Arbeit an den verstrickten Repräsentationsdimensionen

Die spezielle Arbeit des kollektiv und mehrsprachig hergestellten Buches „Migrationsskizzen. Sketches of Migration“ besteht darin, in der analytischen Verknüpfung gesellschaftlicher, rechtlicher, ökonomischer und ideologischer Strukturen an anderen Darstellungs- und auch Vorstellungsformen und damit anderen ästhetischen und imaginativen Strukturen zu bauen.

„Haben wir uns in den letzten zehn bis 15 Jahren nicht zu ausschließlich mit kulturellen Politiken beschäftigt?“ Diese Frage stellte Hakan Gürses, Wiener Philosoph mit Spezialisierung auf interkulturelle Philosophie, jahrelang Chefredakteur der Stimme von und für Minderheiten, und in der österreichischen Gesellschaft für politische Bildung tätig, wo er unter anderem Argumentationstrainings gegen Stammtischparolen anbietet. Er formulierte sie letztes Jahr auf einer Tagung der IG Kultur Vorarlberg zum Thema „zur Konstruktion kultureller Identität“ und richtete sie also unter anderem an eine Ansammlung linker, queer-feministisch antirassistischer Kulturarbeiter_innen und kultureller Aktivist_innen. Ich beginne meine Auseinandersetzung mit dem Buch „Migrationsskizzen. Postkoloniale Verstrickungen, antirassistische Baustellen. Sketches of Migration. Postcolonial Enmeshments. Antiracist Construction Work“ mit dieser Frage, weil sie mir hilft, hervorzuheben, was meiner Meinung nach die herausragende Arbeit des Buches ist. Ich setze sie aber auch vorne weg, weil sie mich als Kulturarbeiterin mit Lust und herrschaftskritischem Interesse an ästhetischen Formen verunsichert. Denn obwohl ich nicht weiß, wie Antworten auf diese Frage die in linken Kontexten gängigen und unproduktiven Unterscheidungen zwischen kulturellen Politiken und Politik vermeiden sollen (erstere sind hier immer weniger wichtig und zweitere, da sie auf ökonomische, rechtliche und soziale Strukturen abzielt, viel relevanter), bleibt der Wunsch, zu diskutieren, ob Hakan Gürses recht haben könnte.

Migrationsskizzen. Sketches of Migration
Die spezielle Arbeit des kollektiv und mehrsprachig hergestellten Buches „Migrationsskizzen. Sketches of Migration“ besteht darin, in der analytischen Verknüpfung gesellschaftlicher, rechtlicher, ökonomischer und ideologischer Strukturen an anderen Darstellungs- und auch Vorstellungsformen und damit anderen ästhetischen und imaginativen Strukturen zu bauen. Denn das Buch erzeugt und bearbeitet die Schnittstellen der verschiedenen Dimensionen der Repräsentation: Wenn repräsentieren sowohl darstellen heißt, also eine ästhetische Dimension hat, und es auch stellvertreten bedeutet, und damit ein Begriff des politischen Felds ist, dann besteht die Arbeit des Buches „Migrationsskizzen“ darin, ausgehend von der ästhetischen Dimension auch die epistemologische (d. h. die Ebene des Wissens), die ökonomische, die juridische, die soziale und also die politische Dimension von Repräsentation als profund mit der ästhetischen verstrickt heraus zu stellen. Und in dieser Verstricktheit lässt das Buch spezifische Selbste und Subjektivitäten als Wissensformen entstehen.

Anders gesagt ist der Ausgangspunkt der Arbeit von „Migrationsskizzen“ der Kampf gegen die Gleichzeitigkeit von Vereinnahmung und Auslöschung weiblicher migrantischer Subjektivitäten auf den verschiedensten Ebenen der Repräsentation. Dass minorisierten gesellschaftlichen Gruppen Repräsentation auf der ästhetischen Ebene vorenthalten wird und wurde, ist, wie die Cultural-Studies-Theoretikerin Ella Shohat sagt, eine historische Begleiterscheinung zur buchstäblichen Vorenthaltung ihrer ökonomischen, rechtlichen und politischen Repräsentation. Also kann „der Kampf darum, ‚für sich selbst zu sprechen‘, nicht getrennt werden von einer Geschichte des Gesprochenwerdens und vom Kampf zu sprechen und gehört zu werden“ (Shohat 1995: 173). Shohats Aufmerksamkeit gilt hier der Ebene der Selbstrepräsentation, das heißt der Frage, ob die gesellschaftlichen Gruppen, deren Subjektivitäten repräsentiert werden, selbst auch die Produktionsmittel ästhetischer Repräsentationen in der Hand haben (d. h. die technischen Möglichkeiten der Produktion, Reproduktion und Zirkulation von Bildern ihrer Selbst). Shohats Bemerkung verweist aber vor allem auf eine historische Verbindung der verschiedenen Dimensionen der Repräsentation in der Geschichte weiß-westlichen-kolonial-imperialen Fürsprechertums und Stellvertretertums. Denn vor allem das Einstehen-für-etwas-Abwesendes als zentrale Dimension des Repräsentierens funktioniert als effektiver Ausschluss minorisierter Positionen und Gruppen auch auf der Ebene politischer und ästhetischer Repräsentation – bei gleichzeitiger Vereinnahmung. Wie also sich wehren gegen Gleichzeitigkeit von Vereinnahmung und Ausschluss? Durch Selbst machen und durch ein Arbeiten an allen Ebenen der Repräsentation. Also was sind die Selbste, die hier machen?

