Der Wandel von Souveränität und BürgerInnenschaft in Europa

Um die Besonderheit der EU-Grenzen deutlich werden zu lassen, sprechen WissenschafterInnen von der „Deterritorialisierung“ von Grenzen und der „Delokalisierung von Kontrolle“. Der Begriff der Deterritorialisierung ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass die Außengrenzen Europas nicht festen geographischen Grenzen gleichkommen, sondern sowohl innerhalb als auch außerhalb des Raums der EU verfolgt werden können.

Die „klassische“ Vorstellung einer geopolitischen Grenze ruht auf der strengen Verbindung von Staat und Territorium. Als durchgehend lineare Struktur imaginiert, schließen Grenzen so gesehen ein politisches Territorium ein und markieren die äußeren Umgrenzungen des souveränen Staates. Dieses auf der Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“ beruhende Verständnis der Grenze bestimmte die Definition und Organisation des modernen Nationalstaates in Europa (Mezzadra 2006). Aktuelle Diskussionen haben die Aufmerksamkeit auf die Transformationen gelenkt, durch die der Begriff und die Institution der Grenze eine Neugestaltung erfahren. Die europäischen Integrations- und Erweiterungsprozesse bewirkten maßgebliche Veränderungen der räumlichen Anordnung sowie der Logik der Grenze (Walters 2002). Zwischen den Mitgliedstaaten wurden die Grenzen als Teil des Integrationsprozesses und in Folge des Schengener Abkommens aufgehoben, um den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und BürgerInnen zu ermöglichen. Diese Aufhebung der inneren Grenzen der EU bedeutete eine gleichzeitige Verlagerung der Kontrollen der EU-Außengrenzen nach Osten und Süden. Während dem hohen Grad an Kontrolle und Überwachung an den EU-Außengrenzen große Bedeutung beigemessen wurde, hat die Forschung gleichzeitig die Tatsache unterstrichen, dass die EU-Außengrenzen keine undurchdringliche Barriere darstellen, wie der Ausdruck von der „Festung Europa“ nahe legt, sondern vielmehr durch ihre Variabilität und Mobilität charakterisiert sind (Beck und Grande in Rigo 2007).

Um die Besonderheit der EU-Grenzen deutlich werden zu lassen, sprechen WissenschafterInnen von der „Deterritorialisierung“ von Grenzen und der „Delokalisierung von Kontrolle“ (Bigo and Guild 2003; Rigo 2005). Der Begriff der Deterritorialisierung ist gleichbedeutend mit der Tatsache, dass die Außengrenzen Europas nicht festen geographischen Grenzen gleichkommen, sondern sowohl innerhalb als auch außerhalb des Raums der EU verfolgt werden können. Rücknahmeabkommen mit Drittstaaten, das Schengen-Visa-System und/oder die Diversifizierung der Formen des rechtlichen Status zählen zu den Beispielen für eine Deterritorialisierung der Grenzen. Eine solche Verschiebung der Grenzen schafft neue loci der Kontrolle. Die einst an der Grenze verortete Kontrolle wird nun durch eine solche Vielzahl von Maßnahmen und an so unterschiedlichen Orten ausgeübt, dass von einer „virtuellen Grenze“ (Freudenstein 2001) und von „unbestimmten Zonen“ (Bigo 2003) die Rede ist. Allerdings deuten die Diskussionen über die Deterritorialisierung der EU-Grenzen und die vorher angesprochene Delokalisierung der Kontrolle auf die Unzulänglichkeit eines analytischen Modells hin, das rund um die Dichotomie von innen und außen organisiert ist. Darüber hinaus bringen sie maßgebliche Veränderungen für die territoriale Souveränität mit sich. Das in der klassischen Rechtstheorie auf der Untrennbarkeit von Souveränität und Gesetz ruhende Prinzip territorialer Souveränität wurde durch die Prozesse der Deterritorialisierung und Delokalisierung durchbrochen (Rigo 2007). Dieser Bruch erzeugt eine „Diskontinuität“ innerhalb des rechtlichen Raums der EU und resultiert in dem, was Rigo „geteilte Souveränität“ nennt. Statt alleinige Angelegenheit nationalstaatlicher Kompetenz zu sein, wie es traditionellerweise der Fall war, wird heute die Zuständigkeit über den Eintritt in ein Staatsgebiet und den Aufenthalt zwischen verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen AkteurInnen aufgeteilt. Statt Inhaftierung und Deportation einfach als Mechanismen zu sehen, durch die die Souveränität des Staates neu bestätigt und seine geographischen und symbolischen Grenzen wieder geltend gemacht werden, ist es deshalb meiner Meinung nach ergiebiger, sie als bevorzugte Orte für die Beobachtung der aus dem „Management“ von Migrationsbewegungen entstehenden Veränderungen zu betrachten.

