„Es braucht Menschen, die auf die Straße gehen!“

Die globalisierungskritische Bewegung, von manchen gar als „Bewegung der Bewegungen“ bezeichnet, befindet sich heute an einem entscheidenden Wendepunkt: Zum einen hat die von öffentlicher Aufmerksamkeit lange Zeit verwöhnte Protestkultur mit einem massenmedialen Desinteresse zu kämpfen, zum anderen erfreut sie sich gerade in den kritischen Sozialwissenschaften größter Beliebtheit.

Die globalisierungskritische Bewegung, von manchen gar als „Bewegung der Bewegungen“ bezeichnet, befindet sich heute an einem entscheidenden Wendepunkt: Zum einen hat die von öffentlicher Aufmerksamkeit lange Zeit verwöhnte Protestkultur mit einem massenmedialen Desinteresse zu kämpfen, zum anderen erfreut sie sich gerade in den kritischen Sozialwissenschaften größter Beliebtheit. Ausgehend von einem solchen Befund erforscht das an der Universität Luzern verortete Forschungsprojekt „Protest als Medium – Medien des Protests“ seit 2006 die tieferen Implikationen dieses Wandels und kommt dabei zu einem bemerkenswerten Schluss: Hinter der vermeintlichen Stille verbirgt sich nicht das Ende dieser Bewegung, sondern eine Rekonfiguration entlang spezifizierter Themenfelder.

Als eines dieser neuen Protestthemen, entlang derer sich eine organisatorische Neuverknüpfung einzelner Gruppen und Individuen vollzieht, erweist sich die Problematisierung von Prekarität. Insbesondere der EuroMayDay kann dabei als Artikulationspunkt einer sich formierenden Kritik an prekarisierten Arbeits- und Lebensverhältnissen verstanden werden. An der Schnittstelle von Medien- und Politikwissenschaften, Soziologie und Cultural Studies untersucht das Luzerner Forschungsprojekt die Medienproduktion und den spezifischen Medieneinsatz dieser Protestbewegung. Hierzu dient beispielsweise ein multimediales Online-Archiv, in dem Bewegungsmaterialien in Form von Text, Bild, Video und Audio rund um das transnationale EuroMayDay-Netzwerk gesammelt, verschlagwortet und öffentlich zugänglich gemacht werden.

Der Zusammenhang von sozialer Bewegung und ihrer Mediennutzung stand auch im Mittelpunkt der Tagung Culture, Media: Protest Anfang September in Luzern, wo die Möglichkeiten eines transnationalen Protestraumes – etwa in der Verbindung von Straße und Internet – thematisiert wurden. Die Eröffnung politischer Handlungsräume wurde dabei mit der Frage nach Sinnproduktionen in und durch Protestkulturen verknüpft, wobei mit der kulturellen Perspektive auf soziale Bewegungen vor allem diskurs- und hegemonietheoretische Ansätze zur Anwendung kamen. Als zentrale VertreterInnen einer solchen Hegemonietheorie mit ihren jeweiligen diskursiven Praxen können Ernesto Laclau und Chantal Mouffe genannt werden, die Mitte der 1980er Jahre mit ihrem Buch „Hegemony and Socialist Strategy“ entscheidend zur radikaldemokratischen Debatte beigetragen haben. Das Gespräch mit den beiden TheoretikerInnen fand in Anschluss an deren Vorträge auf der Luzerner Tagung statt.

Es ging auf der Tagung um eine kulturelle Perspektive auf soziale Bewegungen und deren Umgang mit neuen Formen von Protestmedien. Welche Rolle können solche Protestmedien in demokratischen Kämpfen spielen?

Chantal Mouffe: Medien als solche sind bloße Instrumente, weshalb sie auch nicht an sich Demokratie fördern oder verhindern können. Das Internet zum Beispiel ist sehr ambivalent in seiner Anwendung. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, wie wir uns eine öffentliche Sphäre vorstellen. Denn wenn diese nur einen Ort des Konsenses darstellt, dann kann auch das Internet nicht als geeignetes Mittel dienen, um diesen Konsens herzustellen. Wenn wir dagegen die öffentliche Sphäre in einem agonistischen Sinn verstehen, kann das Internet dazu beitragen, diesen Konsens zu stören, indem bisher unsichtbare Standpunkte sichtbar gemacht werden. Ich bin also weder sonderlich euphorisch, was das Potenzial solcher Medien betrifft, noch sehr pessimistisch. Es wird einfach davon abhängen, was wir unter Demokratie und öffentlicher Sphäre verstehen.

