Art Workers Unite!

Angesichts dieser Problematiken agiert die Bewegung der Kunst- und Kulturarbeiter_innen derzeit als informelles Netzwerk und als advocacy-Gruppe, die versucht, verschiedene institutionelle Akteur_innen davon zu überzeugen, aktiv zu werden.

Im Januar 2010 fand in der Kunsthalle von Tallinn unter dem Titel Blue-Collar Blues eine von Anders Härm kuratierte Ausstellung statt, die v. a. geprägt war von der Reaktion gegen das neue Arbeitsrecht in Estland, das mit dem Ziel einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts in Kraft getreten war. Die Ausstellung war von intensiven Debatten begleitet, doch fand diese Kontroverse hauptsächlich in den informellen Zirkeln des Kunstfelds statt und konzentrierte sich vorwiegend auf die Tatsache, dass die teilnehmenden, lokalen Künstler_innen nicht bezahlt worden waren für die Produktion ihrer Arbeiten über prekäre Arbeit, die in der Ausstellung gezeigt wurden. Dieser offensichtliche Widerspruch wurde zum Auslöser für eine breitere Bewegung von art workers, die sich nach einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen von Blue-Collar Blues zu formieren begann.

Ein Jahr später befindet sich die Bewegung nach wie vor in ihrer Gründungsphase, während sie gleichzeitig mit der ständigen Gefahr der Auflösung konfrontiert ist. Sie funktioniert derzeit als informelles Netzwerk von ungefähr 80 Kunstschaffenden, die über eine Mailingliste verbunden sind. Der aktive Kern der Gruppe besteht aus ungefähr fünf bis zehn Mitgliedern. Rückblickend zusammengefasst haben sich die Aktivitäten der advocacy-Gruppe mit folgenden drei Bereichen befasst: mit einer Untersuchung der materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion, mit der Diskussion über mögliche Modelle der Selbstorganisation und mit einer breiteren Diskussion der genannten Themen mit Kunstinstitutionen, Vertreter_innen der Kulturpolitik und Mainstreammedien. Die ökonomischen Bedingungen des Kunstsektors in Estland unterscheiden sich nicht wesentlich von denen in anderen europäischen Ländern. Die Kunstförderung ist im Vergleich zu anderen Feldern kultureller Produktion um ein Beträchtliches geringer, künstlerische Produktion ist in großem Ausmaß abhängig von unbezahlter Arbeit, und freie Künstler_innen verfügen über keine soziale Absicherung wie eine Krankheitsversicherung.

Die materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion in Estland

Doch die Herausforderung, auf Kunstinstitutionen und Kulturadministration Druck auszuüben, ist wahrscheinlich größer als in anderen Ländern, da es nur wenige Institutionen gibt, die regelmäßig Arbeiten bei Künstler_innen und freien Kurator_innen in Auftrag geben. Der Großteil der Ausstellungstätigkeit findet ehrenamtlich statt, indem sich die Künstler_innen selbst um Galerieräume kümmern und um Finanzierung ansuchen. Die Verpflichtung, für diese Räume die Miete zu zahlen, unbezahlt zu arbeiten und eigene Mittel in das Ausstellungsprojekt zu investieren, wird oft als unvermeidlich betrachtet. Es scheint dazu kaum Alternativen zu geben – außer gänzlich damit aufzuhören, als Künstler_in auch auszustellen. Keine der bestehenden Kunstinstitutionen verfügt über ein Budget, das Künstler_innenhonorare als fixen Bestandteil inkludiert. Diese müssen für jedes Ausstellungsprojekt separat aufgetrieben werden. Laut dem Vorstand der Estnischen Kulturstiftung als wichtigster Einrichtung für die Verteilung von Projektgeldern wird weder von den Institutionen noch von den Künstler_innen immer um Honorare angesucht. Doch dies bedeutet nicht, dass ein solches Ansuchen erfolgreich wäre – die Logik der Verteilung öffentlicher Mittel fördert lieber cultural diversity als angemessene Arbeitsbedingungen. Es werden an möglichst viele Projekte geringe Förderungen verteilt, aber an keines von ihnen in ausreichendem Maß.