Konstitutive Spannungen

Das „Spektakel militarisierter Grenzsicherung“ (de Genova 2002), das regelmäßig auf offener See oder entlang der italienischen, spanischen und griechischen Küste stattfindet, rückt die Kontrolle der EU-Außengrenzen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine derartige Darstellung fixiert den Ort der EU-Außengrenzen, reduziert seine Bedeutung auf jenen einer Schwelle und bestätigt erneut den Nationalstaat als ihren Hüter. Ebenso wie eine solche Lesart die veränderte Beschaffenheit und Funktionsweisen der EU-Außengrenzen übersieht, stellt sie zu sehr eine Vereinfachung von Migrationsbewegungen dar, da sie diese auf den Raum der Grenze und den Akt ihrer Überschreitung beschränkt. Dadurch werden MigrantInnen als „außerhalb“ von Europa und gegen seine Außengrenzen stoßend beschrieben. Diese Form der Darstellung fördert eine falsche Vorstellung der Migration aus Nordafrika im Sinne einer Hervorhebung der gewaltigen „illegalen“ Wirtschaftsmigration nach Europa. Wie aktuelle Arbeiten zu Migration zeigen, weisen globale Migrationen darüber hinaus eine „turbulente“ Beschaffenheit auf (Papastergiadis 2000), die über die systemische „Push/pull“-Logik des Markts hinausgeht (Mezzadra 2004). Es reicht nicht aus, einerseits Armut und Unterbeschäftigung und andererseits den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften in bestimmten Wirtschaftsbereichen zu betonen, um die Vielzahl von Arrangements, Bewegungen und subjektiven Ansprüchen zu vermitteln, die die Migrationsprojekte von Männern, Frauen und Kindern erfüllen. Wie Federico Rahola in seiner innovativen und theoretisch anregenden Genealogie der „Lagerform“ zeigt, teilen MigrantInnen und AsylwerberInnen einen Zustand der Verlagerung, die gleichgesetzt werden kann mit einer Form von „Ausweg“ aus jenen politischen Kategorien, die das Individuum nur einem einzigen Ort überschreiben.

Ein neuer Interpretationsrahmen

Um die Migrationsbewegungen im mediterranen Raum vollauf zu verstehen, ist es deshalb notwendig, den Bereich der Analyse weg vom Ort der EU-Außengrenzen und in einen breiteren geographischen Raum, der von delokalisierten Kontrollposten markiert wird, zu erweitern. Innerhalb dieses von turbulenten Migrationsbewegungen durchkreuzten Raums schlagen Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos (2008) vor, das Lager „von unten“ neu zu denken. In ihrer Analyse der Migration in der Ägais-Zone durchbrechen die AutorInnen die kontinuierliche Linearität, mit der die Reisen von MigrantInnen meist geschildert werden (z.B. Bewegung von A/Herkunftsort nach B/Zielort) und machen auf Unterbrechungen und Diskontinuitäten wie Warten, sich Verstecken, unerwartete Umwege, sich Niederlassen, Zwischenstopps, Flucht und Rückkehr aufmerksam. Darauf bedacht zu zeigen, dass dies nicht bedeutet, Schengen-Lager seien keine Orte der Gefangenschaft, argumentieren sie, dass die Lager den räumlichen Versuch temporärer Mobilitätskontrolle darstellen. Unter Anwendung von Paul Virilios Arbeit stellen sie eine funktionalistische Perspektive auf die Lager als politische disziplinäre Mittel des Ausschlusses in Frage und verlagern die Analysekriterien der Schengen-Lager von Raum und Immobilisierung hin zu Zeit und Mobilität. Sie schlagen somit vor, Lager als „Geschwindigkeitsboxen“ zu betrachten, die die Zeit der Migration durch eine „Entschleunigung“ der Geschwindigkeit von Migrationsströmen regulieren. Durch die Betrachtung in diesem dynamischen Rahmen der Migration erlangen die Lager eine zeitliche Qualität und werden als vorläufige Stationen entlang vielfältiger migrantischer Routen entworfen.

