Erase them!

Die Flüchtlinge des Wiener Protestcamps in der Votivkirche formulieren im Anschluss an ihre Forderungen nach Grundversorgung, Freizügigkeit innerhalb Österreichs, Arbeitserlaubnis, Zugang zu Bildung, Abschiebestopp unter anderem ein erstaunliches Zusatzpostulat: „Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllen wollt, dann löscht zumindest unsere Fingerabdrücke aus euren Datenbanken und lasst uns weiterziehen. Wir haben ein Recht auf unsere Zukunft.“

Eurodac und die digitale Deportabilität.

In jüngster Zeit entstehen in zahlreichen Städten Westeuropas immer neue Protestcamps von Flüchtlingen und TransitmigrantInnen. Die Flüchtlinge des Wiener Protestcamps in der Votivkirche formulieren im Anschluss an ihre Forderungen nach Grundversorgung, Freizügigkeit innerhalb Österreichs, Arbeitserlaubnis, Zugang zu Bildung, Abschiebestopp unter anderem ein erstaunliches Zusatzpostulat: „Wenn ihr unsere Forderungen nicht erfüllen wollt, dann löscht zumindest unsere Fingerabdrücke aus euren Datenbanken und lasst uns weiterziehen. Wir haben ein Recht auf unsere Zukunft.“ Das Neuartige dieser Forderung besteht darin, dass sie das – bislang vor allem physisch begriffene – Recht auf Bewegungsfreiheit mit einem Recht auf Datensouveränität verbindet, das heißt, dass sie die Frage der Bewegungsfreiheit letztlich um eine Befreiung aus der digital deportability (der digitalen Abschiebbarkeit/ Deportabilität) erweitert. Mit diesem Begriff meinen wir die Ausweitung der Risiken der migrantischen Mobilität – Geld, Dauer des Unterwegsseins und manchmal auch das Leben selbst – auf den gesamten von der Schengener Grenze eingefassten Raum und darüber hinaus. Digitale Deportabilität ist das Resultat einer Verflüssigung der europäischen Grenze mit der Folge, dass die Möglichkeit, abgeschoben zu werden, im glatten Raum des Datenflusses allgegenwärtig wird. Hier zirkulieren allerdings nicht die MigrantInnen selbst, sondern die „verkörperte Identität der Migration“ als Summe ihrer „data doubles“ (Tsianos/Kuster 2012). In unserem Fall sind dies Fingerabdruck-Algorithmen sowie die „Erstkontaktstelle“ mit dem Schengener Raum – zum Beispiel der Mitgliedsstaat, in dem jemand Asyl beantragt, sowie das Datum der Abnahme der Fingerabdrücke und der Übermittlung der entsprechenden Daten.

Wenn die Wiener Flüchtlinge die Löschung fordern, dann adressieren sie folglich den Unterschied zwischen ihrer Person und dem Datensatz, welche die Europäische Union in der Datenbank Eurodac über diese Person in Umlauf bringt. Die österreichische Öffentlichkeit reagierte auf dieses Postulat mit dem Argument, die Forderung sei vermessen und der Staat nicht in der Lage, ihr nachzukommen, da sie europäisches Recht betreffe. Sicherlich scheint in dieser Begründung eine Evidenz zu liegen – wir finden sie jedoch falsch. Das, was die TransitmigrantInnen mit ihrer Wenn-dann-Formel aktivieren, ist die Markierung einer Grenze der Rechtlosigkeit – und wenn wir ihrem Protest folgen, so bestimmen sie den Ort dieser Rechtlosigkeit innerhalb der österreichischen Staatlichkeit. Es geht also darum, die Forderung nach der Löschung der in Eurodac registrierten Fingerabdrücke als ein Dublin II Moratorium zu verstehen.

