Über das, was weitergeht …

Assoziationen über die gegenwärtige Ausstellung Vergangenheit „nicht auf sich beruhen lassen“. Künstlerische Strategien im postnazistischen Alltag in der Galerie IG Bildende Kunst in Wien.

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (Christa Wolf, Kindheitsmuster)

„Postnazistisch“ bezieht sich (ähnlich der bekannten Wortschöpfung „postmodern“) auf eine Kontinuität im Bruch, eine Fortwirkung nach dem Bruch in unterschiedlicher Weise. Das, was als Vergangenheit bezeichnet wird, ist Teil der Gegenwart, und nur aus der Gegenwart heraus denkend macht es Sinn, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Gleichzeitig erschließt sich das Heute möglicherweise nur über die Frage, wie es dazu kam. Warum bestimmte Dinge uns Angst machen oder Angst machen sollten, hat mit ihrer direkten Verknotung mit gewissen Punkten in der Vergangenheit zutun. Das, was als „Geschichte“ gesehen wird, ist in diesem Sinne eben nicht vergangen, sondern bildet den Humus dessen, was wir heute sind und tun und erleben – postnazistischer Alltag eben.

Einen Artikel über eine Ausstellung zu schreiben, an der man selbst beteiligt ist, fühlt sich ungewöhnlich an. Gleichzeitig wäre die Behauptung, es gäbe eine „neutrale BeobachterInnenposition“, ohnehin absurd. Die doppelte Involvierung als Teilnehmende und Schreibende ermöglicht zunächst einmal einfach, die Arbeiten der „Anderen“ mit sich und der Welt zu verbinden und sie damit Richtung gemeinsamer politischer Aktivierung zu öffnen. Weiters ist diese eigentlich unmögliche, doppelte Sprechposition auch ein willkommener Vorwand, den ohnehin ungeliebten Duktus des Genres „Ausstellungsbesprechung“ und „Kunstkritik“ hinter sich zu lassen und in einer viel persönlicheren Form einigen der assoziativen Vorschläge der Ausstellung zu folgen. Es sind diese Verbindungen, die sehr schnell wieder von dem Ausstellungsraum hinaus weisen. Es ist das Außen, das den Ausstellungsraum wieder interessanter werden lässt.

Warum wurde Leopold von einer Tortung verschont?“

Was Kontinuitäten im Denken und Handeln tatsächlich sein können, stellen Lisa Bolyos und Katharina Morawek zur Diskussion: Sechs Fragen, die unbeantwortet an die Betrachtenden gestellt werden, wie zum Beispiel: „Warum wurde Leopold von einer Tortung verschont?“ Die Sammlung Rudolf Leopold ist in einem mit staatlichen Mitteln finanzierten Museum im Wiener MuseumsQuartier zu sehen. Dennoch handelt es sich um eine private Sammlung, und diese ist als solche nicht zwingend von Restitutionsgesetzen betroffen. Leopold sah sich solange nicht bemüßigt, Provenienzforschung zu betreiben oder auch nur an Restituierung von Raubkunst (bzw. von auf Basis von Arisierungen gekauften Werken) zu denken, solange er nicht aufgrund von Privatklagen gezwungen wurde, Lösungen zu finden. Die Causa Leopold und sein hartnäckiges Verweigern, mit den arisierten Sammlungsbeständen adäquat umzugehen, sind mittlerweile bekannt. Dennoch oder gerade deshalb erstaunt es, dass Leopold nie in einer öffentlich wirksamen Aktion zur Zielscheibe der linken, kritischen Kunstszene wurde. Wer in organisierter Form Leopold scharf kritisierte, war die Israelitische Kultusgemeinde in Wien. Dem Verdacht, dass Arisierungen, verweigerte Restituierungen und Antisemitismus generell zu einem „Problem der Juden und Jüdinnen“ gemacht werden, drängt sich mehr als auf. Aber auch das ist kein Thema.

„Warum ist es so schwer, über Antisemitismus zu reden?“, fragt der nächste Poster, als hätte er meine Gedanken gelesen. Eine weitere Frage: „Wie viel TäterInnenverehrung braucht Österreich?“, ist mit rotem Strickstoff – Assoziationen: roter Wollpullover, Retromode, 1970er-Jahre, SPÖ Alleinregierung – hinterlegt. Die SPÖ als rotes Umfeld des guten Gedeihens von braunem Sumpf; an die Geschichte des Euthanasie-Arztes vom Spiegelgrund Heinrich Gross, der als sozialistischer Akademiker, Wissenschafter des Boltzmann Institutes und medizinischer Gutachter in der zweiten Republik ungebrochene Karriere machen konnte, sei vielleicht kurz gedacht.