Seite 155 ist Teil der Arbeit, die Petja Dimitrova für „Migrationsskizzen“ produziert hat. Links oben ist klein ein Still aus einem Video zu sehen, eine Frau in einem weißen Sommerkleid auf einem Sofa. Rechts daneben beginnt der Text, das Bild zu umfließen. Der Text ist das Transkript des Videointerviews mit der Frau auf dem Sofa, der Text Ketis, die ihre Geschichte erzählt: „Ich wollte immer Sängerin werden, aber der Weg, wie ich Sängerin geworden bin, ist kein leichter gewesen, denn es hätte auch … Nein, schalt noch mal aus! Ok. Ich habe mir immer gewünscht, Sängerin zu werden, bereits als Kind (…) Nein. Stopp. (…) Ich habe mir immer gewünscht, Sängerin zu werden (...).“ Das ist die sich entschieden als montiert ausstellende Erzählung einer Frau, die Sängerin wird, während sie mithilfe verschiedener Methoden und Werkzeuge diverse national- und supranationalstaatliche Grenzen überquert. Am unteren Seitenrand der Erzählung ist eine Timeline montiert, die die Entwicklung der österreichischen Migrationspolitik seit Ketis Ankunft in Österreich nachzeichnet. Diese entlang der nächsten 50 Seiten stattfindende Rekonstruktion eines Videointerviews produziert im Text zahlreiche Bilder und Phantasien. Zwischen die Textseiten sind collage-artig funktionierende Zeichnungen Petja Dimitrovas montiert, die diese Bilder und Phantasien visuell bearbeiten und mit anderen Bildern kurzschließen. Eine „hybride visuelle Matrix“ nennt Luisa Ziajas Artikel in „Migrationsskizzen“ die Zeichnungen (S. 211), und sehr entschieden sind in dieser Matrix Stränge und Fäden zu Bildern und Phantasien kollektiven selbstorganisierten politischen Handelns gelegt. Und wie die Arbeit Dimitrovas untersuchen auch die allesamt zwischen Visualität und Textualität operierenden künstlerischen Arbeiten Agnes Acholas, Carla Bobadillas, Nilbar Güreş’ und ebenso die Beiträge der Text-autor_innen Stefania Del Sordo, Luisa Ziaja, Radostina Patulova, María do Mar Castro Varela und Fatih Aydogduş in dem Buch die Subjektivität und Handlungsmacht spezifischer Akteurinnen angesichts strukturell-politischer Bedingungen, Beschränkungen und Zwangs- und Gewaltsituationen. Wobei Stefania Del Sordos Vorwort auch daran erinnert, „,Migrantin/Migrant‘ ist eine konstruierte Identität, die auf Ungleichheit in Bezug auf BürgerInnenrechte und (Alltags-) Diskriminierung in den Verhältnissen des Nationalstaates hinweist“ (S. 7) – die folglich, so die Künstlerinnen bei der Buchpräsentation, politisch verstanden werden muss. Wenn wir uns also auf kulturelle Politiken konzentrieren, und wenn diese queer-feministisch antirassistisch sind, dann geht es darum, die verschiedenen Ebenen der Repräsentation gleichzeitig zu thematisieren – die ästhetische, epistemologische, ökonomische, legale, politische, soziale, und sie als verstrickte und als Baustellen auszustellen. Auf das, was „Migrationsskizzen“ hier herstellt, ist, apropos Baustellen, in Zukunft aufzubauen.