Worin liegen die Grenzen von Medien für soziale Proteste? Können diese überhaupt zur Bildung neuer Organisationsformen beitragen?

Chantal Mouffe: Auf jeden Fall! Gerade das Internet kann als Instrument zur Bildung neuer Äquivalenzketten dienen. Das Problem, welches ich in Zusammenhang mit den so genannten neuen Medien sehe, besteht allerdings darin, dass die Menschen dazu neigen, nur auf jene Webseiten zu gehen, mit denen sie auch übereinstimmen. Es ist eben ein sehr ambivalentes Medium, da es einerseits einen agonistischen Raum schaffen kann, andererseits aber die Leute in ihren Vorurteilen bestärkt. Wir sollten also die Mobilisierung über das Internet nicht mit den sozialen Bewegungen selbst verwechseln. Es braucht immer auch Menschen, die auf die Straße gehen! Die sozialen Bewegungen sind nicht etwas, das nur im Virtuellen stattfinden kann. Insofern sind diese Protestmedien sehr begrenzt.

In Bezug auf den EuroMayDay stellt sich die Frage, inwieweit kritisches Wissen, welches innerhalb gegenhegemonialer Projekte erzeugt wurde, von der hegemonialen Ordnung angeeignet wird. Handelt es sich beim Begriff der Prekarität also um einen möglichen Anknüpfungspunkt für politische Verkettungen, oder haben wir es mit einer Enteignung dieses kritischen Begriffes zu tun?

Chantal Mouffe: Warum diese Gegenüberstellung? Worum es sozialen Bewegungen letztlich geht, ist ihre eigenen Themen und Begriffe auf die politische Agenda zu setzen. Darin unterscheidet sich unsere Vorstellung von Hegemonie von jener des Post-Operaismus. Für Michael Hardt und Antonio Negri würde diese Enteignung einen notwendigen Rückzug erfordern. Aber das ist doch absurd, denn die Aufgabe von sozialen Bewegungen besteht ja gerade darin, ihre Themen in den politischen Diskurs einzubringen. Und sobald die Themen auf der Tagesordnung sind, können sie innerhalb der hegemonialen Auseinandersetzung von den verschiedenen Parteien auch unterschiedlich artikuliert werden. Ein anderes Beispiel macht die Sache vielleicht noch klarer: Jede/r spricht heute über die ökologische Frage und die Auswirkungen des Klimawandels. Aber ist es nun schlecht, dass diese Themen von der Alltagspolitik aufgegriffen wurden? Nein, natürlich nicht!

Also handelt es sich um eine erfolgreiche Intervention in die hegemoniale Ordnung?

Chantal Mouffe: Ja, es ist eine erfolgreiche Intervention im Kampf um hegemoniale Bedeutungen! Aber selbstverständlich müssen wir uns darüber bewusst sein, dass diese Themen und Begriffe, sobald sie auf der Agenda sind, auch auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können. Nehmen wir noch einmal den Klimawandel als Beispiel: Die einen artikulieren dieses Thema auf eine radikale Art und Weise, welche eine anti-kapitalistische Dimension im Sinne unserer bisherigen Lebensführung mit einschließt. Andere wiederum bedienen sich der Ökologiefrage, um damit den Kapitalismus mit Hilfe neuer Technologien zu reartikulieren. Einerseits also ein anti-kapitalistischer Standpunkt, der eine neue Produktions- und Lebensweise einfordert, andererseits die Reartikulation innerhalb des Kapitalismus, der sich damit weiterentwickeln will.

Welche Parallelen gibt es hier mit dem Begriff der Prekarität, der ja ebenfalls auf die politische Agenda gesetzt wurde? Welche Perspektiven ergeben sich daraus für eine soziale Protestbewegung wie das dem EuroMayDay-Netzwerk?