Vielleicht braucht es zur Decodierung dieser Posterfragen mehr Kontextwissen als allgemein vorausgesetzt werden kann, vielleicht evozieren die Fragen nur bei jenen Verstörung, die sich ein bisschen unangenehm berührt fühlen, dass sie tatsächlich nie in Erwägung zogen, Leopold zu torten, und keinen guten Grund dafür haben. Tatsächlich aber zielt diese Arbeit auch genau auf eben jene ab: links sich orientierende, kunstszenige, diskurssattelfeste „Bobos“, die über alles sprechen, alles in Erwägung ziehen, alles zu einer aktivistischen Tat werden lassen möchten (zumindest potenziell) – nur Antisemitismus gilt im besten Falle als historisches Phänomen erinnerungspolitischer Projekte. Es drängt sich mir eine Kontinuitätslinie zur „alten Linken“ auf, die mehr als verstörend ist. Denn auch der gut organisierten ArbeiterInnenschaft in den frühen 1930er-Jahren war Antisemitismus nichts, gegen das es notwendig wäre, Widerstand zu organisieren: ein mittelalterliches Randphänomen, das möglicherweise ohnehin die richtigen, die kapitalistischen Klassenfeinde attackiere und deshalb gar nicht so ungelegen daherkam. Wenn es eigentlich darum gegangen wäre, Roma und Sinti zu schützen, dann scheute auch das kommunistische Zentralorgan, die „Rote Fahne“, in den 1920er Jahren nicht davor zurück, gegen die „Zigeunerplage“ zu mobilisieren. An dem Schweigen der (sogenannten alten, neuen, liberalen, queeren …) Linken, wenn heute Roma-Siedlungen angegriffen, Roma durch semistaatliche Milizen ermordet, in vergiftete Häuser umgesiedelt, in „Sonderschulen“ abgeschoben werden, hat sich definitiv nichts geändert.

Die Zeit, in der es schlimmer wurde …

Die Aktivistin, Filmemacherin und bildende Künstlerin Marika Schmiedt postet fast jeden Tag auf ihrem Blog www.marikaschmiedt.wordpress.com Nachrichten, Berichte und Videos über die Diskriminierung und Verfolgung der Roma. „In Bulgarien, Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Tschechien werden Roma zusätzlich zu den schrecklichen Lebensbedingungen noch tyrannisiert und bedroht. Faktisch können sie sich nicht einmal an die Polizei wenden, weil Exekutive und Verwaltung von Jobbik (in Ungarn) oder anderen Rassisten durchsetzt sind. Es ist ein Wahnsinn“, sagt Marika Schmidt.

Ersichtlich ist schon nach dem ersten Besuch dieser Seite: Die Intervalle zwischen den Attacken gegen Roma werden immer kürzer, auch die Meldungen über neue Dimensionen des staatlich verankerten „Alltagsrassismus“ sind schier unglaublich: Roma-Kinder in Ungarn dürfen beispielsweise in einigen Schulen nicht mehr am Schwimmunterricht mit den „Weißen“ teilnehmen, weil sie „das Wasser beschmutzten“. Roma-Kinder werden oft schon im Kindergartenalter wegen angeblich mangelnder Intelligenz in Sonderklassen untergebracht.

In der rumänischen Stadt Baia Mare wurden Roma auf Befehl des liberalen Bürgermeisters Catalin Chereches mit Polizeieinsatz aus ihren Unterkünften zwangsevakuiert und in den mit Chemikalien verseuchten Laboratorien einer ehemaligen Fabrik untergebracht – das sind nur einige von vielen Beispielen. Ihr Blog ist informativ und großartig: Wenn mensch ihn liest, wird einer schlecht, und es stellt sich Grauen auch vor der eigenen akademischen Inaktivität ein. Die Mehrheitsgesellschaft nimmt diese Kontinuität nicht wahr, einfach weil sie davon nicht betroffen ist. Für sie findet all das nicht statt, und auch das ist eine Kontinuität, die Angst macht.

