Armes Österreich

1,5 Millionen Menschen sind in Österreich laut Statistik Austria von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, fast ein Viertel davon Kinder und Jugendliche. Für ein so reiches Land eigentlich viel zu viel. Österreich zeigt hierbei strukturelle Defizite. Wie so oft benötigt es die Initiative engagierter Menschen, um zu verbessern, worum sich der Staat zu wenig kümmert. Dabei kommt ihnen die Flüchtlingsdebatte nicht gerade entgegen. 

1,5 Millionen Menschen sind in Österreich laut Statistik Austria von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen, fast ein Viertel davon Kinder und Jugendliche. Für ein so reiches Land eigentlich viel zu viel. Österreich zeigt hierbei strukturelle Defizite. Wie so oft benötigt es die Initiative engagierter Menschen, um zu verbessern, worum sich der Staat zu wenig kümmert. Dabei kommt ihnen die Flüchtlingsdebatte nicht gerade entgegen. 

Doch was heißt hier überhaupt arm? Armut misst sich an Anteil und Teilhabe, die Menschen in einer Gesellschaft nehmen. Sie ist relativ. Deshalb unterscheidet sich auch die Armutsgrenze in Österreich zu jener in Frankreich, Rumänien, den USA oder Südafrika. Sie ist ein Indikator über Verteilung und Ungleichheitsrelationen. Konkret geht es darum, wer sich alltägliche Güter nicht leisten kann. Aber nicht nur das. Es geht auch um mangelnde soziale Teilhabe und Stigmatisierung, mit denen die Betroffenen zu kämpfen haben. Besonders gefährdete Menschengruppen sind jene, die nicht mehr als einen Pflichtschulabschluss haben. Schon eine Lehre halbiert das Armutsrisiko, ein Studium hingegen drückt es nur mehr geringfügig. Aber es trifft  auch Menschen in Ein-Personen-Haushalten, Arbeitslose, MigrantInnen, Menschen mit Behinderung, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Langzeitarbeitslose. In Österreich gibt es in etwa 400.000 arme Menschen. Über 16.000 sind sogar obdachlos – über zwei Drittel davon in Wien. Für ein reiches Land wie Österreich ganz schön viel. Denn knapp 14% der Bevölkerung gelten als armutsgefährdet. Das sind all jene, die monatlich weniger als 1.100€ verdienen. Das betrifft sogar Leute, die vollzeitbeschäftigt sind, eine Klasse, die mit zunehmender Prekarisierung und Aufweichung des Arbeitnehmerschutzes entstanden ist. Man spricht hierbei von den Working Poor. 
Trotz allen bedenklichen Entwicklungen muss man sagen, dass Österreich immer noch über ein ausgesprochen gutes Sozialsystem verfügt, wenn man es mit dem anderer Länder vergleicht. Aber es begnügt sich damit, die Symptome abzumildern und beschäftigt sich zu wenig damit, die Probleme zu lösen. Es ist nicht nur wichtig, konkrete Direkthilfe für Betroffene zu leisten, im Sinne von Soforthilfe in Versorgungsfragen, wie etwas zu essen oder ein Dach über dem Kopf. Es gibt auch jene, die nicht Fische, sondern Angeln verteilen. Verschiedene Initiativen kümmern sich um Programme zur Reintegration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt, und zwar nicht im Sinne des AMS, die Menschen gemäß Nachfrage des Arbeitsmarktes passend zu machen, sondern in dem Sinne, ihnen selbst zu ermöglichen, ihre Probleme gemäß ihrer eigener Bedürfnislage anzugehen. Darüber hinaus gibt es Initiativen, die eine Öffentlichkeit schaffen, versuchen Vorurteile abzubauen, zu sensibilisieren und eine Lobby für Betroffene zu bilden. Es sind Öffentlichkeiten, in denen eben nicht über die Betroffenen gesprochen wird, als seien sie das Problem, das gelöst werden müsse, sondern in denen sie selbst zu Wort kommen, sich selbst vertreten und für sich selbst und über ihre Probleme sprechen können. In einer politischen Stimmung, die diese Menschen als Problem sieht, sich aber darauf beschränkt, sie zu versorgen und ruhigzustellen, sehen sich viele dieser Initiativen sogar dazu gezwungen, auf die Unterstützung der öffentlichen Hand zu verzichten. 