Die im Rahmen einer Ausstellung anfallende Arbeit wird demzufolge immer abhängig vom jeweiligen Einzelfall und vom Erfolg der Budget-Akquirierung bezahlt. Über die materiellen Bedingungen einer einzelnen Ausstellung wird kaum jemals gesprochen, und so gut wie nie werden sie zum Thema außerhalb der eigenen Szene. Es ist deshalb normal, dass sogar die Angehörigen des Kunstfelds selbst wenig über die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen des Kunstfelds wissen und dass sie die mangelnde Bezahlung meist als individuelles Versagen wahrnehmen, was zur Aufrechterhaltung des kollektiven Phantoms, dass andere Kolleg_innen für ihre Arbeit bezahlt würden, beiträgt.

Die Forderungen der art workers

Die Forderungen der im Januar 2010 gegründeten informellen Gruppe von art workers konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Praxis des Ausstellens. Und zwar nicht nur, weil diese die offensichtlichste Form eines Arbeitsverhältnisses innerhalb des Kunstfelds darstellt, sondern auch, weil die Arbeit, die im Kontext einer Ausstellung geleistet wird, vergleichsweise leicht quantifizierbar ist. Die Forderungen sind im Grunde sehr einfach: Es geht um die Anerkennung künstlerischer Arbeit als Arbeit und um faire Bezahlung für diese Arbeit. Ein benachbartes Problem besteht in der Frage der sozialen Absicherung, die nicht nur mit unbezahlter Arbeit und Niedriglohn zusammenhängt, sondern auch mit den im Kunstfeld üblichen schriftlichen Verträgen, die keinerlei Sozialversicherungsbeiträge vorsehen.

Doch als wir diese Forderungen gegenüber einer Reihe verschiedener Akteur_innen des Kunstfelds zum Thema machten, kam es zu einer Art Kurzschluss innerhalb des Systems: Die Künstler_innen richteten ihre Forderungen an die Kurator_innen und Kunstinstitutionen. Diese redeten sich darauf aus, dass die Ausstellungsbudgets von den Förderstrukturen abhängen. Die Fördereinrichtungen wiederum erwarten vom Kulturministerium, sich für eine Budgeterhöhung im Bereich der Kunst einzusetzen. Und das Ministerium schiebt zu guter Letzt die Schuld der neoliberalen Regierung zu, die sich auf Steuersenkungen und eine Ausdünnung des Staates konzentriert. Alle Hände sind angeblich gebunden, und niemand kann Verantwortung übernehmen. Wie aber soll eine Kunst- oder Kulturinitiative in einer solchen Situation aktiv werden?

Modelle gewerkschaftlicher (Selbst-)Organisation

Die offizielle Interessenvertretung der Kunst- und Kulturschaffenden ist die Estische Künstler_innenvereinigung EAA, ein Zusammenschluss verschiedener Berufsvereinigungen von Künstler_innen und Kunstwissenschafter_innen. Nach ihrer Gründung 1943 fungierte sie zunächst als Gewerkschaft und stellte für ihre Mitglieder Gesundheitsversorgung, Ateliers, Wohnungen, Urlaubsgutscheine und Pensionen zur Verfügung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion agierte sie eher hilflos hinsichtlich der Neudefinition ihrer Position als Organisation, die die ökonomischen und sozialen Rechte ihrer Mitglieder zu vertreten hatte.