Eurodac

Eurodac ist eine Europäische digitale Datenbank, welche Fingerabdrücke aufnimmt und verwaltet, von (a) AsylbewerberInnen (Kategorie 1), (b) Personen, welche die EU-Außengrenze in irregulärer Weise überschreiten (Kategorie 2), und (c) illegal auf dem Territorium der EU aufgegriffen werden und mit Kategorie-1-Daten verglichen, aber nicht gespeichert werden dürfen (Kategorie 3). Um eine Vorstellung von der Größe zu bekommen: Im Jahr 2011 wurden insgesamt 412.303 erfolgreiche Dateneingaben bei der Zentraleinheit von Eurodac verzeichnet. Technisch gesehen handelt es sich bei Eurodac um eine Anwendung, die biometrische Identifikationstechnologie mit computerisierter Datenverarbeitung kombiniert. In diesem Sinne kann Eurodac als Beispiel einer smart border verstanden werden: eine diffuse Grenze, die sich nicht geografisch lokalisieren lässt, sondern auf einer Vielzahl von physischen und virtuellen Schauplätzen der Kontrolle und der Überwachung beruht, die miteinander über ein digitales Datennetzwerk verbunden sind. Rechtsgrundlage für die Inbetriebnahme und die Ausgestaltung von Eurodac bildeten bislang die vom Rat der Europäischen Union im Februar 2002 verabschiedete Eurodac-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 407/2002), die Vorschriften zum administrativen Betrieb und Vollzug enthält, sowie die ebenfalls vom Rat am 11.12.2000 verabschiedete Eurodac-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 2725/2000). Sie umfasste den eigentlichen Rechtsakt, der es ermöglichte, das IT-basierte europäische daktylographische System technisch betriebsfertig zu machen, und hat dessen Operationen direkt an den politischen Rahmen der Dublin II-Verordnung gebunden. (1)

Nachdem die Kommission bereits im Dezember 2008 und im Oktober 2010 Vorschläge für eine Veränderung der Eurodac Rechtsakte präsentiert hatte, wurde sie von ihr am 30. Mai 2012 KOM(2012)254 final angenommen und veröffentlicht. Dieser neue Vorschlag zur revidierten Eurodac Verordnung wurde am 17. Dezember 2012 im Innenausschuss des Europäischen Parlaments (2) mit einer deutlichen Mehrheit gutgeheißen. Allem Anschein nach wird zurzeit in einem Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission die finale Textversion für die neue Verordnung erarbeitet. Der Regierungsmodus, der etwa das Zustandekommen der neuen Eurodac Verordnung verantwortet, kann deutlich nicht als das zielgerichtete, konspirative Machwerk einer durch Verschwörung agierenden Kommission verstanden werden, sondern muss als ein Gefüge transnationaler Netzwerke neuer und alter Akteure gelten, welche das Migrations- und Grenzregime stabilisieren. Die Aktualität der Schengener Krise des Jahres 2011 im Verhältnis zur Dublin II-Regelung, die mittlerweile in eine permanente Legitimationskrise geraten ist, erweist sich zwar gegenwärtig als deutlich von längerer Dauer. Anders als wir erwartet hatten, führte sie aber genau nicht dazu, dass Eurodac neu zur Disposition gestellt würde. Vielmehr zeigt sich in der Revision der Verordnung, dass eine Verstärkung und Verstetigung des Subsidiaritätsprinzips (3) angestrebt wird, während man auf der anderen Seite zugleich die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit betont, indem etwa festgehalten wird, dass die Eurodac-Datenbank zwar bisher für den intendierten Zweck gut geeignet gewesen sei, aber dennoch gewisse Verbesserungen und Anpassungen notwendig geworden seien, damit die Datenbank für die Umsetzung des Dublin-Systems besser genutzt werden könne (KOM(2012)254 final, S. 83).

This is not Europe!