Die Straßenzeitung Augustin begann als Medienprojekt an der Sozialakademie in Wien und wurde in Anlehnung an bereits bestehende internationale Straßenzeitungen wie The Big Issue in London konzipiert. Sie kommt ganz ohne öffentliche Förderungen aus. Nur so, glauben die Initiatoren, können sie unabhängig von der Politik ein Sprachrohr der Mittellosen sein. Man ist der Überzeugung, dass man mit Geld aus öffentlicher Hand einerseits nicht mehr so kritisch schreiben, andererseits nicht mehr einem so breiten Spektrum an Menschen bedarfsorientiert helfen könne, sondern Quoten die Arbeit bestimmen würden, anstatt die jeweilige Situation und Bedürfnisse der Menschen. Außerdem sind sie davon überzeugt, dass Asylwerbende aus ihrem Netz herausfallen würden. Der Fokus der Initiative liegt deutlich in der Sichtbarmachung, der Bewusstseinsbildung, nicht jedoch so sehr in der Partizipation der Betroffenen am Projekt selbst. Es handelt sich um eine Straßenzeitung mit Schwerpunkt Armut und Armutsgefährdung, das Image der Obdachlosenzeitung entspricht dem Augustin nicht, so Eva Rohrmoser. Sie hätten zwar mit fünf Obdachlosen im Verkauf begonnen, allerdings handelt es sich auch dort mittlerweile um eine äußerst heterogene Gruppe. Was sie eint, ist die finanzielle Not, nicht allerdings die Wohnungslosigkeit. Die Straßenzeitung hat zwar schon einen sozialarbeiterischen Anspruch, allerdings nur bedürfnisorientiert, das heißt gemäß den Nöten und Wünschen der Betroffenen selbst und nicht nach von außen kommenden Vorstellungen. Vermutlich schaffen sie es genau deshalb, eine so diverse Gruppe Menschen zu vertreten und einzubeziehen. 


Einen anderen Ansatz verfolgt die Kupfermuck’n in Linz. Hinter der Straßenzeitung der oberösterreichischen Landeshauptstadt steht der Verein ARGE für Obdachlose. Er beschäftigt sich in erster Linie mit Wohnhilfe, Beschäftigung und Tagesstruktur und Delogierungsprävention. Die Straßenzeitung entstand nicht aus sich heraus als Medienprojekt, wie etwa der Wiener Augustin, sie ist genau umgekehrt eher eine Folge ihrer Arbeit im Feld. Die Zeitung wurde gestartet, um den Betroffenen eine sinnvolle Beschäftigung zu liefern und sie nicht in Wärmestuben und Notschlafstellen ruhigzustellen. Nicht nur der Verkauf, auch die Redaktion wird von Betroffenen selbst geleistet, was bedeutet, dass sie grundsätzlich für sich selbst sprechen können und nicht nur vertreten werden. Insofern versteht sich die Kupfermuck’n ebenfalls als Sprachrohr, der Verein dahinter als Lobby. Zwei ihrer Mitarbeitenden, selbst Betroffene, vertreten die Wohnungslosenhilfe auch vor der Landesregierung. Nicht das Medium kommt zuerst, und dann die Frage der Einbeziehung, sie legen ihren Fokus auf die integrative Hilfe, also die Inklusion und Partizipation von Betroffenen. Die Medienarbeit resultiert daraus. 