Ernesto Laclau: Ich denke, eine der ersten Bedingungen wird sein, sich darüber klar zu werden, dass die Lösung nicht alleine in der Selbstorganisation dieser Leute liegt. Sie brauchen zusätzlich eine globale politische Dimension, gerade weil sie in keinem institutionellen Rahmen verankert sind. Nehmen wir als Beispiel eine Gruppe von UnternehmerInnen, die allesamt in einem bestimmten Industriezweig mit sehr partikularen Interessen tätig sind. In diesem Fall kann sich diese Gruppe auf herkömmliche Weise in einer korporativen Form organisieren, um damit Einfluss auf das politische Geschehen auszuüben. Im Fall von Prekarität existiert diese starke institutionelle Anbindung allerdings nicht, weshalb die eigene Identität auf andere Weise erzeugt werden muss. Sie muss von Beginn an politisch sein und zwar in einem globaleren Sinn des Wortes. Chantal Mouffe: Ich würde sagen, dass die Frage der Identität eine Frage der Artikulation von Prekarität ist. Also welche Signifikanten können mit welchen Forderungen verknüpft werden? Die Arbeit von Anthony Giddens und Ulrich Beck zum Beispiel sieht in der Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse ein Mehr an Freiheit für den/die Einzelne/n. Für mich stellt der Post-Operaismus eine Art linke Version dieses Arguments dar: Sie sind dem Phänomen gegenüber zwar durchaus kritisch, wollen diesem aber auf gGrund eines möglichen Potenzials für mehr Freiheit auch nicht völlig entgegenstehen. Nehmen wir zum Beispiel die intermittents du spectacle in Frankreich: Die wollen keinen geregelten Arbeitstag von neun bis fünf, sondern mehr Absicherungen. Sie wollen also einen spezifischen Status, ohne aber gegen die Prekarität im Allgemeinen zu kämpfen. Aber in anderen Fällen von Prekarität sieht die Sache ganz anders aus, für Frauen etwa, die in einem Einkaufszentrum arbeiten. Wir sollten die Frage der Prekarität also nicht zu sehr homogenisieren!

Einverstanden! Aber welche Möglichkeiten ergeben sich nunmehr für die politische Organisation? Worin könnte eine mögliche Zukunft für diese Protestbewegungen liegen?

Ernesto Laclau: Für diese Art von Bewegung liegt die einzige Möglichkeit in der Politisierung ihrer Forderungen und Interessen. Ihre Organisierung beruht auf zwei Ebenen: Einerseits auf der Ebene der Agitation und Mobilisierung ihrer Basis als Graswurzelbewegung. Andererseits müssen sie globale politische Optionen schaffen. Denn sozialer Protest, der nicht über kurz oder lang in konkrete politische Aktionen mündet, löst sich letztlich selbst auf. Das war zum Beispiel der Fall mit der Bewegung von 1968 in Frankreich, die ihre anfängliche Mobilisierung nicht in eine konkrete politische Kraft umwandeln konnte. Die Linke verlor sich regelrecht in den Protestbewegungen ohne wirkliche Kontinuität zu erlangen. Schließlich mussten sie bei den Wahlen einige Monate später einen massiven Verlust hinnehmen, während sich die Gaullisten institutionell restrukturieren konnten. Chantal Mouffe: Und eben darin unterscheidet sich unser Ansatz von jenem der Post-OperaistInnen. Diese beharren nämlich auf der Bedeutung von Autonomie für soziale Bewegungen, die keine Verbindungen mit Parteien oder Gewerkschaften eingehen sollten. Wir glauben dagegen, dass es für diese Bewegungen sehr wichtig ist, sich mit anderen Institutionen zusammenzuschließen, um die hegemoniale Ordnung zu verändern. Anstatt sich also aus den bestehenden Institutionen zurückzuziehen, bedarf es eines Eingriffes in dieselben, um die gegenwärtige Hegemonie anzugreifen. Und dies ist immer mit dem Ziel verbunden, eine neue Hegemonie zu schaffen.

Anmerkung
Mehr Informationen zum Forschungsprojekt „Protest als Medium – Medien des Protests“ unter: Protestmedia

Ernesto Laclau ist emeritierter Professor für Politische Theorie an der Universität Essex.

Chantal Mouffe ist Professorin für Politische Theorie an der Universität Westminster.

Interview und Übersetzung: Clemens Apprich

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