Re-constructing the Social. Die Transformation der sozialen Sicherungssysteme in der Türkei

Bei den türkischen Parlamentswahlen im Juli 2007 gewann die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) über 46 Prozent der Stimmen. Dieser überwältigende Erfolg war für GegnerInnen und AnhängerInnen der AKP gleichermaßen eine Überraschung.

Bei den türkischen Parlamentswahlen im Juli 2007 gewann die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) über 46 Prozent der Stimmen. Dieser überwältigende Erfolg war für GegnerInnen und AnhängerInnen der AKP gleichermaßen eine Überraschung. So glaubten linke OpponentInnen beispielsweise, dass die neoliberalen Politiken und Reformen der letzten Jahre eine generelle Unzufriedenheit unter der organisierten ArbeiterInnenschaft, unter den Bauern und Bäuerinnen sowie unter den Armen bedingen würde, die automatisch zu einem Stimmenverlust der AKP führen müsse.

Auch wenn die Gründe des Wahlerfolgs der AKP komplizierter sind, ist die Erfolgsgeschichte des Neoliberalismus gleichbedeutend mit der Geschichte der erfolgreichen Transformation des sozialen Felds in der Türkei wie auch in anderen so genannten „3. Welt“-Ländern. In diesem Sinn spielte die Transformation der Sozialpolitik eine Schlüsselrolle im Rahmen des neoliberalen Umbaus: Sie zählt zu den wichtigsten Aspekten bei der Neuerfindung des Sozialen ebenso wie bei der an neoliberalen Idealen orientierten Restrukturierung der Gesellschaft. Neben der fortschreitenden Ausdehnung des informellen Sektors und der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (welche den Boden für eine Institutionalisierung des SubunternehmerInnentums und der Teilzeitarbeit bereitet, ebenso wie sie die Aushöhlung von Tarifverträgen befördert), hat die Transformation der Sozialpolitik in diesen Ländern die Beseitigung der umverteilenden Rolle des Staates bedingt und ein neues Regime des Kalkulierens hervorgebracht, in dem jedes Individuum als selbstverantwortlich für die Berechnung seiner/ihrer zukünftigen Risiken gilt und die notwendigen Maßnahmen dagegen selbst zu ergreifen hat (vgl. Dean 1999). Deshalb versuchen sozialpolitische Reformen neben einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat/Markt und Staat/Gesellschaft auch eine neue Form der Subjektivität zu etablieren. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme der Türkei sollten als Teil dieses Prozesses gesehen werden.

Der Türkische Sozialstaat: Minimal und indirekt

Im Hinblick auf Beurteilungskriterien wie dem Niveau der Sicherungsleistungen, dem durch sie erfassten Personenkreis sowie den Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistungen ist das bestehende Wohlfahrtssystem der Türkei als „minimal und indirekt“ (Arın 2003: 72) zu bezeichnen. Darüber hinaus handelt es sich um ein informelles Sicherungsregime, in dem informelle Netzwerke eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung und Umverteilung von (Fürsorge-)Leistungen spielen. Neben dem Staat leisteten auch andere institutionelle Mechanismen einen wichtigen Beitrag zum Wohlergehen von Individuen, Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften (vgl. Gough 2004). Vor seiner Reform bestand dieses Wohlfahrtsregime aus einem Sozialversicherungs- und einem Sozialfürsorgesystem zur Milderung der Armut, letzteres bestehend aus einem Fonds, einer Stiftung und dem Green Card-System, dessen Ziel in einer Versorgung der Armen mit Gesundheitsdiensten besteht. Als bezugsberechtigt gelten allerdings nur Personen, die über keinen Sozialversicherungsschutz verfügen und deren Einkommen ein Drittel des Mindestlohns (derzeit umgerechnet 234.- Euro) nicht übersteigt. 1999 verfügten 8,6 Millionen Menschen über eine Green Card. Die Zuerkennung von Leistungen aus dem Fonds hingegen hängt von der Einschätzung eines lokalen Komitees ab, das die Anträge von Seiten der Armen beurteilt. Die Entscheidung darüber, wer bedürftig ist und folglich von den Ressourcen des Fonds profitieren kann, obliegt mithin besagten Komitees der lokalen Verwaltungen. Es wurde deshalb argumentiert, dass dieses Fürsorgesystem, das so organisiert ist, dass Vetternwirtschaft die entscheidende Rolle spielen kann, die Armen mehr und mehr von persönlichen politischen Beziehungen abhängig macht (vgl. Şenses 1999).

Ein neues Programm gegen die Armut und die Reform der Sozialversicherungssysteme

Kürzlich hat die Türkei ein neues Programm zur Linderung der Armut implementiert (Programm zur Abschwächung sozialer Risiken), das zwischen September 2001 und Dezember 2005 von der Weltbank (WB) unterstützt wurde. Durch dieses Programm wurden bestimmte institutionelle Politiken und Programme realisiert, wie etwa Beschäftigungseinrichtungen für Arme, ein Sozialversicherungssystem zur Lösung des Gesundheits- und Erziehungsproblems von armen Familien mit Kindern oder auch Mikrokredit-Projekte.