Im Frühjahr 2011 waren wir im Rahmen unserer Feldforschung (4) zum ersten Mal in Igoumenitsa. Es ist das letzte griechische Hafenstädtchen vor der Grenze zu Albanien mit Fährverkehr nach Italien. Während unseres Aufenthaltes dort besuchten wir die informelle Siedlung der fast durchwegs männlichen Transitmigranten, die mittlerweile von der Polizei geschleift worden ist. (5) Sie war am Rande der Stadt, am Abhang direkt über der Zugangsstraße zum Hafen gelegen und wurde von den Bewohnern the mountain genannt. Auf die Mauer an der Hafenstraße haben die 2011 mehrheitlich aus Algerien, Tunesien und Marokko über Istanbul und Griechenland hierher gelangten Migranten in roter Farbe und arabischem Schriftzug das Wort „Marokko“ gesprüht. Eine solche selbstbewusste Markierung des für die Migration verbarrikadierten Prospektes Italien schien uns Echo jenes konfrontativen Zusammenstoßes zu sein, mit dem die Freiheit und die Bewegungen des arabischen Frühlings hier an einer europäischen Grenze abprallten: Diese Migranten gingen am Hafen auf und ab, hin und her, der Mauer entlang und warteten auf den richtigen Moment für den Sprung auf einen Lastwagen etc. Viele der Reisenden aus dem Maghreb, die hier festsaßen, sagten uns: „This is not Europe!“ „C’est la poubelle de l’Europe“ („Das ist der Mülleimer von Europa“). Und dann die Steigerung: „C’est la poubelle de la poubelle de l’Europe.“

Hauptthema aller Gespräche, die wir hier mit Nordafrikanern führten, war: Ich bin zwar hier, aber ich bin weiterhin unterwegs nach Europa. Offensichtlich hatten sie alle eine sehr genaue Vorstellung davon, was Europa sein würde. Sie protestierten gegen die Grenze zwischen Europa und Afrika, indem sie sie übertraten. Aber gerade auch weil diese Migranten die Grenze selbst auf ihrem Körper mit sich trugen (viele von ihnen hatten bereits registrierte Fingerabdrücke), die Grenze also insbesondere auch in Form ihrer eigenen Finger buchstäblich verkörperten, vermochten sie sie nicht vollständig zu überqueren – selbst dann nicht, wenn sie die nächste Station, Milano, Rom oder Genf schafften. Denn sie selbst haben die Grenze dorthin weitergetragen und zugleich weiterhin dagegen verstoßen. Erst auf diese Weise – als Missachtung oder als mit Füßen vollzogener Fehltritt – re-territorialisierten diese TransitmigrantInnen die Grenze. Sie begannen, im profunderen Europa zu operieren und die Grenze tiefer ins Territorium hinein zu drängen – Wien, Amsterdam, Berlin, Lyon, Paris … 2013 haben wir definitiv zu verstehen begonnen, dass die TransitmigrantInnen, die nach Europa unterwegs sind – ähnlich wie eine oder zwei Generationen davor die „GastarbeiterInnen“ –, nichts Geringeres herausfordern als die Grenzen Europas. Gegen das beschränkte Europa realisieren sie ihr Europa, ein Europa der Kommenden, der nach Europa Kommenden, ein kommendes Europa. Analytisch wie politisch, so meinen wir, ist es ein Fehler, MigrantInnen und ihre Praxen komplett abgekoppelt von der Funktionsweise der Informations- und Kontrollsysteme wahrzunehmen, die sich an ihre Mobilität heften. Wir sprechen gegen das Bild eines manichäischen Verhältnisses zwischen Agenten und Wissensformen der Kontrolle und Agenten und Wissensformen der Mobilität an, das zudem Gefahr läuft, zu einer „eskalierenden Dialektik der Kontrolle“ beizutragen, indem es an der Formung derjenigen Symptome mitwirkt, die es eigentlich aufzulösen beabsichtigt – wenn etwa der Fokus auf technische Lösungen der Grenzüberwachung und -kontrolle überbewertet wird und unüberprüft bleibt. Es ist nicht nur von historischem Belang, dass Eurodac als Reaktion auf die Turbulenzen der Migration in Europa bzw. die Bewegungen von MigrantInnen innerhalb des Schengener Raumes entstanden ist.

