Auch die heutige freie Szene, die sich in Abgrenzung zu den klassischen Kunstmarkinstitutionen formiert, bleibt in diesem Paradox befangen. Die Freiheit, die sie im Namen führt, kolportiert dieselbe ideologische Kunstvorstellung, von der sie sich unabhängig zu machen glaubt, indem sie sich aus freien Stücken im Off einrichtet. Zugleich trägt sie der Tatsache Rechnung, dass die Zahl der Kulturschaffenden in der Postindustriegesellschaft rapide steigt. Statt traditioneller Lohnarbeit nachzugehen, die ohnehin längst in Weltgegenden mit niedrigeren Lohnstandards abgewandert ist, wollen sich immer mehr junge Menschen kreativ selbst verwirklichen. Der traditionelle Kunstmarkt, der klassischerweise auf Verknappung abstellt, kann sie längst nicht mehr aufnehmen, also sammeln sie sich an seinen Rändern und in den verbliebenen Nischen, freien, temporären Kulturräumen, in denen sie sich durch Multitasking in unterschiedlichen Projekten über Wasser zu halten versuchen.
Hier entsteht ein Kreativproletariat, das sich allerdings selbst noch von seinen ideologischen Fesseln durch den bürgerlichen Kunstbegriff befreien muss, um sich so wie das Proletariat der Industrialisierung organisieren zu können. Entscheidend hierfür wäre ein neues Selbstverständnis der kulturellen Produzent*innen, die sich nicht länger am Geniebegriff der bürgerlichen Kunst orientieren, sondern sich als kulturelle Arbeiter*innen verstehen müssten, die gemeinsame Interessen haben, angemessen entlohnt werden wollen und bessere Arbeitsbedingungen für alle erkämpfen.
Die Art ihrer Tätigkeit – nämlich das Nomadisieren zwischen kurzfristigen, sich häufig zeitlich überlappenden Projekten oder den stets transitorischen Spielstätten der freien Szene – macht aber andere Organisationsformen erforderlich als noch die fordistische Fabrik. Der Begriff der „Vernetzung“ bietet sich hierfür an – trotz des schalen Beigeschmacks, der ihm anhaftet.
Gerade vor dem Hintergrund einer von rasch aufeinander folgenden Krisen erschütterten Welt ist es wichtig, die Zusammenarbeit an die Stelle jener Ideologie von Konkurrenz und Markt treten zu lassen, die diese Krisen immer weiter hervorrufen wird. Das systemstabilisierende Gegeneinander und die exemplarische Vereinzelung der Künstler*innen können dadurch gegen ein selbst wiederum nur lose verbundenes Miteinander eingetauscht werden, in dem alle nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen arbeiten und leben können.
Zu zeigen, dass eine derartige gesellschaftliche Organisationsform möglich und wünschenswert ist, ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die Kultur der Gegenwart stellen muss. Die Netzwerke, die sie knüpft, müssen – jenseits vom schlichten Projektpragmatismus – ein Vorschein auf neue und andere Formen des Zusammenlebens und der Problemlösung sein. Wie sie aber konkret aussehen, darüber können sie sich nur selbst kollektiv und im Prozess verständigen.
Günther Friesinger ist Autor, Philosoph, Künstler, Kurator, Kulturmanager und Produzent. Er ist Geschäftsführer der Kunst- und Theoriegruppe „monochrom“, leitet und produziert Festivals in Europa, Asien, Afrika und Amerika. Seit 2008 ist er im Vorstand der IG Kultur Wien und seit 2018 im Vorstand der IG Kultur Österreich.
Bild: @Johannes Grenzfurthner/monochrom
Podcast zum Thema:
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe „prekär leben“ des Magazins der IG Kultur in Kooperation mit der Arbeiterkammer Wien erschienen. Das Magazin kann unter @email (5€) bestellt werden.