Die AKP hat ihre Wahlstrategie durch den gezielten Einsatz solcher Instrumente auch auf einen Stimmengewinn in der Armutsbevölkerung aufgebaut. Dabei versucht sie, ein neoliberales Programm (stabilitätsorientierte Geldpolitik, Privatisierung, Reformen u.a. im Bereich der Gesundheit, des öffentlichen Dienstes und der Sozialversicherungssysteme) mit einem populistischen Diskurs zu verbinden, welcher sich um die Mobilisierung von Unterstützung seitens der Armen bemüht. Aus diesem Grund werden Politiken zugunsten der Armen wohl auch weiterhin ihre Bedeutung in der türkischen Politik wahren.

Zusätzlich zu diesen Entwicklungen hat die Türkei ein umfassendes Strukturanpassungsprogramm implementiert, in dessen Rahmen die Reform der Sozialversicherungssysteme das wichtigste Element darstellte. Dabei wurde das Sozialversicherungssystem in Übereinstimmung mit den Kriterien der WB, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU restrukturiert. Einige parametrische Modifikationen wie etwa die Etablierung eines privaten Pensionssystems, die Privatisierung der Gesundheitssysteme und die Einführung von Selbstbehalten wurden bereits von früheren Regierungen umgesetzt. Hinsichtlich der Transformation der Sozialversicherungssysteme besteht eine Übereinkunft zwischen internen und externen AkteurInnen. Bekanntlich sind WB und IWF die Schlüsselinstitutionen im Prozess der Transformation und Privatisierung der Sozialversicherungssysteme in der so genannten „3. Welt“. Die Reform dieser Systeme zählt dabei zu den Bedingungen für die neue Kreditvergabe seitens des IWF an die Türkei und der Beschluss des relevanten Gesetzes durch das Parlament war 2005 Teil der strukturellen Kriterien. Wobei erwähnt werden sollte, dass die Reform auch von UnternehmerInnenseite maßgeblich unterstützt wurde, allen voran von TÜSÍAD, der Organisation der wichtigsten Unternehmensgruppen in der Türkei. Trotz dem Widerstand der Gewerkschaften, vor allem dem Verband der Gewerkschaften der öffentlich Bediensteten (KESK), dem größten linken Gewerkschaftsdachverband in der Türkei, passierte die Reform das Parlament. Allerdings wurden die Artikel über Beschäftigte im öffentlichen Dienst durch den Verfassungsgerichtshof für ungültig erklärt und die Implementierung auf den 1. Januar 2008 verschoben.

Das neue Sozialversicherungssystem

Vor seiner Reform war das türkische Sozialversicherungssystem überaus kompliziert und aus unterschiedlichen Institutionen zusammengesetzt, welche Staatsangestellte, LohnarbeiterInnen, Selbständige, LandarbeiterInnen und freiwillig Versicherte erfassten: Sosyal Sigortalar Kurumu kümmerte sich um die ArbeiterInnen und freiwillig Versicherten, Emekli Sandığgı um die Staatsangestellten und Bağ-Kur um die Selbständigen. Nach der Reform wurden alle in einer einzigen Institution zusammengefasst.

Im Papier „Sozialversicherungsreform: Probleme und Lösungsvorschläge“, welches als „Weißbuch“ bezeichnet wird, referierte das Ministerium für Arbeit und Soziale Sicherheit zur Legitimation der Reform „auf die Alterung der Bevölkerung, die Unzulänglichkeit des bestehenden Systems im Hinblick auf die Erfassung und den Schutz der Bevölkerung, folglich auf seine Unzulänglichkeit beim Schutz der Bevölkerung vor Armut, und schließlich auf die finanziellen Defizite des Systems.“ Es wird behauptet, dass das bestehende System ineffizient sei, und dass das Ziel der Reform in einer Reduktion des von ihm bedingten Defizits auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei gleichzeitiger Vereinheitlichung des Systems bestehe. Man kann sagen, dass die Reform bei der Vereinheitlichung von Normen im Sozialversicherungssystem erfolgreich verfahren ist. Indes wurde diese Vereinheitlichung um den Preis der Beseitigung von Rechten der Versicherten erreicht. Wenn die Regulation der drei alten Systeme im Hinblick auf das Pensionsantrittsalter, auf die erforderlichen Beitragsjahre, auf die Pensionssätze usw. standardisiert wird, wird der kleinste gemeinsame Nenner unter ihnen (also die für die Versicherten nachteiligste Form der Regulation) als Norm zur Standardisierung des Systems herangezogen (vgl. Erdoğdu 2006).