 

Gerade für Initiativen, die eine Öffentlichkeit herstellen, ist es ärgerlich, wie das Thema in der Flüchtlingsdebatte instrumentalisiert wird. Das Thema Armut oder Obdachlosigkeit wurde erst wieder in breiter Basis ein politisches Thema, als die Flüchtlingskrise im Agenda Setting ganz oben stand. Die rechten und konservativen Parteien sind es in erster Linie, die österreichweit seit über zehn Jahren Bettelverbote fordern und teilweise sogar umsetzen. Für ebenjene Gruppe, gegen die man so lange bereits erbittert kämpft – die ÖVP Linz plakatiert in der ganzen Stadt, ihr Bettelverbot habe die Sicherheit erhöht –, behauptet man also plötzlich, sich einzusetzen, wenn es darum geht, gegen Flüchtlinge vorzugehen. Für die Initiativen ist es mühsam, jahrelang für ihr Thema eine Öffentlichkeit zu schaffen und nun zusehen zu müssen, wie es politisch instrumentalisiert wird, die Themenführerschaft an eben jene geht, die die stärksten Vorurteile zu verantworten haben. Zumal sich dadurch auch nichts für die einheimischen Obdachlosen verbessert. Sie werden nur hervorgezerrt, um moralisch legitimieren zu können, einen härteren Asylkurs zu fahren, während Gesetze, die Schikanen für Obdachlose darstellen, weiter gefordert und umgesetzt werden. In anderen Worten: Man hilft ihnen nicht mehr, weil man den Flüchtlingen hilft – man fordert eher ganz im Gegenteil einen härteren Kurs gegen Flüchtlinge, um den harten Kurs gegen Obdachlose beibehalten zu können. Geholfen wird dadurch niemandem. Reaktionen auf die Gerüchte, dass für Obdachlose aufgrund des Aufkommens für die Flüchtlinge nichts getan würde, kamen ganz unmittelbar. Bei der Kupfermuck’n habe der ORF angerufen, so Geschäftsführer Heinz Zauner, um nachzufragen, ob es stimme, was von gewissen Seiten behauptet werde, dass ihre finanziellen Mittel zurückgegangen seien, beispielsweise das Spendenaufkommen, seit Flüchtlinge in aller Munde sind. Eine Fehlinformation. Er erzählt aber auch, dass diese Ressentiments tiefer sickern, selbst Obdachlose seien dadurch gegen Flüchtlinge aufzubringen. Ihre eigene Klientel sei es teilweise, die sich darüber beschwere, was für Flüchtlinge geleistet würde und nicht für Obdachlose, obgleich sie selbst mitunter seit zehn Jahren die Hilfe des Vereines in Anspruch nehmen würden, in Betreuung sind, kurz: gerade Geld kosten, während Flüchtlinge auf Essens- und Kleiderspenden von Privatpersonen angewiesen sind und keinen Zugang zum Großteil der Sozialleistungen haben. In TV und Zeitung sieht man sie gar mit Tränengas beschossen und unter Stacheldraht durchrobben. Es sei paradox, so Heinz Zauner, jedoch ließen sie sich davon nicht beirren. Man behält die Zügel der Repräsentation dabei in der Hand, dadurch, mit wem man worüber in welcher Art und Weise spricht, vor allem dabei, was man im eigenen Medium ausdrücken kann. So beschäftigen sie sich selbst viel mit dem Flüchtlingsthema und haben auch viele Asylwerber im Verkauf. Wenn sich das Blatt dem Thema Flüchtlinge widmet, scheut man sich im partizipativen Projekt konsequenterweise auch nicht davor, diese einzuladen, die redaktionelle Arbeit zu leisten. Es wird dann nicht über Flüchtlinge geschrieben, sondern sie erzählen selbst. 


