Und täglich grüßt der Zeitungszusteller

Eines hat sich jedoch definitiv nicht geändert: die schlechten Arbeitsbedingungen und das Ausnützen der rechtlichen und ökonomischen Situation der Arbeiter. Waren damals hauptsächlich Zuwanderer aus nordafrikanischen und fernöstlichen Ländern mit eingeschränkter Arbeitsgenehmigung tätig, werden derzeit fast ausschließlich asylwerbende Personen engagiert.

Außen- und Innenansichten über das Kolportagesystem.

1990 lief Ulrich Seidls Dokumentarfilm Good News – Von Kolporteuren, toten Hunden und anderen Wienern einige Monate in österreichischen Kinos und machte auch auf internationalen Festivals (erstmals) auf den Regisseur aufmerksam. Die gut und präzise recherchierten, distanziert beobachtenden Darstellungen des Alltags von Wiener Zeitungsverkäufern und der Methoden des Zeitungskonzerns Mediaprint lösten allerdings – ähnlich wie bei Seidls nachfolgenden Filmen – mehr formale als inhaltliche oder politische Debatten aus. In seinem Langfilmdebüt präsentierte Seidl, ungeschönt und „lebensnah“, die teilweise unfassbaren Praktiken des Systems der Zeitungskolportage, ein System, dessen ausbeuterische Grundlage sich seit 25 Jahren kaum geändert hat:

Die dafür angeworbenen Personen – ähnlich wie heute, zu großen Teilen Migranten aus Ägypten, Indien und Pakistan – waren von ihren ArbeitgeberInnen in vollkommener Abhängigkeit, sowohl ihr Aufenthaltsrecht als auch ihre wirtschaftliche Existenz betreffend. Erniedrigende Behandlungen durch denunziatorische, peinliche Kontrollen, unrealistische Verkaufsvorgaben, konkrete Auflagen von Beschäftigungsort, -dauer und -entgelt dokumentierten schon damals das unausgeglichene, abhängige Arbeitsverhältnis. In nur sehr wenigen Szenen des Dokumentarfilms äußern die Kolporteure Unzufriedenheit; es wird kein Klagen, kein Kampf, sondern ein Arrangement mangels Alternativen beschrieben.

keine Kappe aufgehabt, die Jacke war offen“

Das Vertriebssystem von Mediaprint hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten etwas gewandelt. Der Abo-Verkauf wurde massiv forciert, die Hauszustellungen der Tageszeitungen bedeuten nun ein enorm wichtiges und einträgliches Betriebsfeld. Eines hat sich jedoch definitiv nicht geändert: die schlechten Arbeitsbedingungen und das Ausnützen der rechtlichen und ökonomischen Situation der Arbeiter. Waren damals hauptsächlich Zuwanderer aus nordafrikanischen und fernöstlichen Ländern mit eingeschränkter Arbeitsgenehmigung tätig, werden derzeit fast ausschließlich asylwerbende Personen engagiert. Dass diese nahezu vollkommen vom (legalen) Arbeitsmarkt exkludiert werden und somit kaum alternative Arbeitsmöglichkeiten haben, macht sie für Mediaprint zu attraktiven „Mitarbeitern“. Dieses merkwürdig symbiotische System funktioniert oberflächlich betrachtet gut und ist seit vielen Jahren relativ unbeachtet und unumstritten.

Er soll präsentieren, damit er verkaufen und gut verdienen kann.“

Schon seit den 1970er-Jahren sind die Kolporteure von Krone und Kurier durch ihr stetiges Produktpräsentieren und natürlich auch wegen ihrer geringen Gewinnmargen wesentlich für den Erfolg dieser Zeitungen mitverantwortlich. „Gut verdient“ haben hingegen weder die Straßenverkäufer, noch die Abo-Zusteller von heute.

Die wenigsten können derzeit mehr als 600 Euro brutto im Monat erreichen und das bei einer Siebentagewoche mit Nachtarbeitszeiten von etwa 1:30 bis 6:30, also durchschnittlichen 35 Wochenstunden, die mühsame Anreise bei Nacht nicht inkludiert. Die aktuelle Bezahlungsformel ist den Nachtzustellern selbst nicht ganz nachvollziehbar – ihr Werkvertrag ist in deutscher Sprache verfasst und wird in den seltensten Fällen (mündlich) übersetzt. Berechnungsbasis sind neun Cent pro ausgelieferte Zeitung – dieser ohnehin schon geringe Betrag verringert sich aber bei mehreren Zustellungen pro Haus. Zeitungsverkäufer, die schon länger „im Geschäft“ sind, berichten, dass es früher sowohl eine höhere Gewinnbeteiligung gegeben hätte, als auch ein Fixum, welches den Nachtzustellern vollkommen fremd ist. Sie sind eben „nur“ Lieferanten der Produkte und haben den Deal nicht abgeschlossen; dass ihre verlässliche Arbeit wesentlich für die steigende AbonnentInnenzahl mitverantwortlich ist, wird dabei wissentlich ignoriert.

