Die Packungsbeilage und ihr Double. Zu einem künstlerischen Textformat
<p>Eine Packungsbeilage ist in der Regel einem Arzneimittel beigelegt und enthält für Verbraucher*innen wichtige Informationen. Der Begriff wird ebenfalls polemisch für Textsorten verwendet, die ein künstlerisches Werk und seine ästhetische Wirkung beschreiben. Wenn Kunst eine Packungsbeilage, eine Erklärung oder Vorwissen benötige, könne sie nicht durch sich selbst sprechen, so die Kritik. Der Beipackzettel, genauso wie eine Anleitung zur Kunstbetrachtung, sind
Eine Packungsbeilage ist in der Regel einem Arzneimittel beigelegt und enthält für Verbraucher*innen wichtige Informationen. Der Begriff wird ebenfalls polemisch für Textsorten verwendet, die ein künstlerisches Werk und seine ästhetische Wirkung beschreiben. Wenn Kunst eine Packungsbeilage, eine Erklärung oder Vorwissen benötige, könne sie nicht durch sich selbst sprechen, so die Kritik. Der Beipackzettel, genauso wie eine Anleitung zur Kunstbetrachtung, sind jedoch mehr als Gebrauchsinformationen: Sie bilden Dispositive, also komplexe Zusammenhänge von Macht, Ordnung oder Wert ab. Solcherlei Textsorten handeln nicht nur von Gegenständen und deren Wirkungen, sie erzeugen sie auch. Schriften über den Zweck, über Anwendungsgebiete, Vorsichtsmaßnahmen, Nebenwirkungen und Darreichungsform sind sowohl für die Einnahme von Medikamenten als auch für die Rezeption von Kunst von Bedeutung und bestimmen deren Effekt. Als „Paratext“ können sie ein Werk ergänzen, beeinflussen oder korrumpieren. Das griechische Wort „para“ meint „neben“, „gegen“ oder „über etwas hinaus“. Der Paratext kann werkintern sein (also mit dem Objekt verbunden) oder getrennt von ihm zirkulieren. Sein stofflicher Status variiert von sprachlich, bildlich, zu materiell und faktisch. Auch Eigenschaften der Kommunikationsinstanzen kommen zum Tragen: Wer spricht zu wem?
Lucie Strecker und Klaus Spiess beschäftigen sich seit Jahren mit Projekten an der Schnittstelle von Kunst, Performance und Medizin.[1] Nachdem die Pharmaindustrie zu den großen Zukunftsmärkten gehört, stehen medizinische Produkte im Zentrum des öffentlichen Interesses. Im Zuge von Installationen und Performances erzeugten die Künstler*innen nun ein hybrides, quasi-medizinisches Objekt, das sich an der Grenze zwischen Placebo, Kunstwerk und de facto bioaktivem Produkt bewegt; ein anal einzuführendes „Zäpfchen“, das auf Englisch „Suppository“ heißt. Für dieses schrieb die Künstlerin und Philosophin KT Zakravsky eine Reihe von Informationen für Verbraucher*innen.
Auszug aus dem Beipackzettel des „Suppository“:
“1. What you need to know before you take it
The Suppository are a powerful agent.
They are the nal stage of a hybrid microbial colony turned psychobiotic service agency.
Only by looking at them you could enter a symbiosis with them that might start a profound transformation of your whole being. If you are not ready for that, better not look at them at all.
You have already looked?
Well, that is the risk you took by coming to this exhibition.
If you are privileged enough to go to art shows you are privileged enough to face our power.
2. What it is used for
The most probable use, at least the one uses the suppository has been made for, is a cure from late capitalist nausea and disgust in the face of so called “art” turned vehicle for obscene self-branding and cheap political propaganda of any kind.
As the suppository is a pharmakon, be aware that the nausea it is supposed to cure will rst be heightened.”
KT Zakravsky
Ob sich eine solche Wirkungsweise nun als „Placebo-Effekt“ erklären lässt? Dieser ist ein gut untersuchter psychologischer und neurologischer Mechanismus, der im Falle eher systemischer, psychosomatischer Störungen für die Besserung des Wohlbefindens sorgt, obwohl ein Wirkstoff objektiv fehlt. Nachdem wir in einer Gesellschaft leben, die ständig Zukunftsversprechen braucht, um die Gegenwart zu bewältigen, wuchern auch überall Placebos.
Bei der ersten Version des Beipackzettels wurde ein von Spiess/ Strecker künstlerisch adaptierter, biochemischer Prozess beschrieben. Dieser bezieht sich auf eine Publikation zum Merkvermögen von Einzellern, die 2015 in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Cell“ veröffentlicht wurde.[2] Dem Modellorganismus der Hefezelle werden künstliche Pheromone zugeführt. Nachdem diese Zugabe mehrmals erfolgt ist und dennoch keine Partnerin erscheint, zeigen sich die Hefezellen „frustriert“ und stellen die entsprechende Modifikation, die Bildung eines „Schmu“[3], ein. Die Mikroorganismen zeigen also Erinnerungsfähigkeit.