Manche Vorurteile werden sich bestimmt nicht über den ungleichen und vergeblichen Kampf gegen die medialen Riesen auf den Fußmatten der österreichischen Haushalte und den Blechkästen an unseren U-Bahn- und Straßenbahnstationen lösen. So gibt es auch Projekte, die gänzlich andere Wege gehen, als jene, über Redaktion oder Verkauf einer Zeitung eine Plattform bieten, die eigene Situation zu schildern und dabei wieder in den Arbeitsalltag zurückzufinden und ein paar Euro dazu zu verdienen. Die Selbstdarstellung unserer Straßenzeitungen kann der Fremddarstellung von Krone, Österreich und Heute wenig entgegensetzen, wenn sie sich dazu entschließen, den Wind, den sie machen, mit einem Sturm zu übertönen. Es gibt ja auch andere Ansätze, die direkte Kontakte zwischen Menschen herstellen und einen lebensnahen Eindruck von Situation und Alltag vermitteln. Am Ende beeindruckt das die Einzelnen vielleicht sogar mehr, als ein paar reißerische Artikelchen in Boulevardblättern, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt wurden, auch wenn letztere das tausendfache an Menschen erreichen.

 
Initiativen wie Supertramps oder Shades Tours bieten Stadtführungen durch Obdachlose an. Man lernt dabei eine Seite der Stadt kennen, die sonst im Verborgenen bleibt. Sie führen durch Hilfseinrichtungen und öffentliche Plätze, zeigen, wo man gratis etwas zu essen kriegt oder sich aufwärmen kann und erklären, was einen guten Schlafplatz ausmacht. Ihre Geschichten unterscheiden sich ebenso, wie die Gründe ihrer Obdachlosigkeit. Vom einfachen Arbeiter bis zum Manager führte sie Scheidung, Jobverlust, Sucht, Krankheit, Schulden, Flucht oder Haftentlassung auf die Straße. Ihre Führungen leiten die Guides allerdings ohne Tränendrüse, dafür aber mit viel Humor und Anekdoten aus ihrem Alltag. Die Supertramps bieten derzeit acht Touren an, um das andere Gesicht der Stadt Wien kennenzulernen, die man gegen freie Spende (Richtwert 15€) besuchen kann. Dabei leistet der Verein einen Beitrag zur Reintegration in einen Arbeitsalltag und für einen Zuverdienst der Betroffenen. Gleichzeitig baut die Initiative Vorurteile ab und vielleicht viel nachhaltiger, als es die geschriebene Sprache vermag. Denn wie könnte das besser geschehen als durch persönlichen Kontakt und Austausch zwischen Menschen? 

 

Laut Experten Martin Schenk hat Österreich die Wirtschaftskrise bislang ohne einen wesentlichen Anstieg an Armut überstanden, was auch am Sozialsystem liegt. Aber nicht nur. Der Staat überlässt es viel zu sehr dem freiwilligen Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger, die nötigen Impulse zu setzen, die über die Sicherung des nackten Überlebens hinausgehen und ein würdiges gesellschaftliches Leben ermöglichen. Eine Privatisierung des sozialen Gewissens. Denn es sind vor allem soziale Initiativen, die einen großen Beitrag dazu leisten, dass sich die Situation nicht verschlechtert, nicht nur als Versorger, sondern als Hilfe zur Reintegration, als Steigbügel zurück in das soziale und berufliche Umfeld, als politische Lobby und Sprachrohr der Stimmlosen. Jede Initiative für sich konzentriert sich im Sinne einer Verbesserung der Situation auf einen Aspekt des Ganzen. Doch gemeinsam schrauben sie an allen Seiten. Sie werden die Maschine alleine nicht in Gang kriegen, zusammen bringen sie aber vielleicht noch viele weitere Rädchen in Bewegung, die am Ende gemeinsam einen echten Unterschied machen könnten. Zumindest bleibt das zu hoffen. Denn 15% Armutsgefährdung und fast so viele Arme, wie die Zweit- und Drittgrößte Stadt Österreichs zusammen, das ist für so ein wohlhabendes Land wie Österreich viel zu viel. 

 

 

Hier die Langfassungen der Interviews auf unserem Videokanal:

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