Die Kolporteure müssen als „Neue Selbstständige“ arbeiten, werden dadurch weder pensions-, noch kranken- oder unfallversichert und haben keinen Anspruch auf Urlaub oder Feiertage. Nur etwa dreimal im Jahr, bei Doppelfeiertagen, können sie in der Nacht schlafen. Wer sich einen „freien Tag“ nehmen will, sei es wegen Krankheit oder aus anderen Gründen, hat mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Job verloren. Ob dies tatsächlich so ist, wird nebensächlich, wenn die Angst vor Jobverlust und den unabsehbaren Folgen so groß ist, dass es genügt, diese Informationen unter den Arbeitern kursieren zu lassen.

Der Gebietsbetreuer – früher „Chef-Zettel“, heute „Springer“ genannt – überwacht, gibt Sonderwünsche, Verwarnungen und Kündigungen weiter und verdient dafür etwas mehr. Er und seine Aufgaben sind perfide in die konstruierte Struktur der scheinbaren Selbstständigkeit eingebaut: Der Springer sollte eigentlich Vertretungen für verhinderte Zusteller (daher sein Name) und auch erfolglose Zustellversuche übernehmen, aber wegen Überlastung kann er das in den seltensten Fällen. Dies führt dazu, dass Kolporteure gelegentlich eine Stunde oder mehr für eine Zustellung benötigen – und zu einem Stundenlohn von neun Cent arbeiten. Diese Wartezeiten können sich ergeben, wenn kein passender Haustürschlüssel vorhanden ist und die Zusteller von Mediaprint angehalten werden, zu warten, bis eine Person das Haus verlässt und sie endlich Zutritt haben.

Muss man immer freundlich sein.“

Einige Jahre nach Erscheinen von Good News, 1996, zu Zeiten der rot-schwarzen Großkoalition, haben es die „großen“ ZeitungsherausgeberInnen durch die sogenannte „Lex Dichand“ geschafft, sich vollkommen von der Sozialversicherungspflicht als ArbeitgeberInnen zu entbinden und ihre Kolporteure als „Neue Selbstständige“ zu definieren. Das bedeutet nicht nur, dass Straßenverkäufer wie Zusteller keinerlei Art von Versicherungsschutz erfahren, sondern auch, dass asylwerbende Personen diese Arbeit überhaupt verrichten dürfen. Dieses Ausnahmegesetz ermöglicht ihnen, sich selbst um ihr existentielles Überleben zu kümmern, gleichzeitig werden ihnen die Leistungen der Grundversorgung gestrichen. Seit dem sogenannten Bartenstein-Erlass aus dem Jahr 2004 (unter schwarz-blauer Regierung) können AsylwerberInnen frühestens drei Monate nach Zulassung des Asylantrags in nur sehr wenigen, eingeschränkten Sektoren des Arbeitsmarktes tätig sein. Neben der „Freien Selbstständigkeit“ im gewerbefreien Bereich – hierzu zählt auch Sexarbeit – können sie sich um eine Beschäftigungsbewilligung für Saison- oder Erntearbeit bemühen. Diese Arbeitsgenehmigung ist allerdings länderweise quotiert, unterliegt einer Arbeitsmarktprüfung, und die potenziellen, konkreten ArbeitgeberInnen müssen beim AMS für die jeweilige Person ansuchen. Das bedeutet infolge, dass Personen, die bereits dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen (EU/EWR-BürgerInnen, Personen mit freiem Zugang zum Arbeitsmarkt oder mit nicht-arbeitsplatzbezogenen Arbeitspapieren), vom freien Arbeitsplatz informiert und bevorzugt werden („Ersatzkraftverfahren“). Asylwerbende haben somit kaum eine Chance, zu einer Bewilligung zu kommen. Auch wenn diese Tortur einmal zu einer legalen (und schlecht bezahlten) Arbeitsaufnahme bei einem Gärtnereibetrieb oder in der Großküche eines Tourismusbetriebes führt, endet die Beschäftigungsbewilligung wiederum bei Kündigung oder nach Ablauf der maximalen Arbeitszeit (von sechs Monaten), und es muss erneut angesucht werden. Auch die „gemeinnützige Arbeit“ für AsylwerberInnen, die in Einrichtungen von Bund oder Land leben, ist mit ihren Reglementierungen, mit drei bis fünf Euro Aufwandsentschädigung pro Stunde und sehr niedrig angesetzten Verdienstobergrenzen keine wirkliche Alternative, vor allem nicht für Menschen, die seit Jahren in Österreich leben und auf Ausgang ihres Asyl- oder Ausweiseverfahrens warten.