Auf dieser reellen Forschung bauten Spiess/Strecker auf, um in einer Folge von Versuchsanordnungen ein Zäpfchen zu entwerfen, das als Medizin gegen den Konsumwahn wirken könnte. Die Analogie ist schließlich schlagend. Es geht darum, gegen künstliche Reize und Lockangebote immun zu werden. Nachdem erwiesen ist, dass „Fast Food“ die mikrobielle Population im Darm schädigt und so zu Krankheiten, wie z. B. Adipositas, führt, und dieses Zäpfchen anal eingeführt werden soll, ist die Analogie mehr als Analogie. Sie ist potenziell wirksame Therapie.
Diese erste Version des „Leaflets“ hatte eine präzise Funktion in der künstlerischen Performance, in der das Zäpfchen versteigert wurde. Ein*e potenzielle*r Käufer*in brauchte den Beipacktext, um zu verstehen, was sie*er erworben hatte. So stand da etwa, dass die Künstler*innen keinerlei Verantwortung für Risiken und Nebenwirkungen übernehmen; und dass jedes Pharmakon ambivalent sei.
Der neueste Beipacktext, zuletzt gezeigt in der Ausstellung „Understanding Art&Reserach“ im MAK[4] als installatives Modul auf silbrigem Papier, ist auch ethischer Orakel-Text. Durch sich und seine wechselnden Umgebungen prüft er, ob sich das ständig verändernde und durch die komplexe Kunstbetriebslandschaft weiterkochende und -schmelzende Zäpfchen immer noch an die Funktion des „Pharmakon“ hält. Ihre Packungsbeilagen/ Paratexte versteht KT Zakravsky daher auch als ein kritisches Regulativ.[5]
Die Inszenierungen und Rituale rund um das Zäpfchen und seinen Beipacktext sind nicht nur die Fiktion einer Therapie, sie sind vielleicht doch ansatzweise schon diese selbst. Eine dringend ersehnte „Therapie“ gegen die herzlosen und geistlosen Süchte und Zwänge des Kapitalismus zu versprechen scheint nicht genug und vielleicht sogar ethisch problematisch, wenn die, die diese versprechen, rein privat davon profitieren. Denn genau das ist ja Kapitalismus: Private Vorteile aus allgemeinen Übeln zu ziehen, die man nur scheinbar zu mildern verspricht.
Das Zäpfchen ist aber ein ehrlicher Hybrid, ein ehrliches Placebo, eine ehrlich instabile Monstrosität. Es warnt selbst vor seinen und allen anderen rosigen Versprechungen und wirkt vielleicht gerade deshalb erstaunlich befreiend, nicht zuletzt durch seine Intertextualität.
Lucie Strecker arbeitet im Feld der performativen K nste, unterrichtet an der Freien Universität Bozen „Experience Design“ und leitet das Elise-Richter-PEEK Projekt „Zur Performativität des Biofakts“ an der Universität für Angewandte Kunst Wien.
KT Zakravsky, ehemalige Lektorin für Philosophie (Biopolitik, kritische Anthropologie), ist Performance- und Konzeptk nstlerin, freie Forscherin, Aktivistin, Autorin und Projekt-/Medienentwicklerin im Bereich „Artistic Research“ und Wissenschaftskommunikation.
Coverfoto: Grafik Verpackung Suppository © LoCascio/Strecker
1 Aus dieser Kooperation ging ein Elise-Richter-PEEK Forschungsprojekt von Lucie Strecker hervor, das Techniken der Life Sciences in ein Verhältnis zu Materie und Performativität setzt. In Form von künstlerischer Forschung wird provokativ eine Entität (also etwas „Seiendes“) erzeugt, deren ontologischer Status (oder Seinszustands) zwischen belebt und unbelebt changiert.
2 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24315096
3 „Schmu“ ist eine Ausbuchtung, die eine Hefezelle bildet, wenn sie sexuell aktiv ist.
4 https://www.mak.at/programm/ausstellungen/understanding__art__research
5 Zur Dokumentation ihrer Arbeiten in dem Kontext vgl. https://planetzakra.wordpress.com/2019/07/10/the-leaflet-series/; https://planetzakra.wordpress.com/2018/12/10/buying-a-share-of-a-bioactive-suppository-at-a-mad-auction/
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.19 „Kultur als Rezept“ des Magazins der IG Kultur Österreich - Zentralorgan für Kulturpolitik und Propaganda erschienen.
Das Magazin kann unter office@igkultur.at (5 €) bestellt werden.