Auch heute, 2011 in Igoumenitsa und 2013 in Wien gilt: Migration kommt zuerst. Bewegung kommt vor ihrer Kontrolle. Durch die neuen Kontrolltechnologien wird die europäische Grenze zwar ständig externalisiert und deterritorialisiert, aber sie wird auch bedrängt und forciert durch die Bewegungen der MigrantInnen. Das in Erzählungen und Geschichten zirkulierende migrantische Wissen ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die Migration einen selbstreflexiven Teil dessen darstellt, was wir „Informations- und Kontrollkontinuum“ nennen. Dieses umfasst – mit Dennis Broeders (2011: 59) gesprochen – immer zwei Modi der Exklusion: die Exklusion von der Registrierung bzw. Dokumentation und die Exklusion durch Registrierung bzw. Dokumentation. Die Modulation dieser beiden Verfahren der Exklusion bzw. deren flexibles und bewegliches Wechselspiel bildet Konjunkturen der digital deportability heraus. Es bildet aber auch die politische Konjunktur für die Erschaffung neuer Rechte heraus, für das Erfinden von Rechtsprechungen und Ökologien der Gerechtigkeit jenseits der Grenzen der Politiken der Staatsbürgerschaft. Diese stellen eine gouvernementale Form der Regierung von Gemeinschaft dar, die die „immanente Existenzweise des mit Rechten ausgestatteten Menschen“ (Deleuze/Guattari 2000: 125) in der Migration, seine mannigfaltigen Lebensformen in der Mobilität, nur partiell, flexibel, etwa als flexible citizenship oder differentiell als acts of citizenship inkludieren kann, um sie zugleich von der umfassenden Egalität abzutrennen. Inkludiert wird einzeln. Man wird einer-e. In der Konnektivität der transnationalen Migration jedoch migriert auch eine konkrete Herausforderung für unser Verständnis von Staatsbürgerschaft und ihres Inklusionspotenzials. Denn die Person, die die Reise antritt, ist an deren Ende nicht dieselbe. Der von Behausungen eingenommene Raum ist nicht der angestrebte, die Dokumente verweisen nicht darauf, wer man ist oder war, sondern wer man im Verlauf der Reise wird. Man wird Viele. Gehen wird das Gesetz, Kollektiv-Werden wird der Code!

Brigitta Kuster ist als Kulturproduzentin, vor allem als Videomacherin und Autorin tätig und beschäftigte sich bisher mit den Themen Migration und transnationaler Raum, der Repräsentation von Arbeit sowie Geschlecht und sexueller Identität.

Vassilis S. Tsianos lehrt und forscht an der Soziologischen Fakultät Hamburg.

Anmerkung

Eine Langfassung dieses Artikels erscheint im multilingualen Webjournal transversal: transversal.eipcp.net.

Literatur

Broeders, Dennis (2011): „A European ,Border‘ Surveillance System under Construction“. In: Dijstelbloem, Huub/Meijer, Albert (ed.): Migration and the New Technological Borders of Europe, S. 40-67.

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 2000.

Tsianos, Vassilis S./Kuster, Brigitta (2012): „mig@net- Transnational Digital Networks, Migration and Gender. Thematic Report „Border Crossings“, www.mignetproject.eu/?cat=5.

Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hg.) (2011): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, Berlin.

Fußnoten

(1) Eurodac ist seit dem 15. Januar 2003 online und wird heute in 27 EU Mitgliedsstaaten sowie in Island, Norwegen (beide seit 2001), der Schweiz (seit 2008) und in Liechtenstein (seit 2011) angewendet.

(2) Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE).

(3) Das aus der christlichen Soziallehre stammende und mit dem Maastrichter Vertrag 1993 in Kraft getretene Prinzip besagt, dass „in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, die Gemeinschaft nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Weidenfeld/Wessels 2011: 451).

(4) Die Forschung fand im Rahmen des im Europäischen 7. Rahmenforschungsprogramm angesiedelten Projektes Mig@Net. Transnational Digital Networks, Migration and Gender statt. Siehe www.mignetproject.eu

(5) Siehe z.B. den Bericht zur Situation in Igoumenitsa von Ende Mai 2011: www.infomobile.w2eu.net/2011/05/24/igoumenitsa-mountain-jungles-threatened-by-eviction

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