Wissensobjekt Selbstmordattentat
Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung
Wiesbaden: VS Verlag 2011
Claudia Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung
Wiesbaden: VS Verlag 2011
Claudia Brunner untersucht die hegemoniale englischsprachige Terrorismusforschung nach 9/11 und schreibt ihre wissenssoziologische Diskursanalyse in das politikwissenschaftliche Feld der Internationalen Beziehungen ein. Ihr zufolge konstruiert die Forschung über Selbstmordattentate aus der Perspektive des „Westens“ zuallererst ein Wissensobjekt „Selbstmordattentat“, indem sie es in einer bestimmten Weise an/ordnet, kategorisiert, positioniert und damit im Kontext des Wissens überhaupt erst hervorbringt. Dieses Produkt des Wissens, das zugleich das zu erforschende Objekt ist, hat eine grundlegende Funktion: Es dient nicht dem Verständnis der konkreten, unterschiedlichen Selbstmordattentate, sondern der Selbstvergewisserung des herausgeforderten Okzidents/des „Westens“. „Die [durch Selbstmordattentate] gewaltvolle Infragestellung von Machtverhältnissen und Gewaltmonopolen sowie von Gewissheiten auf Seiten dominanter bzw. legitimierter GewaltakteurInnen kommt einer umfassenden Irritation und Transgression gleich, die von Politik und Wirtschaft auch auf diskursivem Weg ‚in Ordnung‘ gebracht werden will.“ (15)
Brunner untersucht dieses Vorgehen eines diskursiven Ordnens mit Gayatri Spivaks Begriff der epistemischen Gewalt, die sich in Stereotypisierungen, Vereinheitlichungen oder unveränderlichen identitären Zuschreibungen zeigen kann. Brunners Material besteht aus Texten, Paratexten sowie Visualisierungen auf Buchumschlägen und in Büchern im Rahmen der untersuchten Terrorismusforschung. Das Methodenkapitel ist allerdings viel zu lang und umständlich geraten und hätte seinen Dienst auch auf der Hälfte der Seiten getan.
Selbstmordattentate dienen den hegemonialen ExpertInnen implizit zur Verhandlung der Grenzziehung zwischen legitimer und illegitimer politischer Gewalt. Die verallgemeinerbare Strategie: Durch eine radikale Abtrennung von westlichen Werten und Normen, durch Binarisierungen, Hierarchisierungen und Naturalisierungen entstehe ein Wissen über das in erster Linie kulturalisierte und rassifizierte „ganz andere Andere“, so Brunner. In der Verschmelzung von Journalismus und Wissenschaft wird ein populistisches Wissen im Dienste der Politikberatung hervorgebracht, das nicht mehr nach Antworten im Sozialen, sondern im Religiösen sowie in der Pathologisierung der AttentäterInnen sucht.
Ein zentraler Modus der Erforschung des Wissensobjekts „Selbstmordattentat“ stellt die „Sexualisierung“ der AttentäterInnen dar. Brunner zeichnet die Konstruktion einer orientalisierten, patriarchal geprägten Männlichkeit nach, die in der Terrorismusforschung eng verknüpft wird mit einer terroristischen Neigung zur Gewalt. Selbstmordattentäterinnen gelten als grundlegend davon beeinflusst: Unterstellt wird, dass sie entweder von männlichen Angehörigen zu ihrer Tat gezwungen werden oder sich aus den unterdrückenden Verhältnissen befreien wollten. Brunner zeigt, dass solche Argumentationen stets der Verteidigung „westlicher Werte“ als Gleichberechtigung der Geschlechter dienen.
Deutlich wird aus der hier besprochenen Studie, dass die Terrorismusforschung durch ihre kulturalistische Konstruktion einer einheitlichen „arabischen Welt“ die Hegemonie des „okzidentalen Selbst“ refiguriert. So läuft die Legitimation der Vorherrschaft des „Eigenen“ nicht nur über die Begründung des (supra-)staatlichen Gewaltmonopols, sondern ebenso über das, was global als das Normale zu gelten hat, ein Normales, das offenbar von der vielfältig kulturalisierten Markierung des „ganz anderen Anderen“ abhängig ist.