Eine der von Marika Schmiedt ausgestellten Videoarbeiten ist Gedenken (2009), ein Interview mit PolizeibeamtInnen zur Gedenktafel in der Bundespolizeidirektion in Wien. Es ist dies eine Tafel, die „Opfern“ wie „TäterInnen“ unter den Beamten der Polizei „gedenkt“. Genau diese unklare Vermischung, wem hier eigentlich gedacht werden soll – so typisch für die österreichische Gedenkkultur –, wird auch von den BeamtInnen zum Ausdruck gebracht. Dieses Video ist ein guter Beleg dafür, wie „kollektives Gedächtnis“ – in diesem Fall jenes des „Opfermythos“ – durch aktive Praxen der Verunklärung gemacht wird.

Wie Gedächtnis und Geschichte gemacht werden

Auf der Außenwand der ehemaligen Burgmauer am Leopoldsberg „entdeckte“ Chris Gangl eine Gedenktafel für den rassistischen und antisemitischen Chefideologen der Turnerbewegung Friedrich Jahn. Der „Deutsche Turnerbund“ (DTB), eng verbunden mit den Burschenschaften, war eine der ersten Organisationen, die im 19. Jahrhundert Juden und Jüdinnen ausschloss. Als politisches Wahrzeichen des DTB etablierten sich die – bis heute am Leopoldsberg in unkommentierter Weise abgebildeten – vier „F“ in Form eines Hakenkreuzes. In einem Schreiben vom 14. Mai ersuchte Chris Gangl den Bezirksvorsteher des 19. Bezirkes Adolf Tiller „tätig zu werden und den zuständigen Stellen und Personen gegenüber die dringlichste Notwenigkeit einer schnellstmöglichen Veränderung der Gedenksituation am Leopoldsberg zu vermitteln (…)“. Diese Korrespondenz und alle Aktivitäten zur Entfernung solcher Gedenkstätten weisen über den Ausstellungsraum hinaus in ein Feld des aktiven Eingreifens in Gedenkpraxen.

Tal Adler und Karin Schneider suchen in einer nicht abgeschlossenen Reise die Produktionsstätten österreichischer Erinnerungspolitik auf: kleine, kaum bekannte Bezirksmuseen, Plätze, Wahrzeichen. In einem work in progress wird anhand verschiedener, ganz konkreter Beispiele erzählt, wie die Geschichte von Antisemitismus in der politischen Repräsentation endthematisiert wird. Erzählt wird aber auch von Initiativen, von MuseumsmacherInnen und KünstlerInnen, die sich hier um Gegenerzählungen bemühen. Sie werden wie die Geschichte selbst „wiederentdeckt“, sind Teil unserer Arbeit und damit in der Ausstellung präsent. Es wird damit die Möglichkeit von „Gegengeschichts-Schreibung“ erzählt, aber auch ihre prekäre Position, die Anforderung, sie immer neu zu entdecken.

Das Ausstellungsprojekt sieht sich selbst als Versuch, die Auslöschung von Geschichte(n) als Handlung der Unterdrückung zu begreifen und dieser Gegengeschichten von Organisierungen, Aneignungen, Widerständen und Ausverhandlungen entgegenzusetzen. Diese finden sich möglicherweise oft dort, wo sie nicht sofort vermutet werden – nicht in der schicken Bobo-Szene zum Beispiel.

Karin Schneider ist Zeithistorikerin und Kunstvermittlerin; arbeitet zurzeit im Projekt MemScreen (mit Tal Adler, Friedemann Derschmidt, Attila Kosa) an der Akademie der bildenden Künste in Wien.

Weiterführendes

Bolyos, Lisa/Morawek, Katharina (Hg.): Diktatorpuppe zerstört, Schaden gering. Kunst und Geschichtspolitik im Postnazismus, (Erscheint November 2012), Mandelbaumverlag Wien.

Links

Blog Marika Schmiedt

Blog Chris Gangl

Website Tal Adler/Karin Schneider

Ausstellungsprojekt

VERGANGENHEIT „NICHT AUF SICH BERUHEN LASSEN“

Künstlerische Strategien im postnazistischen Alltag

Kuratiert von Can Gülcü

Mit Tal Adler/Karin Schneider, Lisa Bolyos/Katharina Morawek, Christian Gangl, Marika Schmiedt

Ausstellungsdauer bis 15.9.2012, Galerie IG BILDENDE KUNST (Gumpendorferstraße 10-12; 1060 Wien).

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