Die Diskussionen über mögliche Modelle der Selbstorganisation innerhalb des Kunstfelds kreisten zu einem großen Teil um die Idee, das existierende Modell der Künstler_innenvereinigung in eine Gewerkschaft unmzuwandeln – entweder durch eine Unterwanderung der EAA und ihre Veränderung von innen oder durch die Gründung einer neuen Vereinigung. Doch die Gründung einer Gewerkschaft für art workers zeigt sich als schwierige Aufgabe, da das traditionell gewerkschaftliche Modell von fixen Arbeitgeber_innen ausgeht, während das Kunstfeld von Freiberufler_innen beherrscht ist, deren temporäre und unregelmäßige Arbeitsverhältnisse in unterschiedlichen Institutionen sich ständig verändern. Es gibt in Estland derzeit nur ein einziges gutes Beispiel für die gewerkschaftliche Organisation einer während der Sowjetunion gegründeten Künstler_innenvereinigung: die Vereinigung der Schauspieler_innen, der es gelungen ist, Kollektivverträge, Mindestlöhne etc. auszuhandeln. Doch anders als in der bildenden Kunst ist der Großteil der Schauspieler_innen bei staatlich finanzierten Theatern beschäftigt, die natürlich den Verhandlungsprozess unterstützen.

Zwischen Lobbyismus und Bewegung

Angesichts dieser Problematiken agiert die Bewegung der Kunst- und Kulturarbeiter_innen derzeit als informelles Netzwerk und als advocacy-Gruppe, die versucht, verschiedene institutionelle Akteur_innen davon zu überzeugen, aktiv zu werden. Dieser Prozess umfasst auch Versuche, auf die Ebene der kulturpolitischen Entscheidungsträger_innen vorzudringen, indem innerhalb der bestehenden Kulturorganisationen Arbeitsgruppen gebildet werden, die Veranstaltungen mit Vertreter_innen der Kulturadministration und Politiker_innen organisieren und auch gelegentlich Petitionen einreichen.

Doch über diese sehr reformistischen Ansätze des Lobbyings und der Verhandlung hinaus gibt es auch Versuche, eine selbstorganisierte Bewegung zu konstituieren, die sich mit anderen sozialen Gruppen solidarisiert, die prekären Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind. Ein erster Schritt in diesem Prozess war die Aneignung des Begriffs der art workers – ein Neologismus im Estischen Kontext, der in gewisser Weise auch eine Differenzierung zwischen zwei Szenarien hinsichtlich der Zukunft der Initiative markiert: Das „pragmatische“ Szenario würde bedeuten, nach einem minimalen Konsens innerhalb des breiten Spektrums von Kunstschaffenden zu suchen, um das bestehende Fördersystem zu reformieren und Forderungen für eine Erhöhung der Fördermittel zu formulieren. In diesem Fall scheint die bevorzugte Selbstdefinition jene der „professionellen Künstler_in“, „Kurator_in“ etc. zu sein, um die spezifischen Probleme innerhalb des Kunstsektors hervorzuheben. Auf der anderen Seite gibt es einen „radikaleren“ Flügel, der den Kampf der art workers lieber aus einer allgemeinen Perspektive prekärer Arbeit diskutieren will.

Ein Bruch zwischen diesen beiden Positionen zeigte sich kürzlich in der Diskussion über eine geplante Protestaktion, die die Forderungen der art workers in Verbindung mit pazifistischen Statements während einer Militärparade thematisieren sollte. Die Intervention wurde schlussendlich aufgrund höherer Gewalt abgesagt, doch die im Vorfeld entstandene Kontroverse verweist auf eine der größten Problematiken, mit der sich die sich gerade erst formierende Bewegung auseinandersetzen muss: nämlich, ob sie sich auf das Kunstfeld beschränken und dabei versuchen soll, auch die konservativsten Kunstschaffenden innerhalb des Feldes auf ihre Seite zu bringen, oder ob sie weiterhin als kleine Gruppe von art workers mit linken politischen Anliegen agieren soll, deren Stimme jedoch innerhalb des kulturpolitischen Prozesses eher marginal bleiben wird.

 

Airi Triisberg

ist Kunstkritikerin und Kulturproduzentin. Sie befasst sich u. a. mit den Schnittstellen zwischen zeitgenössischen Kunstpraxen und politischem Aktivismus und lebt in Tallinn.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Therese Kaufmann

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