Die Arbeit von Papadopoulos, Stephenson und Tsianos zu den Schengen-Lagern ist besonders brauchbar für eine Auseinandersetzung mit den Ambiguitäten, die üblicherweise von den ForscherInnen übersehen werden. Wie beispielsweise ein Bericht des italienischen Rechnungshofs zeigt, wurden im Jahr 2004 von fast 12.000 illegalisierten, in italienischen „Detention Centres“ festgehaltenen MigrantInnen weniger als die Hälfte deportiert. Die meisten wurden nach Ablauf der maximalen Haftzeit entlassen und der Rest entkam. Wie der Fall Italiens somit zeigt, stellen Lager weder den Endpunkt eines Migrationsprojekts noch den Ort dar, an dem MigrantInnen einem „rechtsfreien Raum“ ausgeliefert sind (Papastergiadis 2006). Wie Papadopoulos, Stephenson und Tsianos angemerkt haben, fungieren sie vielmehr als „Zwischenstations-Orte“, die eingegliedert sind in breite und vielfältige Migrationsbewegungen: MigrantInnen werden festgehalten, freigelassen, und sie ziehen weiter. Dieser Interpretationsrahmen erlaubt auch eine andere Lesart der Deportationen: Anstelle einer einfachen Disziplinierungspraxis, die auf den illegalen Eintritt auf das Territorium eines Landes folgt, ist es möglich, Deportation im Sinne der Versuche einer Entschleunigung der Migrationsbewegungen in die EU zu lesen. Wie im Falle Griechenlands und der Türkei, um die es in der Arbeit von Papadopoulos, Stephenson und Tsianos geht, gilt auch für Italien und Lybien, dass die Lager in den südlichen Mitglieds- und Nachbarstaaten der EU Migrationsbewegungen nicht verhindern, sondern ihre Geschwindigkeit regulieren, indem ihre Direktionalität „temporär abgelenkt wird“. Inhaftierung und Deportation sind somit Mittel der Regulierung der Mobilität und Zirkulation von MigrantInnen sowohl innerhalb wie auch außerhalb der territorialen Grenze der EU.

Die Neuformulierung der BürgerInnenschaft

Die Regulierung der Zirkulation (von MigrantInnen) ist, wie Rigo argumentiert, ein wesentliches Element, mit dem Europa die Räume, die nicht mehr durch seine Außengrenzen eingeschlossen werden, regiert. Die Organisation dieser Zirkulationsräume ist der entscheidende Grundsatz, der einer „hierarchischen Ordnung von Beziehungen“ in einem erweiterten Europa zu Grunde liegt (Rigo 2005). Dies bezeichnet ein Regime differenzierter Grade von Mobilität zwischen den „Kern“-Staaten der EU, den „neuen“ Mitgliedstaaten und den Nicht-Mitgliedern. Die Differenzierung des rechtlichen Status’, der durch die Deterritorialisierung erreicht wird, ebenso wie die Zunahme innerer Grenzen in den Metropolen, stellt eine Regierungsmethode dar, durch die die EU Mobilität institutionalisiert, damit aktuelle Migrationsbewegungen reguliert und den Zugang zu ihrer BürgerInnenschaft hierarchisch organisiert. Die Durchsetzung differenzierter Formen von Mobilität, einer der wesentlichen Grundsätze, die der Konstitution einer europäischer BürgerInnenschaft zu Grunde liegen, prallt auf die bereits bestehenden, die hierarchisch organisierten Zirkulationsbereiche durchquerenden Migrationsbewegungen. Statt einfach ein Objekt institutioneller rechtliche Rahmenbedingungen zu sein, tritt Migration somit als konstituierende Kraft der europäischen politischen Ordnung insofern in Erscheinung, als sie das Konzept der formalistisch von „oben“ definierten BürgerInnenschaft in Frage stellt und zeigt, dass diese ein Kampffeld ist, das sich durch eine fortwährende Interaktion zwischen migrantischen Praktiken von BürgerInnenschaft und ihrer institutionellen Kodifizierung konstituiert. MigrantInnen als AkteurInnen und Handelnde der Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft statt als ihr konstituierendes „Außen“ zu sehen, stellt eine Herausforderung für die das Feld des Politischen bestimmende Grenze dar und erzeugt eine Störung der Logik einer „alles verschlingenden“ Souveränität (Rahola 2007), die sich selbst und ihre Geschlossenheit festigt, obwohl sie MigrantInnen innerhalb ihrer Grenzen einschließt. Dies ist nicht nur eine Frage der Anerkennung der Handlungsmacht von MigrantInnen, die die Einrichtungen der Mobilitätskontrolle umgehen oder bekämpfen. Worum es geht, ist die theoretische und politische Herausforderung, Migration als konstituierende Kraft in der Herstellung eines europäischen politischen Systems und einer europäischen BürgerInnenschaft anzuerkennen, damit die „Grenzen des Politischen“ (Neilson and Mitropoulos 2007) neu zu ziehen und die modernistischen Dichotomien, die nach wie vor die Definition und das Konzept staatlicher Souveränität sowie politischer Formen der Zugehörigkeit strukturieren, neu zu denken. Diese – oft als der akademischen Welt und weniger den AktivistInnen und PraktikerInnen zugehörig betrachteten – Überlegungen, dürfen m. E. nicht außer Acht gelassen werden, da in dieser veränderten politischen Landschaft der Erfolg effektiver menschenrechts-basierter Politiken oder radikaler politischer Interventionen von der Entwicklung von Rahmenbedingungen und Taktiken abhängen werden, die in der Lage sind, die Transformationen souveräner Macht und BürgerInnenschaft in Europa hinreichend zu fassen.

