VorRisse

Nein, die Redaktion leidet nicht an Realitätsverlust. Wir haben weder übersehen, dass offiziell keine Wahlen bevorstehen, noch wähnen wir uns mitten in den Donnerstagsdemos, in denen die Anti-Schwarzblau-Stickers Johanna Kandls so unübersehbar die Szenen prägten. Nach langen Jahren der Schwarz-Weiß-Malerei hat das Antlitz der Kulturrisse wieder Farbe gewonnen, weil die schwarzblaue Regierung sich gerade anschickt, die virtuelle Länge einer vollen Legislaturperiode hinter sich zu bringen.

Nein, die Redaktion leidet nicht an Realitätsverlust. Wir haben weder übersehen, dass offiziell keine Wahlen bevorstehen, noch wähnen wir uns mitten in den Donnerstagsdemos, in denen die Anti-Schwarzblau-Stickers Johanna Kandls so unübersehbar die Szenen prägten. Nach langen Jahren der Schwarz-Weiß-Malerei hat das Antlitz der Kulturrisse wieder Farbe gewonnen, weil die schwarzblaue Regierung sich gerade anschickt, die virtuelle Länge einer vollen Legislaturperiode hinter sich zu bringen. Vor vier Jahren, im Herbst 1999 haben die Nationalratswahlen, bei denen die FPÖ zweitstärkste Partei noch vor der ÖVP wurde, vor allem den Grundstein dazu gelegt, dass im Februar 2000 eine beispiellose Welle von widerständigen Aktionen sich über Österreich ausgebreitet hat.

Der deutsche Politikwissenschafter Alex Demirovic prophezeite der ob dieser Vorhersage schwer beleidigten freien Opposition bei einer übermäßig gut besuchten Veranstaltung im Wiener Depot schon im Februar 2000 - in Anlehnung an die Kohl’schen Jahre in Deutschland - einen langen Weg, nämlich zwei Legislaturperioden. Aus dieser Sicht scheint es wahrscheinlich unproduktiv, "das Ende der Legislaturperiode" erst jetzt zu begehen, anstatt gleich das Ende der zweiten Periode zu fordern. Dem würden wir uns zwar ebenso wenig verschließen, ziehen es jedoch vor, in diesem Heft einen kursorischen Rückblick auf die Praxen der Gegenmacht zu bieten.
Natürlich hat sich inzwischen auch auf staatlicher Ebene einiges ereignet (vgl. auch den Beitrag von Burghart Schmidt), das Kommen und Gehen von MinisterInnen und VizekanzlerInnen, ab und zu auch "Zwischenwahlen", gelegentlich ein Wechsel von der einen zur anderen Partei. Was uns hier aber mehr bewegt, sind die Brüche und Wellenbewegungen des eindämmernden Widerstands und des erneut Widerständig-Werdens seit jenem roten Kulturrisse-Sonderheft, das zum Aktionstag am 11.11.1999 unter dem Titel "gettoattack now!" erschienen ist.

Die Texte der aktuellen Ausgabe verfolgen demnach vor allem jene Linien, die sich aus den verschiedenen Widerstandsprojekten um 2000 entwickelt haben. In nüchterner, bisweilen ernüchternder Manier wird Bilanz gezogen über Aufflammen, Verschwinden und Transformation der relevantesten Verkettungen des Widerstands (Doron Rabinovici zur Demokratischen Offensive, Oliver Marchart und Nora Sternfeld zu gettoattack) wie auch Gefüge thematisiert, die aus dieser zähen Zeit herausragen: die mikropolitischen Bereiche der antirassistischen Vernetzung (vgl. Daniela Koweindls Beitrag), die zunehmende Verfeinerung von prekären polit-künstlerischen Unternehmungen (hier die Texte über die VolxTheaterKarawane, die Diagonale und das UNIKUM) sowie auch das beharrende Bestehen von alten und vor allem neu entstandenen Medien (vgl. den Beitrag von Patricia Köstring über das Mediencamp am Karlsplatz; Grüße und Gratulation an dieser Stelle vor allem an die Zeitschriften MALMOE und Grundrisse, aber auch an alle Freien Radios in Österreich, die sich nicht von Subventionsentzug und sonstigen Fährnissen in ihrer Arbeit beirren lassen).

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