So radeln seit vielen Jahren viele junge oder auch ältere Männer aus Pakistan, Bangladesch oder Indien mit ihren selbstständig finanzierten Betriebsmitteln durch die Nacht, erfüllen selbstständig die Vorgaben der Zustellung und versuchen – so wie viele andere Selbstständige –, nicht krank oder arbeitsunfähig zu werden. Sie müssen schnell radeln, Stiegen leise rauf und runter laufen und besondere Wünsche der AbonnentInnen (wie Zeitung unter den Fußabstreifer, eine schöne Rolle machen, keinen Lift benutzen etc.) kennen. Wenn eine Zustellung verspätet erfolgt, kann dies zu einer Beschwerde führen. Bei zwei Beschwerden werden 20 Euro von der Abrechnung abgezogen; bei drei Reklamationen droht das Ende des Jobs. Und alle wissen, dass genau ihre Arbeit heiß begehrt ist und viele auf ihre Chance warten.

Machen wir uns stark!

Die aktuelle gleichnamige Kampagne von SOS-Mitmensch und dem Wiener Integrationshaus für einen (besseren) Zugang zu Lehre und Arbeitsmarkt für Asylsuchende wurde innerhalb eines Monats schon von einigen tausend Unterzeichnenden unterstützt. Darunter finden sich auch VertreterInnen aus Politik, Wirtschafts- und Arbeiterkammer. Mit vermutlich anderen Interessen wünschen sich mittlerweile auch Gewerkschaft und Industriellenvereinigung, dass die Bundesregierung, konkret Sozialminister Hundsdorfer, den sogenannten „Bartenstein-Erlass“ von 2004 aufhebt, der AsylwerberInnen de facto vom Arbeitsmarkt ausschließt. Informelle Quellen aus dem Bundesasylamt bestätigen ebenfalls Interesse an einer Änderung der Situation; ein Wunsch wäre eine Einstellung oder Verkürzung des Asylverfahrens verbunden mit einem an den Arbeitsplatz gekoppelten Aufenthaltsrecht – mit einem Schlag wären hunderte Fälle vom Tisch. Eine solche Lösung wäre insgesamt aber eher ein Regress als eine Erleichterung der Lebensumstände von asylsuchenden MigrantInnen. Ein wenig Anlass zu Hoffnung gibt die „Europäische Sanktionsrichtlinie“, die unter anderem auch „systematische und objektive Information“ über Arbeitsrechte für Menschen ohne Aufenthaltsrecht einfordert. Eine konkrete Umsetzung könnte die Basis der ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse – ob als „Neue Selbstständige“ oder im informellen Bereich – etwas minimieren.

Wie beschrieben, beklagten sich die in Seidls Dokumentarfilm porträtierten Kolporteure kaum bis gar nicht. Auch heute ist die Situation leider nicht anders. Die Angst vor Existenzverlust, auch die mangelnde politische Kommunikation untereinander und die fehlende Unterstützung von NGOs und Gewerkschaften sind dafür verantwortlich zu machen. Der Versuch einer Organisierung von ägyptischen Kolporteuren in den späten 1980er-Jahren ist misslungen, genauso wie ein kurzfristiger Streik einiger Nachtzusteller vor wenigen Jahren. Nichtsdestotrotz gilt es, „Betroffene“ zu einer besseren Organisierung zu ermutigen, sie zu unterstützen, Rechte einzufordern oder eben über ihre Arbeitsbedingungen zu berichten. Und jeder Zusteller freut sich über eine kleine Extrazuwendung unter der Dackn …

Eva Simmler ist Kulturarbeiterin und Deutschtrainerin, lebt in Wien und auf Kreta.

Anmerkungen

Dieser Text ist mit Hilfe ihres Mannes Sultan Mehmood und mittels mehrerer Gespräche mit aktiven Kolporteuren entstanden.

Die Zitate der Zwischenüberschriften sind aus dem Film Good News.

Link
machen wir uns STARK: www.machen-wir-uns-stark.at

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