Literatur

Bigo, D. (2003), „Criminalization of ,Migrants‘: The Side Effect of the Will to Control the Frontiers and the Sovereign Illusion“, Paper presented at Irregular Migration and Human Rights Conference, Centre for European Law and Integration, University of Leicester (June 2003).
Bigo, D. and E. Guild (2003), „Le visa Schengen: expression d’une stratégie de ,police‘ à distance“, Cultures & Conflicts, No. 49-50, 19-33.
De Genova, N. (2002), „Migrant ,Illegality‘ and Deportability in Everyday Life“, Annual Review of Anthropology, No. 31, 419-447.
Freudenstein, R. (2001), „Río Odra, Río Buh: Poland, Germany, and the Borders of Twenty-First-Century“, in P. Andreas and T. Snyder (eds), The Wall Around the West. State Borders and Immigration Controls in North America and Europe, New York: Rowman & Littlefield, 173-184.
Mezzadra, S. (2006), „Citizen and Subject. A Postcolonial Constitution for the European Union?“, Situations: Project of the Radical Imagination, Vol. 1, No 2., 31-42.
Mezzadra, S. (2004), „The Right to Escape“, Ephemera, Vol. 4. No. 3. 296-275.
Neilson, B. & A. Mitropoulos (2007), „Exceptional Times and Non-Governmental Spacings, and Impolitical Movements“, in M. Feher (ed). Nongovernmental Politics. Zone Books: New York, 469-481.
Papadopoulos, D., Stephenson, N., & Tsianos, V. (2008). Imperceptible politics. Social conflict and radical activism in the fields of life, migration, and precarious labour. London: Pluto Press.
Papastergiadis, N. (2006), „The Invasion Complex: the Abject Other and Spaces of Violence“, Geografiska Annaler: Series B, Human Geography, Vol. 88, No. 4, 429-442.
Papastergiadis, N. (2000), Turbulence of migration: Globalization, Deterritorialization and Hybridity. Polity Press: Cambridge.
Rahola, F. (2007), „La forma campo. Per una genealogia dei luoghi di transito e di internamento del presente“, Conflitti Globali, No. 4, 11-27.
Rigo, E. (2007), Europa di confine. Trasformazione della cittadinanza nell’Europa allargata. Meltemi, Roma.
Rigo, E. (2005), „Citizenship at Europe’s Borders: Some Reflections on the Post-colonial Condition of Europe in the Context of EU Enlargement“, Citizenship Studies, Vol. 9/ 1, 3-22.
Walters, W. (2002), „Mapping Schengenland: Denaturalizing the Border“, Environment and Planning D: Society and Space, Vol. 20, 561-580.

Anmerkung

Die in diesem Text entwickelten Ideen stammen nicht nur von mir allein. Meine Arbeit basiert auf den gemeinsamen Bemühungen der AktivistInnen und WissenschafterInnen des Frassanito-Netzwerks, eine radikale politische Analyse zeitgenössischer Migrationen in Europa zu entwickeln.

Rutvica Andrijašević unterrichtet an der Open University in Milton Keynes und ist Co-Gründungsmitglied des europäischen feministischen Netzwerks NextGENDERation. 2010 erscheint von ihr „Sex Trafficking: Migration, Agency and Citizenship“.

Eine Langversion dieses Texts erscheint demnächst in englischer Sprache unter dem Titel „From Exception to Excess“ in: Nicholas de Genova and Nathalie Peutz (eds), The Deportation Regime: Sovereignty, Space, and the Freedom of Movement. Duke University Press.

Übersetzung: Therese Kaufmann

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