Nachsatz
Diesen (hier überarbeiteten und gekürzten) Beitrag schrieb ich für die von den Herausgeberinnen / Künstlerinnen veranstaltete Buchpräsentation, die Vlatka Frketic am 17. Juni 2010 in der Secession Wien moderierte, und für die als weiterer Beitragender Ljubomir Bratićgeladen war. Von einer Person im Publikum angeregt, kamen Petja Dimitrova und Ljubomir Bratić in der gemeinsamen Diskussion noch einmal auf die oben zitierte Frage Hakan Gürses’ zurück – und weil die Antworten der beiden das komplexe politische Feld der Frage noch weiter spannen, will ich sie hier wiedergeben (mit Dank an Petja Dimitrova und Ljubomir Bratić): Petja Dimitrova wies darauf hin, dass die Frage, ob wir in den letzten Jahren zu ausschließlich Kulturpolitik gemacht hätten, sich nicht be- antworten ließe angesichts einer gesetzlichen Situation, die MigrantInnen in Österreich keine andere Form der politischen Organisation zugestehe als die Gründung von Kultur- und Sportvereinen. Also könnten sich MigrantInnen organisiert nur via „Kulturarbeit“ artikulieren. Andererseits biete „Kulturarbeit“ auch Schutz- und Freiräume, um Öffentlichkeiten für kritisch-politische und soziale Aktivitäten herzustellen – selbst wenn Selbstartikulation und Kritik dann oft so verpackt sei, wie sie von der Mehrheitsgesellschaft verlangt und gekauft werde, denn „authentischer Kulturaustausch“ und „Folkolore“ bringen sozialen Frieden und Aufstiegspunkte. In diesem Sinne und unter diesen Rahmenbedingungen lässt sich, so Dimitrova, auch „Migrationsskizzen“ als genau das verstehen: als politische Arbeit im Kulturbereich und als Ausdruck „unserer Folklore“.
Ljubomir Bratić forderte dazu auf, die Aufmerksamkeit auf die Politik der Kultur zu richten, die sich um uns herum alltäglich abspielt und deren Bestandteile wir sind – und das heißt, auch darauf, wer in den Beiräten und Kommissionen sitzt, wer KuratorInnenstellen und Leitungspositionen inne hat, wer entscheidet, welche Themen in der Öffentlichkeit verhandelt werden sollen. Diesen Entscheidungsraum, der uns als KulturarbeiterInnen alle betrifft, betrachtend, sei festzustellen, dass all die Tätigkeiten, die mit Hakan Gürses’ Frage gemeint sein könnten, völlig unzureichend waren: Die Politik der Kultur wird derzeit genauso wie vor 15 oder 30 Jahren ohne die migrantischen 44% der Wiener Bevölkerung gemacht. Dabei sind MigrantInnen immer schon Teil der KulturarbeiterInnen und -produzentInnen, und sei es in Kunst- und Kulturprojekten, die jenseits der herrschenden Kulturpolitik oder an deren Ränder angesiedelt sind. Aber als Kultur-PolitikerInnen gibt es sie nicht. Anders gesagt, so Bratić , wurde viel zu viel nachgedacht über Kulturkreise, Kulturkämpfe, Identitäten – alles Dinge, die sich unter „Kultur“ subsumieren lassen. Aber die Politik der herrschenden Kultur und deren rassistische Strukturiertheit wurden, willentlich oder nicht, außer Acht gelassen. Dabei wäre das Ziel ganz klar formulierbar: Es geht um Kultur für alle. Das heißt, dass alle unabhängig von StaatsbürgerInnenschaft, Geschlecht und sonstigen Kategorisierungen an der Politik der Kultur ihre Teilhabe realisieren.

Literatur
Achola, Agnes/Carla Bobadilla/Petja Dimitrova/Nilbar Güreş/Stefania Del Sordo (Hg.) (2010): Migrationsskizzen. Postkoloniale Verstrickungen, antirassistische Baustellen. Sketches of Migration. Postcolonial Enmeshments, Antiracist Construction Work. Wien: Löcker.
Shohat, Ella (1995): „The Struggle over Representation: Casting, Coalitions, and the Politics of Identification“. In: Roman de La Campa (Hg.): Late Imperial Culture. London/ New York: Verso, S. 166-177.

Johanna Schaffer lehrt, forscht und schreibt zu queer-feministischen und antirassistischen Formen und Ästhetiken. An der Akademie der bildenden Künste Wien ist sie gegenwärtig an der Etablierung eines künstlerischen Doktorats beteiligt.

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