Die Reform der Pensionssysteme wird dabei den Weg freimachen für die strukturelle Transformation aller Sozialversicherungssysteme in der Türkei. Deshalb wird die vorhergehende, nicht-strukturelle Reform des Systems, welche darauf zielte, „das Sozialversicherungssystem durch eine Stärkung seiner finanziellen Basis oder/und durch eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen“ zu verbessern, durch eine umfassende, strukturelle Reform ergänzt, welche „ein öffentliches System radikal transformiert, indem es dieses durch ein ,privates‘ System ersetzt, ergänzt oder eine Alternative zu ihm schafft“ (Mesa-Lago 2002: 1310). Diese Transformation kann in der Struktur des neuen Pensionssystems gesehen werden. Die neuen Sozialversicherungssysteme werden aus drei Komponenten zusammengesetzt sein, nämlich: 1) Die Weiterführung des öffentlichen Systems ohne einen Fonds, das Mindestpensionen garantiert und auf festgelegten Auszahlungen basiert. 2) Die Entwicklung eines privat verwalteten Pensionssystems mit einem Fonds, das auf festgelegten Einzahlungen basiert und Leistungen entsprechend der geleisteten Beiträge sichert. 3) Die Etablierung eines privaten Pensionssystems, das ebenfalls auf individuell festgelegten Einzahlungen basiert (vgl. Erdoğdu 2006: 222). Das türkische Sozialversicherungssystem wird also ein gemischtes System sein, das sowohl öffentliche wie auch private Institutionen umfasst und in ähnlicher Form auch in Argentinien, Uruguay and Mexiko implementiert wurde.

Auch wenn die BefürworterInnen der strukturellen Pensionsreformen auf die finanziellen Defizite des Systems Bezug nehmen, ist die Realität eine völlig andere. Das Problem der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme ist eine Folge des niedrigen Niveaus staatlicher Beiträge, der niedrigen Erwerbsquote, des ausgedehnten informellen Sektors und des Transfers vorhandener Ressourcen in andere Aktivitäten (vgl. Erdoğdu 2006). Darüber hinaus erfasst das neue Sozialversicherungssystem weder Arbeiterinnen im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich noch landlose Bauern und Bäuerinnen, weder TaglöhnerInnen noch kleingewerbliche HandwerkerInnen. So konnte beispielsweise unter dem alten System die Tochter eines/r Versicherten auch dann noch die Versicherungsleistungen des Vaters bzw. der Mutter in Anspruch nehmen, wenn der/die Versicherte bereits verstorben und sie selbst weder verheiratet noch geschieden war. Die Reform hat diese Praxis abgeschafft und die monatliche Versicherungsleistung auf 25% der Bezüge des/der Versicherten reduziert. Das ist nur ein Beispiel für die negativen Folgen der Reform für Frauen. Wichtiger noch ist der Umstand, dass die Reform auch einen paradigmatischen Wandel in der sozialpolitischen Geisteshaltung markiert, weg von einer BürgerInnen- und Sicherheits-, hin zu einer KundInnen- und Schutz-basierten (vgl. Özuğurlu 2003). Wenn wir die Realität berücksichtigen, dass die Türkei über kein systematisches Programm zur Verhinderung oder Linderung der Armut verfügt, kann konstatiert werden, dass diese „reale Subsumtion“ der sozialen Sicherungssysteme auf lange Sicht zu einem Anwachsen von Armut und zu einer Stärkung des informellen Sektors führen wird. Diese „Entstaatlichung des Staates“ wird, wie zu betonen ist, wohl auch eine Herausbildung neuer Formen der Unsicherheit in der türkischen Gesellschaft zur Folge haben.

Literatur

Arin, T. (2004): "Refah Devleti, Sosyal Güvenligin Yoksullugu". In: S. Savran, N.C. Balkan. (eds.): Neo-liberalizmin Tahribati, Türkiye´de Ekonomi, Toplum ve Cinsiyet. Istanbul (Metis)

Edogdu, S. (2006): "Sosyal Politikada Degisim ve Sosyal Güvenlik Reformu". In: Mülkiye, Güz/2006, Cilt 30

Dean, M. (2001): Govermentality: Power and Rule in Modern Society, London (Sage Publications)

Gough, I. (2004): "Social policy regimes in the developing world." In: P. Kennett (eds.): A handbook of Comparative Social Policy. Northhampton (Edward Elgar Publishing Limited)

Mesa-Lago, C. (2001): "Myth and reality of Pension Reform: The Latin American Evidence". In: WORLD DEVELOPMENT, Vol. 30, No:8, S.1309-1321.

Özugurlu, M. (2003): "Sosyal Politikanın Dönüsümü ya da sıfatın Suretten Kopusu". In: Mülkiye, 239.

Senses, F. (1999): "Yoksullukla Mücadele ve Sosyal Yardımlasma ve Dayanımayı Tesvik Fonu". In: ODTÜ Gelisme Dergisi, Vol. 26, No. 3-4. (1999), S. 427- 451.

Zafer Yilmaz ist Forschungsassistent und Doktorant am Institut für Politikwissenschaft und Öffentliche Verwaltung an der Universität Ankara und schreibt seine Dissertation über politische Maßnahmen der Armutsbekämpfung in der Türkei. Seine Forschungsschwerpunkte sind Armutsforschung, Sozialpolitik und politische Theorie.

Übersetzung aus dem Englischen: Markus Griesser. 

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